Daniel Wallace: "Die Nacht der Wassermelonen"
Ein junger Mann enträtselt die geheimnisvolle Geschichte seiner toten Mutter
Ein Strauß roter Rosen im Schoß einer
nackten Frau - kitschiger geht's kaum. Dieses Covermotiv passt gar nicht zu
Daniel Wallaces Neuerscheinung "Die Nacht der Wassermelonen". Denn der Roman ist
keine schmalzige Liebesschnulze. Er ist eine ungewöhnliche Familiengeschichte
mit fantastischen Elementen und überraschendem Ausgang.
Der Protagonist
Thomas Rider hat seine Mutter Lucy nie kennen gelernt - sie starb bei seiner
Geburt. Aufgewachsen ist der junge Mann bei Lucys Vater, seinem Großvater
Edmund. Als Thomas beginnt, ihm Fragen über seine Eltern zu stellen, hilft er
ihm nicht weiter. Statt ihm einfach die Wahrheit zu erzählen, tischt ihm der
Großvater lauter fantastische Lügengeschichten auf. Als Edmund stirbt, ist
Thomas 18 Jahre alt. Jetzt, endlich, will er die rätselhafte Geschichte seiner
toten Mutter Lucy selbst entschlüsseln. Deshalb reist er
in das
Dorf, in dem er geboren wurde und seine Mutter noch am selben Tag starb:
Ashland, ein kleiner Ort in Alabama.
Thomas befragt die Dorfbewohner nach
Lucy. Auf diese Weise erfährt er nach und nach viele Details: Dass Lucy mit
ihrer Schönheit alle Männer verzauberte. Dass sie ein gutes Herz hatte und den
Analphabeten im Dorf das Lesen beibrachte. Aber auch, dass Lucy schuld ist am
Ende der grandiosen Wassermelonen-Ära: Einst war Ashland dafür berühmt, dass
hier die größten Wassermelonen der Welt wuchsen. Seit Lucy auftauchte und im Ort
alles durcheinander wirbelte, findet das traditionelle, jährliche
Fruchtbarkeitsfest für eine gute Ernte - die Nacht der Wassermelonen - nicht
mehr statt. Jetzt wachsen hier nur noch Früchte von mittelmäßiger Größe und
ebensolchem Geschmack. Diesen schrecklichen Bann kann in den Augen der Bewohner
nur einer brechen: Der Sohn der toten Lucy Rider. Aber was die Ashlander dafür
von Thomas verlangen, ist ungeheuerlich ...
Daniel Wallaces
Vorgehensweise, bei Thomas' Reise in Lucys Vergangenheit die Erinnerungen
verschiedener Dorfbewohner zu sammeln und wie ein Mosaik zusammenzusetzen, macht
Spaß zu lesen und wirkt authentisch. Allerdings ist es auch etwas anstrengend,
sich all die vielen Personen, die zu Wort kommen, einzuprägen - zumal sie im
Großen und Ganzen recht farblos bleiben. Selbst die Hauptfigur, Dreh- und
Angelpunkt der Geschichte, gewinnt keine Konturen. Man erfährt sehr wenig über
Thomas' Gedanken und Gefühle, was angesichts seiner aufrührenden Erlebnisreise
in die Vergangenheit seiner Eltern verwundert. Weitere Schwachstelle des Romans:
Alle Personen reden lange um den heißen Brei herum. Ständig deuten sie das
Geheimnis der Lucy Rider und des Wassermelonenfestes nur an, statt es endlich
beim Namen zu nennen. Auch später, als die Geschehnisse aus Thomas' Sicht
weitererzählt werden, spürt man, dass die Spannung etwas angestrengt
aufrechterhalten wird. Leser, die trotzdem am Ball bleiben, werden jedoch
belohnt: Der Schluss des Romans ist unerwartet, originell,
mystisch.
Fazit: Wer sich von den Ungereimtheiten in der Erzählweise
nicht schrecken lässt, kann mit Daniel Wallaces Roman angenehme, fantasievolle
Lesestunden erleben.
(Almuth Weinberg, 04/2004)
Daniel Wallace: "Die Nacht der
Wassermelonen"
(Originaltitel "The Watermelon King")
Aus dem
Amerikanischen von Maria Andreas.
Eichborn, 2004. 248 Seiten.
ISBN
3-8218-0949-3.
ca. EUR 19,90.
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Lien:
https://www.danielwallace.org/
Daniel Wallace wurde 1959 in Birmingham, Alabama, geboren.
Ergänzender Buchtipp:
"Big Fish"
So einen Vater
wünscht sich manch einer: Einen umwerfenden Abenteurer, der mit Tieren spricht
und jeden Witz der Welt kennt. Eines Tages liegt der Held dann im Sterben, und
sein Sohn muss sich die Frage stellen: Wer ist mein Vater wirklich? Aber warum
sollte er die Wahrheit suchen, wenn die Fantasie noch viele Geschichten aus dem
Leben des Vaters bereithält?
Der Roman wurde übrigens verfilmt - die
Filmkritik finden Sie
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Leseprobe:
Ihre rötlichbraunen Haare waren mit
einem Tuch zurückgebunden, in ihrem sommersprossigen Gesicht blitzten grüne
Augen. Sicher ließ sie für den Mann ihr Lächeln aufstrahlen - das Attraktivste
an ihr, wie mir jemand erzählte. Doch dieses Bild verblasste gleich wieder. Ich
konnte sie mir noch nicht richtig vorstellen, sie noch nicht als Mensch aus
Fleisch und Blut lebendig werden lassen.
Nehmen wir trotzdem einmal an,
sie stieg aus, während der Wagen vollgetankt wurde, und ging um die Ecke zur
Damentoilette. Auch hier gab es jetzt keine Türen mehr, da war nur die
Kloschüssel, der angelaufene Spiegel, das Waschbecken. Seltsamer Gedanke, dass
der Spiegel vielleicht einmal ihr Gesicht gezeigt hat so wie jetzt meines.
Besäßen Spiegel ein Gedächtnis und wäre in der Lage, ihre gespeicherten Bilder
wieder aufzurufen dann könnte ich jetzt mein Gesicht neben ihres halten und nach
Ähnlichkeiten forschen - worin wir glichen, worin nicht: Haare, Mund, Augen,
Kinn. Doch auch ohne einen solchen Vergleich erkannte ich unsere Gemeinsamkeit:
Keiner von uns beiden hatte die leiseste Ahnung, was geschehen
würde.