Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge"

"Jeder Tote bringt Gott seinen letzten Atemzug, sagt Costel. In diesem Atemzug kann Gott das Leben dieses Menschen lesen wie in einem Buch.
Gottes Bibliothek ist ein Regal voller Atemzüge."


Der fremde Blick auf eine ortlose Heimat

Mit Aglaja Veteranyis Freitod, die Autorin ertränkte sich in der Nacht zum 3. Februar 2002 im Zürichsee, verlor die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine stimmgewaltige Solistin. Aus dem oftmals eintönigen Chorgesang vor Selbstbeschau und Überdruss triefender, in Kritikerkreisen zuweilen voreilig hochgejubelter, zeitgenössischer Nachwuchsliteraten sticht Aglaja Veteranyis klarer Klang unüberhörbar hervor und hebt sich wohltuend ab.

Aglaja Veteranyi wurde am 17. Mai 1962 als Tochter eines Clowns und einer Artistin in eine Zirkusfamilie hineingeboren. Fünf Jahre später emigrierte die Familie aus Rumänien und reiste um die ganze Welt. 1977 wurde man in der Schweiz sesshaft, wo sich Aglaja
Veteranyi, die inzwischen mehrsprachig kommunizieren konnte, binnen kurzer Zeit selbst Deutsch lesen und schreiben beibrachte; sie hatte bis dahin keinerlei schulische Ausbildung genossen, und die übrigen Familienmitglieder waren bildungsfeindliche Analfabeten. 
Die vormalige Nomadin erschloss sich also ihren höchstpersönlichen Lebensraum, die geschriebene Sprache, als Autodidaktin, absolvierte eine Schauspielausbildung, brach aus dem elterlichen Zirkusmilieu aus und arbeitete ab 1982 als freischaffende Schauspielerin und Autorin. 
Neben Veröffentlichungen in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen war Aglaja Veteranyi in Theaterprojekten tätig (Experimentalduo "Die Wortpumpe" mit René Oberholzer; Theatergruppe "Die Engelmaschine" mit Jens Nielsen) und verfasste etliche Stücke für die Bühne.
Im Jahr 1999 erschien ihr erster Roman, "Warum das Kind in der Polenta kocht", aus welchem sie im selben Jahr beim Ingeborg-Bachmann-Preis las.
Aglaja Veteranyi ging beim Wettlesen leer aus. ("Viel Zustimmung erhielt auch Aglaja Veteranyi für die Geschichte einer Kindheit im rumänischen Artistenmilieu. Die Schilderung aus der Kinderperspektive sei eines der schwierigsten Unterfangen der Literatur, waren sich die Autoren einig. Sie erntete viel Lob, als herausragend wurde aber auch ihr Text nicht bezeichnet." - Quelle: orf.at)

Bei der Leserschaft erfreuten sich die stets mit beeindruckender Energie gestalteten Lesungen und die hingebungsvoll ausgefeilten, ausdrucksstarken Texte der Autorin angemessenen Zuspruchs, und für "Warum das Kind in der Polenta kocht" wurde sie  u.a. mit dem Kunstpreis Berlin 2000 sowie dem Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet.
Ludwig Metzger gestaltete übrigens einen Dokumentarfilm, "Hier Himmel -
Aglaja Veteranyi", über das außergewöhnliche Leben der Schauspielerin und Schriftstellerin.

Sprachskizzen eines Abschieds als Spiegel der Nicht-Sesshaftigkeit im Leben

Kennzeichnend für das in erster Linie auf autobiografischen Bausteinen basierende Werk Aglaja Veteranyis sind die Trennung des Begriffs Heimat von geografischen Orten, das sensible Erleben und Beobachten von Fremdsein, Entfremdung und gleichzeitiger Vertrautheit, die getriebene Suche nach einem erträglichen Verweilort innerhalb wie außerhalb familiärer Strukturen.
Die vornehmlich als scheinheilig empfundene Welt spiegelt sich in der bisweilen fragmentarischen, gelegentlich unsteten, immer mit Überraschungen aufwartenden unverbrauchten Sprache. Der vordergründig naive Tonfall entlarvt mit artistischer, bei aller Leichtigkeit treffsicherer Gewandtheit die Verrenkungen des Unbewussten und bleibt stets ebenso unmittelbar wie verletzlich und eindringlich; auch feine bis absurde Situationskomik kommt nicht zu kurz. Die Grenze zwischen verknappter Prosa und Lyrik wird stellenweise durchlässig.
Aglaja Veteranyi bildet Momente der Wahrheit ab, geht den Dingen auf den Grund. Sie tut dies mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit, wobei sie die Wunder und Geheimnisse des Daseins mit poetischen, fantasievollen Sprachnetzen umgibt und Eitelkeit ein Fremdwort bleibt - eine heutzutage seltene schriftstellerische Qualität. 
Und ließe das Werk die punktgenauen Stiche in menschliches Fehlverhalten, welche gnadenlosen Betrachtungen durch die Lupe ähneln, vermissen, würde manch einer vermuten, "Das Regal der letzten Atemzüge" habe womöglich ein Wiener verfasst, so morbid wirken einzelne Passagen daraus.
Wurde im Romanerstling das Leben aus vermeintlich unbekümmert-kindlicher Erzählperspektive geschildert, ist in "Das Regal der letzten Atemzüge" die Ich-Erzählerin erwachsen geworden, ihre Wahrnehmung fächert sich in mehrere Perspektiven auf. Das einstige rumänische Zirkuskind beschreibt den Alltag in der für Fremde schwierig zu erschließenden Schweiz, verortet sich - kühl distanziert - im Niemandsland zwischen sesshaft gewordenen und weiterhin umherziehenden Verwandten; ein riskantes Pendeln zwischen höchst unterschiedlichen Welten.

"Der Tod, oder zumindest die drohende Gefahr des Todes, war schon immer eines ihrer Leitmotive gewesen, nie düster, sondern immer voller Menschlichkeit und in bisweilen schwärzesten Humor getaucht." 
(Aus dem Nachwort zu "Das Regal der letzten Atemzüge" von Werner Löcher-Lawrence und Jens Nielsen)

Der innig geliebten Tante stand die Ich-Erzählerin stets näher als der Mutter, die als schön und oberflächlich beschrieben wird, mit der es weder sprachliche Nähe noch sonstige Gemeinsamkeiten gibt; man bleibt einander blutsverwandt-fremd.
Vor dem Hintergrund des langsamen Sterbens der Tante inmitten des kalten Krankenhausalltags, umgeben von eingebürgerten und eingereisten trauernden Verwandten, Begräbnisvorbereitungen und die Menschenwürde verneinenden Formularen, lässt die Autorin für Rückblicke, kurze Szenen und Dialoge ausreichend Raum, um die Beziehungen innerhalb des Familienverbandes, ein Bild der Lebensumstände, Gefühle und Gedanken zu ewig menschlichen Themen wie Gott und Endlichkeit des irdischen Daseins, das Hadern mit dem Schicksal an sich, darzustellen.

"Als die Tante starb, froren unsere Gesichter im Spiegel. Der Onkel deckte den Spiegel mit ihrer Jacke ab.
Meine Mutter schluchzte ins Telefon: Ich bin böse mit Gott! Er hält nicht zu uns!
Dann hielt sie ihrer toten Schwester den Hörer hin.
Aus dem Apparat drang ein rumänisches Klagelied. Neben der Tür schluchzte Costel. Mama Reta ist gegangen!
Er schlug sich auf den Kopf, ins Gesicht, auf die Lippen, schlug sich die Wörter in den Mund zurück.
Ich öffnete das Fenster.
Costel schloss es wieder.
Frische Luft schadet der Leiche, sagte er.
Der Onkel griff der Tante zwischen die Beine und schnitt den Katheterschlauch durch. Er hing wie eine Nabelschnur.
Den Rest ließ er in der Tante."

Aglaja Veteranyi musste schreiben, auch um der Beschwernis der eigenen Biografie etwas entgegen zu setzen, diese mit Sprache aufzuwiegen, um der Welt ihr persönliches Stückchen Heimat abzuringen.

"Das Regal der letzten Atemzüge" - eine Delikatesse im Bücherregal.

(kre; 06/2004)


Aglaja Veteranyi: "Das Regal der letzten Atemzüge"
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2002. 136 Seiten.
ISBN 3-421-05377-4.
ca. EUR 17,40. Buch bestellen
Taschenbuch:
dtv, 2004. 144 Seiten.
ISBN 3-423-13217-5.
ca. EUR 8,80. Buch bestellen

Ergänzende Buchempfehlungen:

"Warum das Kind in der Polenta kocht"
Das Kind einer rumänischen Artistenfamilie lebt in zwei Welten, der farbig verklärten Heimat von Zirkus und Wohnwagen, aber auch der harten Wirklichkeit des ständigen Fremd- und Unterwegsseins. Voller Illusionen ist die Familie den Verheißungen des Westens gefolgt, ein großes Haus soll gekauft, die Tochter ein Filmstar werden, aber dann wird alles ganz anders.
Mit den Augen eines jungen Mädchens, dessen Welt durch die unmittelbare Umgebung bestimmt wird, durch die Familie und die kleinen Ereignisse des Alltags, erlebt der Leser das Scheitern eines Traumes, der Selbstbetrug war von Anfang an. Eindrücklich und ohne jede Sentimentalität erzählt das kleine Mädchen seine Geschichte.
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