J.R.R. Tolkien: "Der Elbenstern"
Der Schmied von
Großholzingen
(Hörbuchrezension)
"Es gab einmal ein Dorf; für
Menschen mit gutem Gedächtnis, ist es nicht lange her, und für solche, die gut
ausschreiten können, nicht weit fort. Großholzingen hieß es."
Mit
diesen Worten lädt eine filmbekannte Stimme die Zuhörerschaft zur akustischen
Reise in einen abgeschiedenen Flecken von Mittelerde ein. Sie gehört Joachim
Höppner, besser bekannt als deutscher Synchronisator von Sir Ian McKellen alias
Gandalf im Herr-der-Ringe-Epos.
Die Mär verkündet: Großholzingen war auf
seine Weise ein bemerkenswertes Dorf, vor allem wegen der hohen
Kochkunst,
welche weithin Wertschätzung genoss. Nichts liebten die Dorfbewohner mehr als
ein gelungenes Mahl. Schmausen und Feiern war das Schönste im Leben der im
Alltag sonst strebsamen Leute. Das älteste und schönste Gebäude im Ort kannte
jeder als den Großen Saal. In diesem fand eine Vielzahl von Beratungen oder
Festivitäten statt. Auf ein Ereignis freuten die Großholzinger sich besonders,
da es im Winter stattfand, eine Woche lang. Aber nicht jeden Winter, nein, nur
alle 24 Jahre. Es hieß das "Fest der guten Kinder". 24 der Kleinen durften daran
teilnehmen. Dem Küchenmeister, der vielleicht angesehensten Person im Dorf, fiel
dafür die ehrenvolle Aufgabe zu, den Großen Kuchen zu backen. Je vortrefflicher
das süße Stück gelang, desto länger blieb der Name seines Schöpfers im
Gedächtnis der Großholzinger haften. Klar, dass jeder Küchenmeister Jahre der
Vorbereitung in Anspruch nahm, um ja nicht in aller Munde als Versager zu
gelten.
So war es zumindest gewesen, ehe der amtierende Küchenmeister,
ein ernster Mann, von heute auf morgen alle Präparationen abbrach und
unbekannten Orts auf Urlaub ging. Ganz Großholzingen rätselte; umso mehr noch,
als er beschwingt mit einem Lehrling zurückkam. Vom Aussehen her mochte dieser,
ein zierlicher kleiner Junge, gerade mal vierzehn Jahre auf dem Buckel haben.
Aufgrund seiner Geschicklichkeit wirkte er weit älter. Woher dieser Alf wohl
kam?
Drei Jahre später ging der Meister erneut auf Wanderschaft, diesmal
für unbestimmte Zeit. Er ließ seinen geheimnisvollen Gehilfen, den ob seiner
Statur im Dorf alle "Stift" nannten, zurück. Niemand dachte daran, den
Halbwüchsigen zum Koch zu ernennen, weshalb ein Anderer Küchenmeister wurde.
Bloß war dieser ein kulinarischer Kompositeur von leidlichem Mittelmaß, obgleich
von Ehrgeiz geleitet. Für das Fest der 24 ersann der neu gekürte Herr über
Töpfe, Tiegel und Pfannen einen Kuchen wie aus dem Märchenland. Süß und
schmackhaft sollte er sein, den Gaumen verlocken und gleichsam das Auge
verzücken. Auf seiner Kuppe - gehüllt in Rauschegewand - musste die zierliche
Figur der Königin aus dem Elbenland thronen. Natürlich oblag es den geschickten
Händen Alfs, die Elbenfrau samt Zauberszepter aus Zuckerguss zu fertigen. Auch
war es üblich, 24 Glücksbringer - für jedes Kind einen - in den Großen
Kuchen zu mischen.
"Einige fanden einen, andere zwei, manche keinen. Denn so geht es mit dem
Glück, ob auf dem Kuchen eine Puppe mit dem Zauberstab ist oder
nicht".
Zwischen
Gewürzen,
in einer alten schwarzen Kiste, fand Alf einen weiteren Talisman, einen
metallnen Stern, der angelaufenem Silber glich. Er mengte ihn als 25.
Glücksbringer dem Großen Kuchen bei. Doch welches Kind der 24 hatte ihn
geschluckt? Vorerst hielt der Stern sich verborgen, wartete bis seine Zeit
gekommen. Erst im Juni danach begann ein Junge an seinem zehnten Geburtstag
wunderbar laut und klar zu singen, wenngleich in unbekannter Sprache. Der Stern
- nun strahlend wie poliertes Edelmetall - fiel aus seinem Mund in seine Hand.
Voller Aufregung schlug der Bub das Zauberstück an die Stirn, wo es haften
blieb. In fremdartigem Glanz brachte der magische Stern die Augen des Kindes
fortan zum Strahlen. Und er verlieh dem Träger ein hohes Maß Geschicklichkeit in
der Schmiedekunst. Bald schon hieß es über den Knaben: "Er konnte Eisen in
Formen bringen, die leicht und zart aussahen - wie ein Hauch von Blättern und
Blüten -, aber sie bewahrten die strenge Kraft des Eisens oder schienen eher
noch härter."
Der schlaue Leser ahnt es bereits, das Zauberstück im
Großen Kuchen war ein Elbenstern, ein Utensil, das allerlei Talente verlieh und
den Zutritt ins Reich der Elben möglich machte. Wenigen Menschen auf Mittelerde
ward solch Geschenk gegönnt Der junge Mann, forthin als Schmied von
Großholzingen bekannt, machte gern vom Stern Gebrauch. Oft brach er an die
gefährlichen Gestade des Elbenvolks auf. Erst musste er die äußeren, später die
inneren Berge überwinden, schweren grauen Dunst durchschreiten, der Wut des
Windes trotzen oder einen See aus rotem Licht, härter als Stein und glatter als
Glas, überqueren. Doch: "Die kleineren Übel mied der Stern, und die großen
blieben ihm fern." So geschah es, dass der Schmied die Pracht des Baums der
Könige zu sehen bekam, einer weinenden Birke Trost zusprach und letztlich im Tal
von Immermorgen den Tanz mit einer wunderschönen Maid wagte.
24 Jahre
leistete der Stern ihm gute Dienste. Doch dann erschien ein Wanderer im Wald,
gehüllt in Kapuze, ganz in grün gewandet. Seine Stimme klang vertraut, aber auch
fremd und majestätisch ... Nun fing die Geschichte eigentlich erst an
...
J.R.R. Tolkien
verfasste "The Smith of Wootton Major" 1967, es war das Spätwerk eines
bereits kranken Mannes, dem aber immer noch die Freude am Fabulieren innewohnte.
Die Geschichte kann so oder so aufgenommen werden, als Märchen für Kinder oder
aber als erwachsenengerechte Parabel wider Hochmut und Überheblichkeit; der
"Elbenstern" als Symbol für die Einsicht, dass alles im Leben nur geliehen ist.
Tolkien liebte das Landleben, das gute Essen sogar noch mehr. Den Elben
hingegen bringt er in allen Erzählungen tiefen Respekt entgegen. Im "Schmied
von Großholzingen" kommt dies alles zum literarischen Ausdruck. Die
feiernden Dörfler erinnern an die unbekümmerten Hobbits vom Auenland, welche von
der "Welt draußen" wenig mitbekommen. Macht und Zauber der Elben rücken
Großholzingen hingegen nahe an William Shakespeares "Ein
Sommernachtstraum", wo Titania und Oberon der Geschicke Lenker
sind. Warten bis es dunkel wird, Kerzenlicht entzünden, den Rotwein im
Glas zum Atmen bringen, CD einlegen, die Imagination ins Reich der Elben
schicken - dann wirkt die Magie des "Elbensterns" vielleicht ganz von selbst
...
(lostlobo; 12/2004)
J.R.R. Tolkien: "Der
Elbenstern"
Der Audioverlag, 2003. Vollständige Lesung.
Sprecher:
Joachim Höppner.
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