Susan J. Brison: "Vergewaltigt. Ich und die Zeit danach. Trauma und Erinnerung"

"(...) das Leben ist mir zurückgegeben worden
und ich stehe hier vor dem Leben
wie vor einem Kleid
das man nicht mehr anziehen kann."


... schreibt Charlotte Delbo über ihre Rückkehr aus Auschwitz und wirft die Frage auf: Wie lebt man weiter mit einem zerstörten Selbst, ohne die Überzeugung, jemals wieder zu genesen, mit der Überzeugung, dass man immer gefoltert bleiben und sich in der Welt nie wieder heimisch fühlen wird?

Diese und ähnliche Fragen stehen auch für Susan Brison im Vordergrund, als sie während eines morgendlichen Spaziergangs in Südfrankreich brutal vergewaltigt und niedergeschlagen wird. Sie entgeht nur knapp dem Tod und findet sich nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus vor den Trümmern ihres Selbst wieder. Mit der verheerenden Zerstörung ihrer eigenen Welt konfrontiert, erkennt sie, dass, um ein zerbrochenes Selbst wieder aufzubauen, ein Prozess des Erinnerns und Durcharbeitens erforderlich ist. Tagtäglich erfährt sie am eigenen Körper, wie sehr ein Trauma nicht nur das bewusste und unbewusste Denken eines Menschen beherrscht, sondern sich auch im Körper festsetzt, in jedem seiner Sinne, immer bereit, wieder an die Oberfläche vorzustoßen.

Der Aufarbeitungsprozess wird dadurch erschwert, dass Vergewaltigung nach wie vor zu den Tabuthemen unserer Zeit gehört und die Schuld oft genug auf das Opfer geschoben wird nach dem Motto: Wenn man vergewaltigt wird, dann deshalb, weil man einen Fehler gemacht hat.
Diese Fehldiagnose und die Tatsache, dass die Autorin durch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe erkennen muss, dass sie als weiße, gut ausgebildete, verheiratete, berufstätige Frau mittleren Alters in gesicherten finanziellen Verhältnissen, die schlabberige Jeans und ein Sweatshirt trug, als sie am helllichten Tag an einem sicheren Ort angegriffen wurde, vergleichsweise privilegiert und glaubwürdiger erschien als andere Vergewaltigungsopfer, war Teil der Motivation, sich öffentlich als Vergewaltigungsopfer zu deklarieren und Motor für die Entstehung dieses Buches.

Susan Brison macht in ihrem Werk klar, dass sexuelle Gewalt nicht nur jene Frauen, die direkt angegriffen werden, schädigt, sondern alle Frauen. Die Furcht vor Vergewaltigung ist seit langem ein wirksames Mittel, um Frauen auf ihren Platz zu verweisen und ihnen jenes unbeschwerte Genießen zu versagen, das jeder Mann für sein Geburtsrecht hält.
Oder ist es einer aufgeklärten und fortschrittlichen Gesellschaft würdig, dass fünfzig Prozent aller Frauen nach Einbruch der Dunkelheit aus Angst vor einer Vergewaltigung niemals ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen?

Brison plädiert dafür, sich zur Wehr zu setzen. Im Rahmen ihres Aufarbeitungsprozesses erkennt sie, dass die einzige Möglichkeit, aus der doppelten Fessel von Selbstvorwürfen und Hilflosigkeit auszubrechen, darin besteht, stark zu werden - sowohl physisch als auch politisch.

Der Autorin gelingt es, die Auswirkungen eines Traumas aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten und die Diagnose "Posttraumatisches Stresssyndrom" in ihrer ganzen Tragweite zu verdeutlichen. Ein wichtiges oder vielleicht sogar das wichtigste Instrument für die Bewältigung des Traumas ist die Möglichkeit darüber zu berichten, gehört und vor allem ernst genommen zu werden.

Nach dieser Lektüre, die zugegebenermaßen wahnsinnig schmerzhaft ist, erscheint eines völlig klar: Es reicht nicht, die Existenz von Gewalt anzuerkennen, sondern es muss auch Klarheit darüber herrschen, dass die Welt, in der sie vorkommt, durchaus auch die eigene Welt sein kann.
Dieses Buch ist eine Aufforderung an alle Frauen zu lernen, den uns zustehenden Raum zu nehmen und uns zu verteidigen. Eine absolute Pflichtlektüre!

(Margarete; 07/2004)


Susan J. Brison: "Vergewaltigt. Ich und die Zeit danach. Trauma und Erinnerung"
(Originaltitel: "Aftermath. Violence and the Remaking of a Self")
Aus dem Englischen von Sigrid Langhaeuser.
C. H. Beck, 2004. 192 Seiten.
ISBN 3-406-52199-1.
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Susan J. Brison, Professorin für Philosophie, lehrt am Dartmouth College (USA) sowie an den Universitäten von New York und Princeton.