Dag Solstad: "Scham und Würde"


Dag Solstad ist ein in Norwegen sehr angesehener, im deutschen Sprachraum jedoch noch ziemlich unbekannter Schriftsteller, der in seinem Heimatland seit einigen Jahren sogar schon mit dem Literaturnobelpreis in Verbindung gebracht wird.

In diesem kleinen Roman, den der Dörlemann Verlag in schöner Aufmachung publiziert und den Ina Kronenberger in sehr genauer und sensibler Weise übersetzt hat, erzählt Solstad die Geschichte eines Mannes, der eigentlich nie wirklich in seinem Leben ankommt. Ein Mann, der vor lauter Reflexion über das, was um ihn herum passiert, große Schwierigkeiten hat, daran teilzunehmen, und der deshalb mehr und mehr innerlich und auch intellektuell vereinsamt.

In der Rahmenhandlung, mit der Solstad das Buch anfangen und enden lässt, beschreibt er einen Tag im Leben des Studienrats Elias Rukla. Es ist ein verregneter Montagvormittag, und er nimmt mit einer Norwegischklasse Henrik Ibsens Drama "Die Wildente" durch. Die Schüler sind am Thema des Unterrichts nicht interessiert, und Elias Rukla weiß, "dass er bei seinen Schülern im Grunde als Lehrer unerwünscht war, was ihn an und für sich nicht mehr schmerzte als eine normale Traurigkeit, die alle kennen, die sich irgendwo nicht recht willkommen fühlen."
Er will seinen Schülern einfach nur klassische Bildung beibringen, weil er sie für wichtig hält (oder macht er sich das nur selbst vor?), aber er weiß genau, dass er damit scheitert. Nur weil seine Schüler ihn gnädig dulden, kann er überhaupt vom Pult aus über irgendwelche Nebenfiguren des Dramas dozieren, über die er angeblich Richtungsweisendes herausgefunden zu haben glaubt. Frustriert geht Elias nach Hause, wie schon Tausende Tage vorher. Es regnet, und er will im Schulhof seinen Regenschirm öffnen, doch der funktioniert nicht so, wie er will. Eine wachsende Zahl von neugierigen und feixenden Schülern versammelt sich um ihn herum, um dem Schauspiel des mit dem Schirm kämpfenden und immer wütender werdenden Lehrers zuzuschauen. Und da explodiert in einer Sekunde Ruklas ganzes Leben: er beschimpft die Schüler auf das Übelste und macht sich auf den Weg nach Hause, wo seine Frau auf ihn wartet. Und während er Umweg über Umweg läuft, denn er hat Angst vor der schrecklichen Wahrheit, dass mit diesem Eklat nun sein berufliches aber auch privates Leben an ein Ende gekommen ist, während er läuft und läuft, immer wieder nach einer Kneipe Ausschau hält, wo er seine tägliche Ration Alkohol zu sich nehmen könnte, versinkt er vor Scham über seine verlorene Würde.
Während Dag Solstad in einer großen Rückblende die Vorgeschichte Elias Ruklas erzählt, wird mehr und mehr deutlich, dass dieser seine Würde nicht erst auf dem Schulhof verloren hat.

Elias freundet sich während des Studiums mit dem Philosophiestudenten Johan Corneliussen und dessen späterer Frau Eva Linde, einer wunderschönen Frau, an. Die beiden Studenten verbringen viel Zeit mit Trinken und intensiven Gesprächen. Immer aber ist es Elias, der quasi hinterherhinkt, sowohl beim Trinken als auch bei der Philosophie.
Nach sieben Jahren, Elias arbeitet schon längst als Lehrer, verlässt Johan seine Frau und seine sechsjährige Tochter und gibt beide seinem Freund Elias in dessen Obhut. Der nimmt den Auftrag an, kauft sich eine größere Wohnung, Eva zieht mit Tochter dort ein, und zwei Jahre später heiraten sie. Elias weiß nie, ob sie ihn auch wirklich liebt, er macht sich viele Gedanken darum, aber er fragt sie nie. Er ist zufrieden damit, dass wieder einmal ein Anderer sein Leben bestimmt hat. Er geht seiner Arbeit nach, ist nicht wirklich unglücklich, doch bald spürt er sein Leben flacher werden. Und auch seine Umgebung widert ihn an: " Er war zutiefst getroffen, wenn die Zeitungen und das Fernsehen sich anscheinend nicht länger an ihn und diejenigen, die wie er waren, richteten. Es schien, als würden sich jene, die die Herolde der Gesellschaft waren, überhaupt nicht für ihn interessieren. Ganz im Gegenteil, es kam ihm vor, als würden sie demonstrativ an ihm vorbeischauen, fast so, als hätten sie gar eine besondere Freude daran. Er war wie Luft für sie, und das fand Elias Rukla zutiefst verletzend."

Auch im Freundeskreis und im persönlichen Umgang mit anderen Menschen verstummt er mehr und mehr: "Er hatte nichts mehr zu sagen, und es sah auch nicht so aus, als hätten andere in seinem Freundeskreis oder seiner kulturellen Schicht noch etwas zu sagen. Es schien, als interessierte es niemanden mehr, ein Gespräch zu führen. Sich richtig zu unterhalten, sich zusammen um eine Erkenntnis von persönlichem und gesellschaftlichem Charakter zu bemühen, und sei es nur um den Hauch einer momentanen Erkenntnis willen. Elias Rukla musste, was seine Person betraf, einräumen, dass er dazu nicht länger imstande war, er konnte schlicht und einfach nicht mehr reden."
Statt einen Kollegen, der ihn interessiert, einzuladen, findet er tage- und wochenlang Gründe vor sich selbst, warum dieser die Einladung ablehnen würde.

Elias Rukla konstatiert, dass auch die Schönheit seiner Frau verflogen ist, doch er belässt es dabei und sieht hilflos zu, wie sich seine Frau ein neues Leben aufbaut, mit 47 Jahren beginnt, Sozialarbeit zu studieren und sich in der Drogenhilfe engagiert.

All diese Gedanken innerlich notierend lässt Solstad Elias Rukla sich voller Scham über seine verlorene Würde seinem Zuhause nähern und zieht als Fazit: "Das heißt ja, dass es jetzt aus ist, dachte er. Wie schrecklich, aber es gibt keinen Weg zurück."

Ein sprachlich hochstehender Roman eines Schriftstellers, dessen Entdeckung im deutschsprachigen Raum erst noch bevorsteht. Dem Dörlemann Verlag ist für sein Engagement für diesen Autor zu danken.

(Winfried Stanzick; 04/2007)


Dag Solstad: "Scham und Würde"
(Originaltitel "Genanse og verdighet")
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag, 2007. 207 Seiten.
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Dag Solstad wurde am 16. Juli 1941 in Sandefjord geboren. Er debütierte 1965 mit dem Erzählband "Spiraler" (dt. "Spiralen") und gehört seither zur ersten Garde norwegischer Schriftsteller. Er hat zahlreiche Romane, Artikel, Essays und zusammen mit Jon Michelet fünf Bücher über Fußball herausgegeben. Dag Solstad hat als einziger Autor bereits dreimal den norwegischen Kritikerpreis erhalten. Er gilt als einer der Nobelpreiskandidaten aus Skandinavien. Bereits erschienen: "Elfter Roman, achtzehntes Buch" (Roman, 2004) und "Professor Andersens Nacht" (Roman, 2005):

"Professor Andersens Nacht"
Alle Jahre wieder zelebriert Pål Andersen, Professor für Literatur, mit großem Vergnügen und "kindlicher Einfalt" die Heilige Nacht. Er kleidet sich festlich, kocht das traditionelle Weihnachtsessen, um dann alleine zu speisen. Ein erwachsener Mann Mitte fünfzig mit einem intakten kindlichen Gemüt. Er erfreut sich an den erleuchteten Fenstern seiner Nachbarn, die sich alle zum selben Ritual um den Weihnachtsbaum versammeln. Die stille Nacht des Professor Andersen findet ein abruptes Ende, als er im Fenster gegenüber den Mord an einer jungen Frau beobachtet.
"Professor Andersens Nacht" beginnt als klassischer Kriminalroman ... Dag Solstad lockt seinen Leser in die finstersten Winkel der menschlichen Seele. (Dörlemann Verlag)
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"Elfter Roman, achtzehntes Buch"
Eines Morgens Ende August steht Bjørn Hansen am Kongsberger Bahnhof und wartet auf seinen Sohn. Er ist fünfzig, und es ist vier Jahre her, seit er Turid Lammers verlassen hat, die Frau, für die er einst Frau und Kind sitzen ließ und nach Kongsberg zog, um "dem Traum vom gestohlenen Glück" nachzulaufen. Doch auch die Begegnung mit dem Sohn kann Bjørn Hansens Dasein nicht mit Inhalt füllen, und aus Protest gegen das Leben entwickelt er einen Plan, mit dem er sein großes Nein verwirklichen will.
"Elfter Roman, achtzehntes Buch" würde auch Bjørn Hansen gerne lesen, "ein Roman, der zeigt, dass das Leben unmöglich ist". Ein tiefgehender existenzieller Roman, der konzentriert und kompromisslos alle zentralen Themen Solstads aufgreift: Mit messerscharfer Präzision, subtilem Humor und im mahlenden Stil Prousts schildert Solstad das Gefühl des Intellektuellen, ausgegrenzt zu sein. Bjørn Hansen - dem Stadtkämmerer - wird die Gesellschaft immer oberflächlicher und unverständlicher. (Dörlemann Verlag)
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"T. Singer" zur Rezension ...

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