Sandro Veronesi: "Stilles Chaos"


Pietro und Carlo, die beiden Brüder, surfen am Strand. Sie haben einige Tage frei. Pietro ist mit seiner Familie von seinem Wohnort Mailand ins Strandhaus am Meer gefahren und hat seinen Bruder zu Gast, der ansonsten geschäftlich viel in der Welt herumreist. Sie haben eigentlich ein gutes Verhältnis zueinander, sehen sich aber sehr selten. Plötzlich entdeckt Pietro eine Gruppe sehr aufgeregter Menschen am Strand und weist seinen Bruder darauf hin. In stillem Einverständnis laufen die beiden Brüder auf diesen kleinen Menschenauflauf zu.

Ebenso schnell begreifen sie die Situation und handeln: eine Frau droht zu ertrinken, und es ist gar keine Frage, die beiden werden sie retten, und sei es unter Einsatz ihres eigenen Lebens. Sie haben sich gerade ins Wasser gestürzt, als ein Mann sie von ihrem Vorhaben abzubringen versucht; es habe gar keine Zweck, sagt er. Später, sehr viel später stellt sich heraus, dass dieser resigniert scheinende Mann der Ehegatte der ertrinkenden Frau ist. Kaum sind die Brüder im Wasser, stellen sie fest, dass es sich um zwei Menschen handelt, die da zu ertrinken drohen. Sie teilen sich blitzschnell auf. Pietro, der die ganze Geschichte erzählt, muss mit der Frau kämpfen. Sie scheint gar nicht gerettet werden zu wollen und droht ihn mit in die Tiefe zu ziehen. Als Pietro sie endlich von hinten gepackt hat, macht er eine überraschende Selbsterfahrung: mitten im eigenen Überlebenskampf ist er von der Frau dermaßen erregt, dass er den Ständer seinen Lebens hat und vor Lust fast platzt.
Mit letzter Kraft rettet er die Frau an den Strand, auch sein Bruder hat die andere Frau glücklich geborgen, als ihnen eine in der Zwischenzeit größer gewordene Menge am Strand die beiden Frauen aus den Armen reißt und die beiden Retter nicht weiter beachtet.

Sie gehen, von diesem Vorfall erschöpft und von der Reaktion der Menge noch ziemlich irritiert, zum Strandhaus zurück, und Pietro trifft seine Lebensgefährtin und Mutter seiner Tochter an - tot. Während er einer anderen Frau das Leben rettete, ist seine eigene still gestorben.

Pietro Paladini, 43 Jahre alt, fasst einen Entschluss. Zurück in Mailand wird er seine zehnjährige Tochter Claudia nicht mehr aus den Augen lassen. Er bringt sie jeden Tag zur Schule und wartet vor der Schule, bis Claudia sie um 17 Uhr verlässt. Seine Tochter ist durch den Tod der Mutter traumatisiert, und Pietro überhäuft sich selbst mit Vorwürfen, ohne dass seine Trauer um die geliebte Partnerin Raum gewinnen könnte.
Während er der ganzen Tag wartet, erlebt Pietro mit sich selbst und mit anderen Menschen ganz erstaunliche Sachen. Er ist sich schon darüber im Klaren, dass er sich mit seiner Warterei lächerlich macht, doch das interessiert ihn nicht.

Schon nach kurzer Zeit begegnen ihm die Menschen anders. Der Polizist, der jeden Tag den Schulweg der Kinder sichert, Menschen, die regelmäßig dort ihre Hunde ausführen, sie alle suchen das Gespräch mit Pietro. Aber dabei bleibt es nicht. Auch seine Geschäftspartner und Mitarbeiter beginnen mit ihren Sorgen und Nöten zu ihm zu kommen, nachdem ihm seine Chefs erstaunlicherweise erlaubt haben, seine Arbeit im Auto vor der Schule fortzusetzen. Seine TV-Produktionsfirma steckt in wichtigen, für die Existenz der Firma und die Arbeitsplatzsicherheit der Mitarbeiter sehr gefährlichen Fusionsverhandlungen, und so geht es dort drunter und drüber. Pietro wird in seinem stillen und täglichen Warten so etwas wie ein Fels in der Brandung.

Alle kommen sie zu ihm und fragen ihn um Rat, nicht nur Menschen aus der Firma. Auch sein Bruder taucht auf und will ihn von seinem Vorhaben abbringen, doch Pietro bleibt dabei. Mehrere seiner Chefs machen ihm sehr verlockende berufliche Angebote, doch Pietro lehnt ab. Indem er seiner inneren Stimme vertraut, lernt er, seine Tochter Claudia, sein Leben und auch die Welt, in der er lebt, mit anderen Augen zu sehen.

Sandro Veronesi lässt den Leser über niemals langweilige 480 Seiten an dieser beeindruckende Weltsicht teilhaben, diesem stillen Chaos, als das Pietro seine Welt zu sehen lernt, aber auch zu schätzen. Natürlich dauert diese Zeit nicht ewig. Irgendwann hilft ihm seine für ihr Alter sehr reife Tochter Claudia dabei, ins normale Leben zurückzukommen. Doch er wird diese Zeit nicht vergessen, hat sie ihm doch auf eine besondere Weise etwas ermöglicht, zu dem er sonst wahrscheinlich nicht vorgedrungen wäre: die echte und ausgedrückte Trauer um seine geliebte Lara.

In Italien hat der Roman überwältigendes Echo ausgelöst. Manche sehr konservative Rezensenten jedoch wähnen Sex als Leitmotiv des Buches und sprechen von zügellosen Ausschweifungen, welche die Lektüre schwer machten. Dem kann sich der Rezensent nicht anschließen, wenn auch die über mehrere Seiten geschilderte Szene, als Pietro, nachdem die Frau, die er damals am Strand gerettet hat, zu ihm auf den Schulparkplatz gekommen ist, er sich mit ihr trifft und seine sexuelle Fantasie während der Rettung in einem präzise und detailliert geschilderten Analverkehr auslebt, beim Lesen eher Gefühle des Ekels ob der der Szene innewohnenden Gewalt ausgelöst hat.

Ansonsten ist dieser Roman eine der Entdeckungen des Herbstes 2007. Dem Knaus Verlag gelingt es immer wieder, ganz erstaunliche Bücher aufzuspüren. Im Jahr 2006 war es das leider wenig beachtete Buch Joseph Boydens "Der lange Weg", 2007 Veronesis "Stilles Chaos". Diese Bücher wird man vergeblich in den Verkaufsranglisten suchen, und doch werden sie ihr eigenes Lesepublikum finden.

(Winfried Stanzick)


Sandro Veronesi: "Stilles Chaos"
(Originaltitel "Caos Calmo")
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.
Knaus/btb. 480 Seiten.
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Sandro Veronesi wurde 1959 in Florenz geboren. Er ist Architekt, arbeitet jedoch seit einigen Jahren als Schriftsteller. Er gilt als einer der bedeutendsten Autoren seiner Generation in Italien und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Weitere Bücher des Autors:

"Die Berührten"

Rom, ewige Stadt der Jugend. Der junge Grafologe Mète lässt sich treiben: auf Festen und von einer Affäre zur nächsten. Erst allmählich wird ihm bewusst, dass er der Getriebene ist - von einer alles verschlingenden Liebe. In opulenten Bildern beschwört Veronesi die Dolce Vita der 1980er-Jahre herauf. Veronesi schildert in seinem Roman mit der Bildkraft eines Fellini eine Jugend ohne Ziel - aber auch ohne Probleme. Bis auf die alle bedrohende Einsamkeit. Und der versuchen sie durch die Liebe zu entkommen. Sie treibt Mète jedoch immer zerstörerischer in die Nähe zu seiner sinnlich-verführerischen Halbschwester Belinda. Als die Eltern der beiden ihre Hochzeitsreise antreten, zieht Belinda bei ihm ein. Und damit ist die Katastrophe nicht mehr abzuwenden.
Sandro Veronesis Roman ist nicht nur die Geschichte einer zerstörerischen Liebe, sondern gleichermaßen ein faszinierendes Gesellschafts- und Großstadtpanorama. (Klett-Cotta)
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"XY"
Elf Leichen werden in einem verschneiten Bergdorf gefunden. Ein Pfarrer und eine Psychiaterin versuchen, dem Unfassbaren auf die Spur zu kommen. Mitreißend spürt Sandro Veronesi den Grundfragen von Schuld und Sühne, Gut und Böse, Vernunft und Glauben nach.
Im verschneiten Wald nahe des Bergdorfs San Giuda werden die Leichen von elf Touristen gefunden. Die Autopsie der Leichen offenbart etwas Unfassbares: elf Leichen, elf Todesursachen. Mord und Selbstmord, Krebs und Herzinfarkt. Ein Opfer scheint dem Biss eines Hais erlegen zu sein. Nichts passt zusammen. Während die Behörden die unerklärlichen Details der Tragödie vertuschen, versuchen der Priester Don Ermete und die Psychologin Giovanna, das Rätsel zu lösen. Ihre Ermittlungen führen den Leser auf eine philosophische Reise in die Grenzgebiete unseres Verstandes. (Klett-Cotta)
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