Antoine Volodine: "Dondog"
Endstation Cockroach Street
Als den Exoten der französischen Gegenwartsliteratur weist der
Klappentext auf der Umschlaginnenseite Antoine Volodine aus. Dies lässt
von vornherein nicht gerade auf leicht verdauliche Kost schließen. Die
Erwartung, eine fantastische Lesereise anzutreten, in eine Welt des
Bizarren, Skurrilen einzutauchen, drängt sich einem unweigerlich auf.
Und es ist eine düstere Welt, Scheinwelt oder Halbwelt, wie immer man
es nennen mag, in die der Autor seine Leser für einige doch sehr
unterhaltsame Stunden - wie ich finde - zu verweilen einlädt. Eine Welt
der Finsternis und des Morbiden, in der die Gewalt regiert, eine Welt
ethnischer Massaker, Internierungen und Zwangsmaßnahmen. Und all dies
spielt sich ab vor einem obskuren weltrevolutionären Hintergrund.
Verloren zwischen Traum und Wirklichkeit, gleichsam orientierungslos,
selbst von seinen Erinnerungen im Stich gelassen, macht sich Dondog
nach über dreißig Jahren Lagerhaft auf den Weg, um seine Vergangenheit
einzuholen, um erlittenes Unrecht zu rächen und um schließlich seinen
Tod beziehungsweise das erlösende Nirwana des Vergessens zu finden in
der schäbigen, trostlosen Cockroach Street, deren Ausgang von einer
schreienden und gelben Mauer versperrt ist. Doch vorher verliert er
sich oftmals in den kruden Korridoren seines Unbewussten.
Bezeichnenderweise ist der erste Teil des Buches mit "Black Corridor"
überschrieben.
Es beginnt schon mit Dondogs Eintreffen in der dunklen Stadt, nachdem
er das Lager endlich hat verlassen können. Eine Stadt, erdrückend in
ihrer klaustrophobischen Schwärze, die ihn gefangen nimmt und mit ihm
auch den Leser. Man kommt nicht los von den nachtmahrischen Bildern,
man fühlt sich unwillkürlich an seine eigenen Alpträume erinnert durch
all die Wesen und Dinge, die gewöhnlich durch die nächtlichen
Traumgewölbe des Menschen spuken, man lässt sich willig gefangen nehmen
von der Düsternis, von der Magie des Wortes, einer Magie, die der Autor
in einem Maße beherrscht, wie ich es selten erlebt habe. Doch muss man
Acht geben, dass man sich nicht verliert im surrealistischen
Wortdschungel, in den sich ständig überlagernden und ineinander
verfließenden Bewusstseinsebenen, durch welche Dondogs Denken und
Fühlen taumelt.
Zitat: "Es war, als wäre man an einem Ort der Zwischenwirklichkeit
gelandet. Ich kann das nicht genau erklären, sagt Dondog. Man hatte das
Gefühl, in eine Schleusenkammer einzutreten, die auf der einen Seite
mit der normalen, datier- und lokalisierbaren Wirklichkeit in
Verbindung stand, und auf der anderen Seite mit einer magischen
Wirklichkeit, in der die Begriffe Raum, Vergangenheit, Zukunft, Leben
und Tod einen Großteil ihrer Bedeutung verloren."
Laut Dondog eine schlechte Erklärung. Natürlich. Wie will man auch das
Unerklärbare in Worte fassen, in ein starres Korsett von
sechsundzwanzig Buchstaben, in das sich nicht einmal ein Gedanke
zwängen lässt, ohne seiner innersten Wesenheit dabei verlustig zu
gehen. Der Leser findet sich jedenfalls in einem schwer zu
durchdringenden Gespinst wieder, in dem Traum und Wirklichkeit, Leben
und Tod, Vergangenheit und Zukunft untrennbar miteinander verwoben sind.
Die Menschen bei Volodine haben etwas Fossiles an sich, etwas dem
(technisch-technologischen) Fortschritt Entgegengesetztes, zudem sind
sie seelisch verkrüppelt, beinahe mumifiziert, und fast alle im Roman
auftretenden Personen schleppen ein körperliches Gebrechen durch ihr
Leben. Immer wieder sind sie konfrontiert mit Situationen der
Einkerkerung, des Eingeschlossenseins, sei es im Lager, in der Stadt,
auf einem Lastkahn oder in ihrer eigenen unbewussten Psyche, die trotz
aller Bemühungen Dondogs den Weg zum Licht nicht weisen will. Und über
den Häuptern der Menschen wölbt sich dräuend der Tempel der Finsternis,
in dessen kryptischem Dunkel Verzweiflung und Ungewissheit herrschen.
Zitat: "Eine fürchterliche Finsternis schluckte die Kais, das
Krankenhaus,
in weiterer Ferne schluckte sie das Hafenviertel und die Stadt, und in noch
weiterer Ferne zweifellos das ganze Land und den Kontinent und sogar den ganzen
Planeten."
Antoine Volodines düstere Vision hat auch einen nicht zu leugnenden Bezug zu
unserer aktuellen Gegenwart. Die Orientierungslosigkeit des Protagonisten lässt
sich übertragen auf den heutigen Menschen, der an seinen von ihm selbst verursachten
Problemen zu scheitern droht. Ja, auch vom Scheitern handelt dieses Buch, vom
Scheitern der Weltrevolution, vom Scheitern von Dondogs Rachefeldzug und nicht
zuletzt vom Scheitern Dondogs, seine Erinnerungen in den sicheren Hafen der
Gewissheit einzufahren. Auch von der Ohnmacht der Schamanen handelt das Buch,
von der Ohnmacht des Religiösen und Spirituellen im Menschen. Und das Hämmern
der von einer seltsamen Mafia betriebenen Pumpen vermischt sich im Roman mit
den Trommelschlägen der
Schamanen zu
dumpfen Untergangs-Beschwörungen. Menschen werden herabgewürdigt zu insektoider
Winzigkeit und Bedeutungslosigkeit, zu Kakerlaken, Schaben also. Sie sind nämlich
allgegenwärtig in diesem Roman, die Schaben, auch die Internierten in den Lagern
werden als Schaben bezeichnet, als nichtswürdige, dahin vegetierende Kreaturen,
und am Schluss des Romans findet Dondog schließlich sein vorherbestimmtes Ende
in der Cockroach Street, zu deutsch Schaben-Straße. Dondog ist nicht nur Dondog,
er ist auch Underdog.
An einer Stelle beschreibt Volodine den Todeskampf einer Schabe, wie
sie mit ihren langsam strampelnden Füßen eine letzte nutzlose
Vorführung im Schattenboxen gibt. Das ganze Leben scheint bei ihm aus
Schattenboxen zu bestehen. Doch der sublime Humor, der in dem Gleichnis
mit der Schabe aufblakt, findet auch seinen angemessenen Platz, er
findet sich an mehreren Stellen im Werk wieder, unaufdringlich und kaum
wahrgenommen, aber dem aufmerksamen Leser wird er nicht verborgen
bleiben.
Volodines Erzählstil ist nüchtern und doch zugleich auch poetisch. Die
Synthese verschiedener Stilelemente zu einem künstlerisch homogenen
Ganzen gelingt mühelos. Er beschreibt präzise, erzählt fesselnd,
verfügt über eine souveräne Sprachbeherrschung, was sicherlich
gleichermaßen für den Übersetzer Holger Fock zutrifft, den ich hier
nicht vergessen möchte, zu erwähnen. Als Postexotismus bezeichnet der
Autor selbst den Ableger der Phantastik, den er kreiert hat und der
sich ein wenig an die französische Decadence anzulehnen scheint. Es
handelt sich hierbei um eine Phantastik, die zum Nachdenken, zur
aktiven Mitarbeit des Lesers aufruft, die nichts gemein hat mit der
pöbelhaften, bluttriefenden Phantastik eines brachialen Stümpers wie
Stephen King
zum Beispiel. Antoine Volodine biedert sich also nicht dem
standardisierten Geschmack eines Massenpublikums an, was den ganz
großen Erfolg fraglich erscheinen lässt.
Abschließend lässt sich sagen, es lohnt sich, diesen Post-Exoten
Antoine Volodine und sein Werk näher kennen zu lernen, die
exotische Frucht Dondog, die seinem Denken entblüht und entwachsen ist.
Zum Verzehr geeignet und hiermit wärmstens empfohlen!
(Werner Fletcher; 09/2005)
Antoine Volodine: "Dondog"
(Originaltitel "Dondog")
Aus dem Französischen von Holger Fock.
Suhrkamp, 2005. 304 Seiten.
Buch
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Antoine Volodine, Russischlehrer,
Übersetzer russischer Literatur, Schriftsteller, wurde 1950 geboren. Er lebt in
Orléans.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Mevlidos Träume"
Mevlido, ein melancholischer Polizist um die 50, lebt inmitten von Kriegsruinen,
in einer heruntergekommenen Wohnung voller
Spinnen. Riesige Vogelmutanten, Flüchtlinge aus Lagern und Gulags bevölkern
die Ghettos der Stadt. Mevlidos über alles geliebte Frau ist vor fünfzehn
Jahren, im Krieg aller gegen alle, von Kindersoldaten gefoltert und ermordet
worden. Eines Tages wird Mevlido von den "Organen" seiner Partei mit
einer besonderen Mission beauftragt. Dafür muss er in ein "Zwischenreich"
eindringen. Die Eintrittskarte in dieses Reich sind sein gewaltsamer Tod und
eine qualvolle Wiedergeburt. Jene, die er in seinem früheren Leben gekannt hat,
kann er nun zuweilen sehen, ohne aber von ihnen gesehen zu werden; in ihre Träume
kann er sich einschleichen, ohne dass größere Nähe möglich wäre. In seinem
neuen Leben findet Mevlido seine Frau wieder. Aber auch ihr kann er sich nicht
bemerkbar machen.
"Mevlidos Träume" ist das Buch eines Visionärs. In
furiosen Bildern komponiert Antoine Volodine eine schwindelerregende, höchst
beunruhigende Anderswelt.
Alles uns Bekannte ist ins Alptraumhafte verzerrt. Aber Ironie und
kohlrabenschwarzer Humor lassen daran zweifeln, dass diese Anderswelt Volodines
letztes Wort ist. (Suhrkamp)
Buch
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