Tanguy Viel: "Unverdächtig"
Millionäre
aus Pappmaché
Geld ist der Bumerang unseres Lebens, meint der französische
Autor Tanguy Viel
Tanguy Viel verwebt einen Schleier aus Sätzen virtuos zu
Bildern, zu Dimensionen und
Farben in seinem Deutschlanddebüt "Unverdächtig". Er
erzählt dem
Leser das "blinde Schicksal" von vier unglücklich miteinander
"verwachsenen" Personen.
Literarische Neuigkeiten gab es bei den Franzosen in den
letzten Jahren nicht gerade im Übermaß zu entdecken.
Allenfalls Michel Houellebecq oder Jean Echenoz, vielleicht noch die faden
Sex-Skandälchen der
Catherine Millet erregten einigermaßen Beachtung. Ansonsten
dominieren die "Alten Meister" den Diskurs.
Dem setzt der Verlag Klaus Wagenbach einen jungen Mann entgegen, der
zwar im deutschen Sprachraum noch völlig unbekannt ist, von der Presse
seines Heimatlandes jedoch hoch gelobt wird, und sicherlich auch hierzulande bald in aller
Munde sein dürfte. Dann nämlich, wenn sein erster auf
Deutsch vorliegender Roman "Unverdächtig" seine Leserschaft gefunden haben wird.
Die ersten zwölf Jahre seines Lebens verbringt der 1973
geborene Tanguy Viel in
Brest. Als junger Mann und Wehrdienstverweigerer beschränken
sich seine Habseligkeiten "auf sechs Kartons, fünf davon waren
Bücherkartons“, erzählt
der Schriftsteller François Bon. Viel wohnte im Zentrum der
dramatischen Kunst von Tours in Bedienstetenkammern und auf Dachböden, immer ganz
in der Nähe des Stadtzentrums und dessen Bars. Nachdem der Verlag Minuit sein erstes
Manuskript ablehnt, veröffentlicht er anschließend seinen
ersten Roman: "Le Black
Note". Es folgen "Cinéma" und "L’Absolue perfection en
crime", wo er sich in der literarischen Form des Krimis ausprobiert.
Züge eines Kriminalromans fließen auch in sein nun
erstmals auf Deutsch erschienenes Buch "Unverdächtig" ein.
Das Umfeld und Milieu haben Tanguy Viel offensichtlich stark
geprägt und ihm einen ganz eigenen, ungewöhnlichen, aber wunderbaren Ton
verliehen: sein Stil ist ausgefeilt, fast cineastisch, alle Personen zeichnen sich durch -
zum Teil charmante - Unvollkommenheit aus, seine Sprache ist
äußerst assoziationsstark.
Die Sätze sind verschachtelt und oft
ungrammatikalisch, aber entwickeln eine ungeheure Sogwirkung,
einhergehend mit Tiefe und Prägnanz.
Dies ist auch der großartigen Übersetzung Hinrich
Schmidt-Henkels zu der
verdanken, der mit "sichtlichem Vergnügen" einen nicht
unbedeutenden Einfluss auf die Qualität dieses Werkes genommen hat.
Viel paralysiert seinen Leser. Angelegt ist die Erzählung in
Form des Zwiesprache haltenden Ich-Erzählers Sam: eine Art kommentierte
Inhaltsangabe vergangener
Geschehnisse.
Insoupçonnable - über jeden Verdacht
erhaben
Die Erzählung beginnt mit der Erinnerung an die Hochzeitsfeier
seiner - Sams - großen Liebe Lise mit Henri Delamare. Sam erscheint
als Lises "Bruder" und Trauzeuge. Bruder? Ja, Bruder! Denn das Pärchen
hatte einen teuflischen Plan. Um ihrer monetären und zerebralen
Ausweglosigkeit, dem täglichen "Crescendo ihrer Fantasien" zu entgehen, nimmt Lise,
die als Animierdame in einem Edeletablissement arbeitet, die ihr gebotene
Hand in Form des doppelt so alten "Vereinigten Auktionskommissares" Henri an,
der sie heiraten möchte: die Chance
für ein veritableres Leben.
Sam wird kurzerhand als Lises Bruder vorgestellt, und sein bis dahin
tristes Dasein vor dem Fernseher verlagert sich nun in Richtung nicht minder
trostloser Aktivitäten auf den Golfplatz. Denn Henri macht
seinen "Schwager" zu seinem Golfschüler. "Du hast wirklich
Glück, Sam, dass du mit
Golfern wie uns spielst.
Und ich sagte, es sei mir eine Freude, ja, genau das sagte ich, es ist
mir eine Freude, ich sprach schon wie sie ... genau da war ich mit meinem Leben,
nichts wurde sichtbar".
Aber es gibt da noch Henris Bruder Édouard. Der
große Schweigsame, der
Undurchschaubare in diesem Gefüge. Offensichtlich
scheint er das falsche Spiel der Zwei zu durchschauen, "das ist eben
das Problem mit so einer Geschichte, wenn sie anfängt, dann
weiß sie noch nicht,
wen sie alles mitnimmt."
Als Lise und Sam eines Tages auch noch eine Entführung
vortäuschen und Lösegeld fordern, wird
Édouard zur zentralen Schlüsselfigur.
Es kommt alles ganz anders, als sie sich es gedacht haben ...
Homo homini lupus - Der Mensch ist des Menschen Wolf (Plautus)
Das veranschaulicht der französische Schriftsteller Tanguy
Viel in seinem von
Geld, Liebe und Verrat handelnden Roman "Unverdächtig" auf
eindrucksvolle Weise. Vier Personen, in ihren Grundzügen
skizziert und ohne
ausschweifende Explikationen, werden durch ihr ausgeprägtes
Verhalten
vortrefflich charakterisiert. Tanguy Viel fokussiert eine Aura des
Ungesagten,
des Magischen, ja fast Metaphysischen, ähnlich einem
Alfred-Hitchcock-Krimi. Er
transformiert die Gedanken und Gefühle der vier Protagonisten
linear in den
Kopf des Lesers.
Räumlichkeiten gewinnen - obwohl sie geradezu sparsam
beschrieben werden - an
Tiefe, an Plastizität, um plötzlich eine
Dreidimensionalität anzunehmen. Dazu
passen die schnörkellose Handlungsführung und die
lapidare Sprache. Doch trotz
dieser Verknappung und Verdichtung erzeugt der Autor immer wieder
Überraschungsmomente,
wenn er von einer trügerischen, luftigleicht schwebenden, fast
ballerinenhaften
Idylle - einem fliegenden, flüchtigen Schatten - im
nächsten Moment
"schreiende Leuchtfeuer, unsichtbare Sirenen" mit Worten auftauchen
und diese dann wie Luft rundherum kreisen lässt.
Der Leser steht dabei in der Mitte.
Aus einem langsamen Strudel aus beinahe ungeschickt beendeten,
merkwürdig ausstaffierten Sätzen entfaltet sich ein "unendlicher Parcours
aus Bildern, Gedanken und Rastlosigkeiten, die alle miteinander einen
zusammenhängenden
Bericht ergeben."
Wohltuend und treffend auch die Einbandgestaltung von Julie August, die
eben dieses trügerische Bild brillant wiederzugeben weiß.
Fazit
"Unverdächtig" ist gleichzeitig Liebesroman und spannende
Kriminalgeschichte mit unerwarteten Wendungen: eine zum Teil witzige,
sarkastische "Quadratur des Kreises". Das Buch ist ungeheuer
eindringlich - es ist schlichtweg "formidabel".
(Heike Geilen; 08/2007)
Tanguy
Viel: "Unverdächtig"
(Originaltitel "Insoupçonnable")
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Gebundene Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach, 2007. 128 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Fischer, 2011.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Das absolut perfekte Verbrechen"
In einer nordfranzösischen Hafenstadt plant die örtliche Gaunerbande den
Überfall auf das Casino. Der Plan ist ebenso verrückt wie perfekt: Ein
filmischer Roman in Schwarz-Weiß über den Traum vom großen Glück.
Pierre, Andrei und Marin sind übriggeblieben, nachdem der "Onkel", Drahtzieher
und Fixpunkt des kriminellen Clans, sich altersschwach
ins Jenseits
verabschiedet hat. Vor der Kulisse von
Meer, Nebel und Frachtschiffen geht es um
nichts Geringeres, als das am Hafen gelegene Casino auszurauben. Lucho, ein
Freund von Marin, soll helfen, den raffinierten Plan umzusetzen. Und
Marins Frau Jeanne, unerreichbar und begehrenswert, spielt mit. Eine
meisterhafte Parodie der klassischen Gaunergeschichten um Loyalität, Verrat und
Rache. (Verlag Klaus Wagenbach)
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Noch
ein Buchtipp:
Annette Wassermann (Hrsg.): "Tour de France. Junge
französische Literatur"
Eine Frau engagiert eine Mörderin für den letzten
Liebesdienst an ihrem Mann,
eine Studentin bemüht sich um die Aufenthaltsgenehmigung in
einem liberalen
Land, ein Mann wird von seiner Geliebten verlassen und findet eine tote
Giraffe
im Garten, ein Sohn gesteht den Eltern seine geheime Leidenschaft.
Lebensansichten und Lebenseinsichten junger französischer
Autoren in einer
Vielzahl von Themen und Tonlagen, die ein Panorama
gegenwärtigen Schreibens
in
Frankreich ergeben: witzig und düster, existenzialistisch und
surreal,
selbstverliebt und formorientiert, zärtlich und abstrakt.
Mit Texten von Eliette Abécassis,
Olivier Adam, Philippe
Adam, Y. B., Arno
Bertina, aZel luKa,
Philippe
Besson, Bessora, Arnaud Cathrine, Virginie
Despentes, Anna Gavalda,
Thomas Gunzig, Lola Lafon, Sébastien Lapaque,
Claire
Legendre, Valérie Mréjen, Martin Page, Tanguy
Viel u. a. (Verlag Klaus Wagenbach)
Buch
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