Frank Hoffmann (Hrsg.): "Weihnachten in Wien"


Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Weihnachten in erster Linie ein kirchliches Fest, dessen Höhepunkt die Christmette war, der das sogenannte Sabbathindl (Familienfeier) vorausgegangen ist. Hingabe an das Weihnachtsevangelium vermittelte dem Einzelnen ein religiöses Erlebnis, das als Höhepunkt der Weihnachtsfeierlichkeiten angesehen wurde. Gefeiert wurde in der Gemeinschaft aller Gläubigen; Weihnachten war kein Familienfest und noch weniger ein Fest der Kinder. Der Wandel vom religiösen Kirchenfest zum profanen Familienfest (Doris Foitzik) verlief in Gleichzeitigkeit mit dem schnellen Aufstieg des Bürgertums. Durch die zunehmende Industrialisierung erlebten spezifische Berufsgruppen, wie jene der Lehrer und Beamten, enorme Wachstumsschübe. Damit einher gingen prägende veränderte weihnachtliche Verhaltensmuster (Ingeborg Weber-Kellermann). Das Symbol für diese eklatante Veränderung des Weihnachtsrituals ist seitdem der Christbaum. Er ist das Zentrum weihnachtlicher "Stimmung". Rund um ihn werden Geschenke ausgebreitet, und das Vorlesen des (in den meisten Fällen) Lukas-(Weihnachts-)evangeliums vor dem Christbaum gehört zu einer weihnachtlichen Sitte, die sich in manch christlichen Familien etabliert haben mag.

Friedrich Schleiermacher brachte im Jahre 1806 eine theologisch-philosophische Schrift heraus, die unter dem Titel Die Weihnachtsfeier erschien. Er wies etwa darauf hin, dass ein Fest wie Weihnachten nicht mehr auf Dogmen und fragwürdigen historischen Fakten zur Geschichte Jesu basieren sollte, sondern der wesentliche Charakter im gefühlsbetonten, gegenwärtigen Erlebnis Gottes gesucht werden mag. Dies ist insofern erstaunlich, da Schleiermacher hiermit ein kleines Büchlein herausbrachte, das dem progressiven Christentum Vorschub leistete. Umso bedauerlicher ist es, dass sich das progressive Christentum weder in Österreich noch in Europa auch nur ansatzweise durchsetzen konnte. Das gegenwärtige Erlebnis Gottes sei nicht in der Kirche zu finden, sondern in der Familie, im Kreise von Frau und Kindern; ja in fröhlicher Geselligkeit. Weihnachtliche Frömmigkeit und bürgerliche Häuslichkeit (Dieter Schellong) verschränkten sich zu jener einzementierten Allianz, welche bis heute das Verständnis von Weihnachten bestimmt.

Bis in die Biedermeierzeit war es üblich gewesen, ein "Nikolobäumchen" als vorweihnachtliches Symbol in die heimische Stube zu stellen. Es existierte also sozusagen eine "Altverbreitung des Christbaums in Ostösterreich". Dies mag es nunmehr den Wienern leicht gemacht haben, den Christbaum als weihnachtliches Symbol rasch anzuerkennen.

Die Geschenke, welche sich anfangs (datiert in etwa um das Jahr 1814 herum) nur in den noblen Familien unter dem Christbaum türmten, wurden im Allgemeinen vom "Christkind" gebracht. Schließlich werden Kerzen angezündet und die Kinder zur "Bescherung" gerufen. Eine Sitte, die sich freilich bis in die heutige Zeit bewahrt hat.

Der Christbaum wurde in Wien nicht "eingeführt", sondern vielmehr aktiv angenommen. Eine Schlüsselrolle spielte hierbei höchstwahrscheinlich die junge Frau Erzherzog Carls, Henriette von Nassau-Weillburg (1797-1829). Sie galt als "schöne Protestantin" und setzte in hartnäckigen Auseinandersetzungen durch, dass sie auch nach der Hochzeit ihrem Glaubensbekenntnis treu bleiben konnte. Nachdem ihr dieser Sieg über die strenge habsburgische Familienraison gelungen war, ging sie noch einen Schritt weiter und gestaltete das Weihnachtsfest des Jahres 1816 im erzherzoglichen Palais auf der Seilerstätte 30 nach jenen maßgeblichen Kriterien, die ihr aus ihrer Heimat schon bekannt waren: Also u.a. mit einem festlich geschmückten Christbaum. Sie soll laut Überlieferung diese Überraschung in aller Heimlichkeit vorbereitet haben. Im Endeffekt wurde die "Christbaum-Premiere" ein großer Erfolg. Schwager Kaiser Franz I. und seine Familie, welche traditionell am Heiligen Abend als Gäste geladen waren, zeigten sich vom strahlenden Lichterbaum tief beeindruckt, und der Monarch soll sogar die Anweisung gegeben haben, auch in der Hofburg einen Christbaum aufzustellen. Kritische Geister gab es freilich auch in der kaiserlichen Familie. Erzherzog Johann konnte diese "Revolution" des Weihnachtsfestes, die noch dazu von einer Protestantin initiiert worden war, nicht gutheißen. Er sah den allmählichen Verlust religiöser Inhalte seherisch voraus und erkannte die Gefahr eines Abrutschens in eklatante Geschenkorgien.

Einige Jahrzehnte lang konnten sich nur Bürger der höheren Schichten einen Christbaum samt Geschenkanteilen leisten. Wobei sich etwa Franz Grillparzer ähnlich enttäuscht zeigte wie weiland Erzherzog Johann, als er zu einer Weihnachtsfeier bei einer gewissen Kathi Fröhlich geladen war und am 27. Dezember 1831 genervt in sein Tagebuch schrieb: "Einen Christbaum bei Fröhlich mitgemacht und Bescherungen erhalten, wobei mich die Oberflächlichkeit und Geschmacklosigkeit des von Kathi mir bestimmten Geschenkes äußerst unangenehm berührte. Zweimal im Begriffe gewesen, den Stein des Anstoßes geradezu auf die Straße wegzuwerfen, nur um des widerlichen Eindruckes los zu werden. Ich habe es nicht gethan. Es war ein allerdings nicht zu verwerfendes Gefühl, was mich daran hinderte."

In den ärmeren und armen Familien war der Christbaum im Jahre 1830 eine Seltenheit. Erst in den folgenden beiden Jahrzehnten bis zur Revolution von 1848 wurde der Christbaum auch in kleinbürgerlichen Haushalten, und überhaupt alle Gesellschaftsschichten erobernd, etabliert. Bereits um 1900 sollen über eine Million Christbäume nach Wien gebracht worden sein.

Die Geschichten und Gedichte, welche Frank Hoffmann für das zu besprechende Buch gesammelt hat, geben Zeugnis ab von den Ursprüngen des Weihnachtsfestes, wie es bis heute den Christen zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Ehe sich der Christbaum durchsetzte und der religiöse Charakter des Weihnachtsfestes empfindlich gestört wurde, hatte auch das Nikolofest eine Bedeutung, die nicht zu unterschätzen ist. Dafür spricht nicht nur das Nikolobäumchen, welches in den Haushalten gang und gäbe gewesen sein mag, sondern auch eine kleine Broschüre eines gewissen "Hägrad" (Pseudonym), der 1782 eine "Nikolaus Maskerade" beschrieb: "Ein ächter Beitrag zur Schilderung Wiens über die Vorurtheile des Nikolausgespenstes durch dessen Gepolter die Einbildungskraft der Minderjährigen so thorecht als unbillig mißhandelt wird."

Besonders berührend ist die Geschichte, welche Bert Brecht geschrieben hat, und die er im Jahre 1908 tatsächlich in Chicago erlebt haben soll. Er wurde Zeuge unglaublicher Vorkommnisse. In einem Lokal versammelten sich durchfrorene Menschen, die sich kaum ein Gläschen Whisky leisten konnten. Doch gegen zehn Uhr erschienen zwei oder drei Burschen, welche ein paar Dollar in den Taschen hatten und angesichts von Weihnachten den Gästen ein paar Extragläser bescherten. Daraufhin wurde es recht lustig, und in dieser gehobenen Stimmung sahen sich die Gäste auserkoren, Weihnachtsgeschenke zu verteilen. So bekam der Wirt etwa einen Kübel mit schmutzigem Schneewasser von draußen, wodurch der Whisky auch noch ins neue Jahr hinein gekühlt bleiben sollte.

Schließlich kam die Reihe an einen Mann, der stets ruhig dasaß und anscheinend eine unüberwindliche Scheu vor allem haben musste, was mit der Polizei zusammenhing. Dieser Mann bekam als Geschenk drei Seiten eines alten Adressbuches zugesteckt, die sorgfältig in Zeitungspapier eingeschlagen wurden. Was als "Hauptspaß" gelten sollte, bekam bald einen erstaunlichen Charakter. Der Mann nämlich besah sich nebenbei die Zeitung und begann mit einer Neugier zu lesen, die kaum zu steigern ist. Er las die ganze Seite in einem Atemzug, und am Ende sagte er mit einer verrosteten, mühsam ruhigen Stimme: "Da lese ich eben in der Zeitung, dass die ganze Sache einfach schon lang aufgeklärt ist. Jedermann in Ohio weiß, dass ich mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun hatte." Er lachte, und die Zuhörer begriffen, dass der Mann unter irgendeiner Beschuldigung gestanden, und nunmehr, wie er aus dem Zeitungsblatt erfuhr, rehabilitiert worden ist.
Bert Brecht schließt mit einem ungewöhnlichen und gleichsam fantastischen Satz:
"Und bei dieser allgemeinen Befriedigung spielte es natürlich gar keine Rolle mehr, dass dieses Zeitungsblatt nicht wir ausgesucht hatten, sondern Gott."

Wundersame und traurige Geschichten gibt es einige in diesem glänzenden Buch, das sich hervorragend eignet, unter dem Christbaum in Geschenkpapier eingewickelt des ausgepackt Werdens zu harren. Gerade die Tatsache, dass die (Vor-)weihnachtszeit samt Weihnachtsfest heutzutage in eine hektische Angelegenheit verwandelt worden ist, die mit den ursprünglichen religiösen Inhalten nur in Ansätzen verbunden sein mag, macht dieses Buch umso wertvoller, welches beispielsweise den "Siegeszug" der Weihnachtsmärkte und die Geschichte des Christbaums in Wien meisterhaft erzählt.

Freilich bleibt es jedem Menschen überlassen, inwieweit er den Geist der Weihnacht atmen mag oder auch nicht. Ein wenig über die religiösen Inhalte nachzudenken und nicht dem reinen Weihnachtsstress zu erliegen, wäre allerdings allen Menschen anzuraten, die glauben, in diesen Tagen mit Geschenkmöglichkeiten bombardiert zu werden. Hierbei leistet vorliegendes Buch wunderbare Dienste.

Frank Hoffmann sammelt seit mehr als fünfzehn Jahren Weihnachts- und Adventsgeschichten; insbesondere solche aus Wien oder auch mit Wien-Bezug. Er kennt, wie er im Vorwort schreibt, keine Stadt, die eine weihnachtlichere Atmosphäre aufweisen würde als Wien.

Der ehemalige Moderator des Filmmagazins "Trailer" sorgt mit seiner eindrücklichen Stimme für herrliche akustische Kostproben, die dem Buch auf CD gebannt beigelegt sind. Ob Zufall oder nicht: Er erzählt ausgerechnet jene erstaunlichen Geschichten, welche dem Rezensenten besonders behagen. Neben jener von Bert Brecht u.a. jene von Heinrich Böll, Erich Kästner und Alfred Polgar.

Buch und CD sollten also, wie bereits geschrieben, unter keinem Christbaum in Wien fehlen, weil die prägenden Elemente des Weihnachtsfestes kompakt beschrieben sind und zudem eine Prise Humor sowie zwei Prisen Tragik für Schmunzeln und Nachdenken sorgen können.

(Jürgen Heimlich; 11/2005)


Frank Hoffmann (Hrsg.): "Weihnachten in Wien"
Pichler, 2005. 160 Seiten. 1 Audio-CD.
ISBN 3854313713.
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