Erik Tarloff: "Die Verlockung"
Die Handlung des Romans ist einfach. Der begabte sympathische Benjamin (Ben)
Krause mausert sich im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zum Redenschreiber
des frisch gewählten Präsidenten "Chuck" Sheffield. Seine Reden finden
immer größere Anerkennung, was seine "face-time", die begehrteste Währung
in Washington, schnell erhöht. Mit "face-time", so auch der Titel der
Originalausgabe, bezeichnet man die Zeit in unmittelbarer Nähe des Präsidenten.
Privat lebt Ben in Liebe und Harmonie mit Gretchen, einer untergeordneten Angestellten
im Weißen Haus. Getrübt wird das private und berufliche Glück, als Ben gewahr
wird, dass der Präsident und Gretchen ein Verhältnis miteinander haben. Es zieht
sich über Monate hin - bis zu Bens moralischem (?) Befreiungsschlag. Er kündigt
seinen Vertrag, verzichtet damit auf seine Karriere und alle gesellschaftlichen
Weihen der Hauptstadt und trennt sich von Gretchen.
Eine schwere Last scheint
von allen Beteiligten genommen, einschließlich des Präsidenten, doch der Katzenjammer
folgt auf dem Fuße. Allen wäre es am liebsten, sie wären der Verlockung nicht
zum Opfer gefallen, doch ist das Vorgefallene nicht ungeschehen zu machen. Das
aber ist gleichzeitig die Chance für einen neuen Anfang .
Die Zeit heilt alle
Wunden? Die erste Begegnung zwischen Ben und Gretchen nach der Trennung scheint
das anzudeuten. Der Traum ist schal geworden, der Alptraum beendet
und das Verständnis für das Fehlverhalten des jeweils anderen scheint gewachsen.
"Ruf mich morgen an. Ich bin den ganzen Tag zu Haus und warte am Telefon."
"Aber ich habe doch deine Telefonnummer gar nicht!"
"Die steht
im Telefonbuch." Sie lachte. "Du weißt doch, wie es ist... Nobodies
brauchen keine Geheimnummern." (S. 236)
Kein
Roman für Voyeure, das sei gleich vorausgeschickt. Einzelheiten der Liaison zwischen
Gretchen und dem Präsidenten werden nicht preisgegeben. Der Leser weiß nie mehr
als das, was Ben als Ich-Erzähler mutmaßt oder herausfindet. Für Ben, der selber
in Paris bei der ersten flüchtigen Begegnung mit einer nicht einmal attraktiven
Journalistin schwach wird, bricht eine Welt zusammen, als er hinter Gretchens
Geheimnis kommt, das sie vergeblich zu hüten glaubte in der irrigen Annahme, das
Verhältnis mit "Chuck" habe gar nichts mit ihrer Liebe zu Ben zu tun
und könne diese Liebe auch gar nicht beschädigen.
Bens Darstellung und subjektive
Analysen offenbaren minutiös den Zerfall eines von
Eifersucht zerfressen werdenden
Menschen und die unausweichliche Entfremdung zweier Liebender. Ein Eifersuchtsdrama?
Viel mehr. Die Motive sind bei allen vielschichtig und miteinander verknäuelt.
Alle haben schnell Argumente für ihr Handeln oder Nichthandeln parat, doch letztlich
bleibt sich jeder selbst ein Rätsel. Der Schlüssel zum Verständnis
liegt in der Verlockung der
Macht. Sie übt, auf unterschiedlichen Ebenen, eine
unwiderstehliche Anziehungskraft auf die aus, die die Gelegenheit erhalten, an
ihr teilzuhaben. Der Präsident missbraucht sie, indem er Frauen im Weißen
Haus zu seinem Spielzeug macht, vorzugsweise verheiratete, weil das sein Machtgefühl
über andere noch steigert; Ben aus uneingestandener Eitelkeit und Gretchen aus
lange unterdrücktem Neid auf den beruflichen Erfolg Bens. Ist Bens Waffe seine
geschliffene Feder, so Gretchens Waffe ihre natürliche Weiblichkeit.
Beiden
gemeinsam ist, dass sie, um im Zentrum der Macht bleiben zu können, die Dinge
treiben lassen und Entscheidungen hinauszögern. Alles bleibt in der Schwebe, was
die Leiden nur verschlimmert.
Der Autor versteht es meisterhaft, die Personen
als ein Gemisch von guten und hässlichen Absichten und Eigenschaften darzustellen.
Das gilt auch für den Präsidenten, der sich bis zuletzt freundschaftlich-väterlich
um Bens Verständnis und Verbleib im Weißen Haus bemüht.
Es ist kein handlungsstarker
Roman, aber er vibriert geradezu vor innerer Spannung, die der Erzähler dadurch
erzeugt, dass er den Leser einbezieht in die Hölle der widersprüchlichsten Gefühle,
durch die er selber geht. Die Menschen sind eingesperrt in den Käfig ihrer Emotionen,
Konventionen und Werturteile und lange Zeit nicht dazu in der Lage, sich daraus
zu befreien. Das Rütteln an den Stäben überträgt sich auf den Leser, doch er weiß
bis zum Schluss nicht, ob der Ausbruch gelingt oder nicht.
Nicht der Ich-Erzähler,
sondern Gretchen zieht die größte Aufmerksamkeit auf sich. Der Name der
Geliebten
Fausts ist nicht zufällig gewählt. Gretchen ist die lebendige Verkörperung
der unantastbaren Unschuld wie der weiblichen Verlockung, die vollkommene Vereinigung
von Körper, Seele und Geist. Das spricht sie frei von Schuld.
"Ich hatte
die Frau fürs Leben gefunden. Sie verkörperte alles, was ich seit Jahren gesucht
hatte. Sie weckte Respekt, Interesse, grenzenlose Zärtlichkeit und unkontrollierbare
Lust." (S. 32)
Eine Frau, die dem Präsidenten der mächtigsten Nation
der Welt nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen ist, denn ihre Anziehungskraft
ist naturgegeben, seine qua Amt verliehen. Und Ben? Ein Hans im Glück, der sich
von einer solchen Frau geliebt weiß, obwohl er sie kaum verdient.
Mehr noch
als an der Verletzung dieses idealen Frauenbildes durch die Einlassung mit dem
Präsidenten leidet Ben darunter, dass die Unschuld und Reinheit dieser ihm so
vielfach überlegenen Frau durch keinen Seitensprung beschmutzt werden kann.
Tarloff ist mit Gretchen eine großartige Frauenfigur gelungen. Dass dieser Eindruck
erzeugt und trotz aller Geschehnisse nicht getrübt wird, obwohl Gretchen nur aus
Bens Perspektive heraus beschrieben wird, der allen Grund hat sie zu verachten
und zu hassen, ist ein wunderschönes indirektes Liebesgeständnis Bens. So ist
der Leser denn auch regelrecht erleichtert, dass zwei Menschen, die füreinander
bestimmt zu sein scheinen, am Ende wieder zueinander finden.
Erwähnt werden
muss noch, dass die Detailkenntnisse des Autors des gesellschaftlichen Lebens
(und Sterbens) im Weißen Haus und in Washington nicht unwesentlich zur atmosphärischen
Dichte und Authentizität des Romans beitragen.
Tarloff,
ehemaliger Redenschreiber
Bill Clintons, weiß, worüber er schreibt, und er hat
sein Wissen zu einem erstklassigen Roman verarbeitet, der den Leser in Abgründe
und Paradiese von Seelen im Umfeld der Macht gleichzeitig blicken
lässt.
Erik
Tarloff: "Die Verlockung"
dtv premium 24316,
236 Seiten,
ISBN 3-423-24316-3
ca. EUR
14,50.
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