Viktorija Tokarjewa: "Der Pianist"


Was tut der erfolgreiche Pianist Igor Nikolajewitsch Mesjazew, 48, dessen Alltagskulissen eine unscheinbare Frau, Irina, die "wie ein Hocker" ist, eine wunderschöne, mit dem finsteren Unsympathler Jurij verheiratete Tochter namens Anja, und ein Gedichte schreibender, drogensüchtiger Nichtsnutz von Sohn, Alik, darstellen?

Richtig, er tritt oft im Ausland auf, steht allerdings während jedes Fluges Todesängste aus und fühlt sich zunehmend als Sklave seiner Begabung. Überdies macht sich eine gewisse Leere in seinem Inneren breit. Seine Dolmetscherin wartet vergeblich darauf, dass sich Igor in sie verliebt. Igor jedoch liebt seine Familie, so wie man alten Gewohnheiten unweigerlich verbunden ist: leidenschaftslos, pflichtbewusst, abgestumpft. Von seinen zahlreichen Auslandsreisen bringt er stets Berge von Geschenken mit, doch diesmal ist alles anders: Als Igor daheim ankommt, ist die Nachbarin soeben verstorben, es herrscht gedrückte Stimmung, und seiner Frau passt der neue Nerzmantel "wie ein Sattel einer Kuh". Man spürt schon, dass sich etwas Unheilvolles anbahnt ...

Den gut gemeinten Rat seiner Frau befolgend, fährt der berühmte Pianist bald darauf in ein Sanatorium. Und was tut er dort? Von gelegentlichen Gewissensbissen geplagt, ruft er zuhause an, übt sich im Weg- bzw. Überhören, wenn es um die Probleme seines Sohnes geht, der sich in der elterlichen Wohnung Heroin spritzt. Eines Abends stolpert Igor regelrecht über eine schrille Frauensperson, deren geschminkte Lippen sein Begehren entflammen. Jelena Gennadijewna, genannt Ljulja, die sich ihm kurzerhand im Schnee hingibt, ist mehrfach geschieden, Mutter einer Tochter und - eine Nobelhure, was der in diesen Dingen erstaunlich unerfahrene Pianist - offenbar hat er auf seinen vielen Konzerttourneen Verzicht geübt? - entweder tatsächlich nicht sehen kann oder nicht wahrhaben will. (Aussagen wie "Schließlich hatte er noch nie eine Frau mit geschminkten Lippen geküsst" wirken doch wirklich ein wenig unglaubwürdig!)

Nach dieser schnellen Nummer in Gottes freier Natur ist natürlich nichts mehr, wie es vorher war. Igor fürchtet, Ljulja werde ihm nun nachstellen. Doch sie geht ihm - vorerst - aus dem Weg! Dafür verspürt der Familienmensch Igor Frühlingsgefühle, und das mitten im Dezember - er spürt sich leben, ist dieser Frau verfallen! Nun beginnen die üblichen Heimlichtuereien, die Lügen, der Selbstbetrug der Betrüger und der Betrogenen.

Das Rezept ist bekannt: Man nehme einen orientierungslosen Mann, der sich irgendwo in seiner Mittlebenskrise befindet, eine berechnende, freizügige Femme fatale, die den Mann um das letzte bisschen Verstand bringt, eine verletzte, aller Vernunft zum Trotz auf die Rückkehr des Gatten wartende Ehefrau (klischeehaft: Irina wird prompt zur Alkoholikerin und ergibt sich ganz der knechtenden Passivität), würze mit einer leidgeprüften Schwiegermutter, einigen intriganten Bekannten, einem tragischen Todesfall innerhalb der Familie, lasse das Ganze ein Jahr lang aufgehen und lüfte dann den Deckel: Die Leidenschaft ist verdunstet, die sexuelle Anziehungskraft verwelkt. Übriggeblieben sind ungelöste Fragen, Erinnerungen und Zweifel.

Außer der eben in kurzen Zügen umrissenen Erzählung "Der Pianist" ("Lavina") enthält der Band noch zwei weitere, nämlich "Kosmische Liebe" ("Anton, naden´ botinki") und "Löffelweise Kaviar" ("Zivi vmesto menja").

In "Kosmische Liebe" toben sich die frisch verwitwete Maskenbildnerin Lena, 44, und der verheiratete fünfzigjährige Trunkenbold, ebenso wehleidige wie eitle Weiberheld und Fotograf Jelissejew an- und miteinander in allerlei (nicht nur waagrechten) Stellungen aus, wobei jeder im Grunde das auslebt, was er/sie für die eigenen Bedürfnisse hält: "Aber das Leben, wenn es aus Liebe, Tod und Verbot besteht, ist nie sonderlich raffiniert. Raffiniert ist ein lasterhaftes Leben. Dort gibt es Sünde, Rache und Verwirrung der Seele." Dass der Satz "ich liebe dich" für beinahe jeden eine andere Bedeutung hat, ist nicht neu. Und so kommt es auch hier so, wie es kommen muss, wenn man Hals über Kopf in Urgewalten stürzt: Zwei Ertrinkende halten sich aneinander fest, was für Lena mit einem Selbstmordversuch, für den Hypochonder Jelissejew mit der kleinlauten Rückkehr zu seiner - an Kummer gewöhnten - Ehefrau, die er in Unterhaltungen großspurig als "toten Anker" bezeichnet, endet. Die kosmische Liebe, eine Flamme bis zu den Sternen, ist es wieder einmal nicht gewesen ...

In der dritten Erzählung erlebt ein 35-jähriger, arbeitsloser Schauspieler seine Verführbarkeit: Er antwortet auf ein Stellenangebot, das da lautet: "Mr. Sokolow sucht für Reise nach Russland einen Sekretär." Doch nicht einen Sekretär braucht der 83-jährige, gelähmte Milliardär Mr. Sokolow, sondern einen willigen jungen Mann, den zu brechen er beabsichtigt: "Ihn zwingen, all das zu tun, was er selbst schon nicht mehr konnte: essen, trinken, sich prügeln, sexuelle Ausschweifungen erleben. Er sollte an seiner Stelle leben. Und er, Sokolow, würde bei allem dabeisein. Wie ein Zuschauer im Theater." Dieses Vorhaben wird auch tatsächlich in allen unappetitlichen Einzelheiten in die Tat umgesetzt; Flucht- und Gegenwehrversuchen seitens des jungen Mannes, der zu spät erkennt, auf welche Art von Pakt er sich eingelassen hat, ist vorerst kein Erfolg beschieden. Diese Erzählung ist die meines Erachtens tiefgründigste der drei, zeigt sie doch Ansätze einer charakterlichen Entwicklung der Hauptfigur. Daher ist das Ende in diesem Fall als durchaus gelungen zu bezeichnen.

Zusammenfassend ist festzuhalten:
Der Erzählstil ist reserviert, beobachtend, distanziert und - es sei mir der Ausdruck gestattet - auffallend unweiblich. Gelegentlich spürt man zwar in Ansätzen die Absicht der Autorin, das Innere ihrer Figuren zu ergründen, doch erreichen diese Bemühungen kaum jemals wirklich intensive Bereiche. Die - alles in allem leider recht klischeehaften, flachen - Geschichten bleiben ohne einprägsame Schlussfolgerungen, ohne Überraschungen, ohne Zukunftsperspektive - sie enden im Graubereich zwischen Möglichkeiten (der Autorin / der von ihr geschaffenen Charaktere) und Erwartungen (des Lesers), und es wäre ein interessantes Unterfangen, die Schriftstellerin zu fragen, warum sie allem Anschein nach mit ganzer Kraft dagegen ankämpft, dass ihre Figuren Eigenleben entwickeln, weshalb sie die Intensität scheut und mit Beschreibungen tausendfach gelebter Szenen vorliebnimmt. Dazu kommen auch etliche Binsenweisheiten (z.B. "Nüchtern hatte er begriffen, dass er es leid war, zwei Leben zu leben. Eine Ehe ohne Gefühle. Und Gefühle ohne Ehe. Zwei Leben, das ist im Grunde gar keins") sowie einige weniger glücklich gewählte Vergleiche, welche der beabsichtigten Leichtigkeit entgegen wirken, wie: "Er brauchte eine Frau, um neben ihr einzuschlafen. Allein war es so unheimlich ... Wie vor der Erschießung" - (woher will man das wissen?) -, "Die Regisseurin Nora Babajan war immer angespannt und in Sorge, als stünde ihr am nächsten Tag eine Abtreibung bevor" - (dies bleibt übrigens ohne weitere Erläuterungen), "Wie kalt seine Stirn gewesen war, als sie sich voneinander verabschiedet hatten. Kalt und hart. Wie ein Huhn aus dem Gefrierschrank. Das war schon nicht mehr Andrej" (der freilich zu diesem Zeitpunkt aufgebahrt im Sarg lag ...).

Die Männer in Tokarjewas Erzählungen sind zuallererst Kind-Männer, zarte Genies, die jammern, gelobt werden wollen, sich gehenlassen, in jeder Partnerin eine Mutterfigur, und bei dieser den erlösenden Orgasmus suchen, und schlussendlich weder sich selbst, geschweigedenn eine erfüllende Partnerschaft finden. Auch die weiblichen Gestalten wirken zumeist erschreckend eindimensional, indem sie überwunden geglaubte klassische Vorlagen (Heilige und Hure) imitieren, sich hingeben, opfern. Umso erstaunlicher finde ich in diesem Zusammenhang das auf dem Bucheinband abgedruckte Zitat von Alice Schwarzer: "Ich habe ihre so schaurig-wahren, mitreißend komischen Geschichten mit höchstem Genuss gelesen." Wer vermag schon das Verharren in Erniedrigung, sei es nun agierend oder duldend, "mitreißend komisch" zu finden?

Aber vielleicht ist auch nur der Rezensent vom geistreichen Schaffen anderer junger Russen zu verwöhnt und misst Viktorija Tokarjewa an Schöpfern außergewöhnlicher zeitgenössischer Literatur wie Viktor Pelewin oder Wladimir Kaminer?!

(S. Gabriel)


Viktorija Tokarjewa: "Der Pianist. Und andere Erzählungen"
Aus dem Russischen von Angelika Schneider.
Diogenes. 176 Seiten.
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Zwei weitere Bücher der Autorin:

"Meine Männer"
zur Rezension ...

"Eine von vielen"
"Sängerinnen gibt es wie Sand am Meer. Du bist nur eine von vielen." Obwohl kein Musikproduzent daran glaubt, dass Angela es in Moskau schaffen könnte, bringt sie es weit. Denn Karriere macht man mit Hilfe von Beziehungen. Und da Angela eine hübsche junge Frau ist, fällt es ihr nicht schwer, Kontakte zu knüpfen. Zum Beispiel zum schwerreichen und verheirateten Nikolaj. Zäh und unbeirrbar verfolgt Angela ihren Traum - doch als ihr alle Möglichkeiten offenstehen, merkt sie, dass das Glück ganz anders aussieht, als sie es sich vorgestellt hat ... (Diogenes)
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