Bernhard Sinkel: "Bluff"
Ein Thriller, der uns ein Stück Geschichte erfahren lässt
Bernhard
Sinkels Thriller "Bluff" erzählt dem Leser eine spannende Geschichte und lässt
ihn gleichzeitig ein Stück Geschichte erleben.
Raoul Levkowitz wächst
in
der DDR auf und fällt schon bald durch seine eidetischen Fähigkeiten auf.
Zusammen mit seinem Großvater tritt er auf verschiedenen Bühnen auf und
beeindruckt das Publikum damit, dass er nach nur kurzem Hinsehen zu jeder
Sitzplatznummer die passende Person aus dem Gedächtnis beschreiben kann. Eines
Abends kommt der hochrangige Stasioffizier Kasunke in die Vorstellung, der den
Jungen gegen den Willen seines Großvaters mit sich nimmt und grausame
Untersuchungen an ihm durchführt. Als Raouls Mutter ihren völlig verängstigten
Sohn abholt, wird sie von Kasunke bedroht. Und schon bald werden die Drohungen
Realität. Die Mutter wird verhaftet, Raoul kommt in ein Kinderheim, von wo aus
er in Kasunkes Obhut übergeben wird. Was genau dieser mit dem Jungen macht, wird
dem Leser nicht beschrieben, aber allein die Vorstellungen sind schrecklich
genug. Der Offizier erzählt dem Kind, dass seine Mutter ohne ihn in den Westen
geflohen sei. Erst nach der Wende erfährt er von seinem Großvater die Wahrheit.
Seine Mutter beging, als man sie ohne ihren Sohn in den Westen abschieben
wollte, Selbstmord.
Raoul arbeitet als Sportjournalist, als er von der ehemaligen DDR-Sportlerin
Tatjana angerufen wird, die ihm ihre Hilfe anbietet um sich an Kasunke zu rächen.
Es stellt sich heraus, dass sie schon als junges Mädchen im Alter von 13 Jahren
Kasunkes Geliebte war und für ihn als Spitzel gearbeitet hat. Raoul verliebt
sich in Tatjana und bemerkt viel zu spät, dass er in eine grausame Falle tappt,
aus der es beinahe kein Entrinnen mehr für ihn gibt. Tatjana wird von Kasunke
getötet. Und auch Raouls Leben ist in höchster Gefahr. Alles scheint sich um
eine Liste von ehemaligen Spitzeln und Doppelagenten zu drehen, die Raoul auswendig
lernen musste, und die Kasunke nun im Gegenzug für eine neue Identität an die
CIA verkaufen will. Raoul kann diese Pläne durchkreuzen und die Liste vorerst
zerstören. Doch in seinem Gedächtnis bleibt sie unauslöschlich gespeichert.
Um seine Rache zu vollenden reist er schließlich in die USA, wohin auch sein
ehemaliger Peiniger geflohen ist. Auf dem Flug nach Phoenix lernt er die junge
Sportpilotin Dorothy kennen und verliebt sich in sie. Und Dorothy ist es schließlich
auch, die Raoul hilft, auf unerwartete Art und Weise Rache zu nehmen und mit
der Vergangenheit abzuschließen.
"Bluff" endet in einem unglaublich spannenden und
schnellen Showdown, bei dem der Leser bis zu letzten Sekunde mit Raoul Levkowitz
mitzittert und hofft.
Bernhard Sinkel ist es gelungen, mit einem äußerst spannenden Thriller ein Stück
traurige Zeitgeschichte Deutschlands
zu erzählen. Denn es gab sie wirklich, die Spitzel und Doppelagenten, die für
das System, das sich schon zum Zeitpunkt seines Beginns selbst überlebt hatte,
oftmals ihre eigenen Freunde aushorchten und verrieten. Dass viele Spitzel keine
andere Wahl hatten und oft vom Regime erpresst wurden, verschweigt uns Sinkel
genausowenig, wie das Schicksal der Opfer, von denen viele heute noch leben
und oftmals auch noch immer leiden.
Der Autor lässt den Leser in die zutiefst verletzte
Seele eines Kindes blicken, das von einem skrupellosen Offizier geopfert wurde.
Aus dem Kind wird im Laufe der Geschichte ein Mann, der den ihm zugefügten
Schmerz im wahrsten Sinne des Wortes nicht vergessen kann. Jeder von uns hat
sich wahrscheinlich schon des Öfteren ein besseres Gedächtnis gewünscht, doch je
mehr man im Laufe der Geschichte über Raoul Levkowitz erfährt, desto besser
versteht man auch die tragische Seite eines fotografischen Gedächtnisses und
erkennt, dass das Vergessen manchmal die einzige Möglichkeit ist, zu
überleben.
Sinkels Art und Weise, die Geschichte zu erzählen hat mich sehr beeindruckt.
Gekonnt wechselt er in relativ hohem Tempo zwischen den einzelnen Stationen
in Raouls Leben hin und her. Durch Erzählungen von Raoul und Träume, die er
immer wieder durchlebt, werden dem Leser die vergangenen Passagen aus dessen
Geschichte erzählt. Andere Teile von "Bluff" erlebt der Leser aus der Sicht
von Kasunke und der CIA. Er ist Raoul
und Dorothy so oftmals ein Stück voraus und weiß, was geplant wird, und in welche
Falle die Beiden tappen werden. Dadurch wird man zum Weiterlesen geradezu gezwungen.
Man will wissen, wie alles endet, und hofft und bangt bis hin zum überraschenden
Schluss.
"Bluff"
ist ein Thriller, wie man ihn sich wünscht. Schnell, spannend und mitreißend,
und trotzdem bietet er mehr als nur Unterhaltung. Er hilft uns Geschichte zu
erleben und zu begreifen.
Denn wir sind diejenigen, die manches nicht
vergessen dürfen, um es in Zukunft zu verhindern. Auch wenn wir uns oftmals
wünschen, unvorstellbare Grausamkeiten allein durch unser Vergessen ungeschehen
machen zu können.
(Anna Mehlmann; 11/2003)
Bernhard Sinkel: "Bluff"
dtv,
2003. 280 Seiten.
ISBN 3-423-24373-2.
ca. EUR 14,50.
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Leseprobe:
Die Flammen lodern zum letzten Mal auf, wehren
sich erbittert gegen den Schwall aus den Löschkanonen, züngeln violett und
blaugrün wie Irrlichter auf verkohlten Balken und sinken schließlich in der
aufwärts spritzenden Wasserkanonade in sich zusammen. Die Scheinwerfer, die den
Tatort die ganze Nacht über in taghelles Licht getaucht haben, gehen aus. Das
trübe Dämmerlicht, das sich über das abgebrannte Haus und den verwüsteten Garten
breitet, birgt nur noch eine schwache Erinnerung an das Spektakel der
vergangenen Nacht.
Er reißt die Augen auf gegen den Schlaf, der ihn zu
übermannen droht, und stampft mit den Füßen auf den gefrorenen Boden. Aus seinem
Versteck heraus, einem lattenverstärkten Schuppen, hatte er die Löscharbeiten
gut beobachten können. Ihre roten und blauen Einsatzlichter huschten über sein
russbeschmiertes Gesicht und die pechfarben schimmernden Hände.
Löschzüge
und Einsatzwagen rücken ab. Feuerwehrmänner rollen ihre Schläuche auf. Auch die
Gaffer haben sich zerstreut und sind wieder zurückgekrochen in ihre wärmenden
Federbetten. Eine gespenstische Ruhe kehrt ein. Nur einmal noch, beim Einbiegen
der Kolonne auf die Landstraße, heult ein einzelnes Martinshorn. Dann ist es
still.
Vorsichtig verlässt er sein Versteck. Er muss noch einmal zurück in
das ausgebrannte Haus, das ihm fast zur tödlichen Falle geworden wäre. Ein
beißender Brandgeruch liegt in der Luft. Es stinkt nach Chemikalien und billigen
Kunststoffen. Auf allen vieren schlüpft er durch das Loch im Drahtzaun, das er
schon als Junge in den Sommerferien benutzt hatte, hält sich im Schatten der
Büsche, um hinter dem dicken Stamm eines Nussbaums in Deckung zu gehen. Das
Feuer hat den Schnee im Garten geschmolzen. Auf der Wiese, die die Wassermassen
der Löscharbeiten kaum noch fassen konnte, sammeln sich russschwarze Teiche.
Angekohlte Pfosten ragen in den grauen Winterhimmel. Das Dach ist eingestürzt.
Schwefelfarbene Wattebäusche quellen aus dem ausgebrannten Haus.
Im
oberen Stockwerk hat die Explosion den größten Schaden angerichtet. Der Raum, in
dem früher sein Bett stand, ist so gut wie weg. Heizungsrohre und Installationen
hängen aus den Resten der aufgerissenen Wände.
Langsam wird es hell.
Seine Augen brennen vor Müdigkeit. Der Himmel über der Schorfheide färbt sich
violett, mit Wolken voller Schnee. Er will gerade seine Deckung verlassen, da
hört er Stimmen.
"Genauso haben sie es im Kosovo gemacht: Propangasflasche,
Kerze an und poff!"
"Du meinst, jemand hatte es auf Kasunke
abgesehen?"
"Würde mich nicht wundern, wenn wir hier seine verkohlte Leiche
finden."
Zwei Zivilbeamte der Spurensicherung ziehen ihr weißrot
gestreiftes Plastikband ums Haus, steuern damit direkt auf den Nussbaum zu.
Raoul duckt sich. Einer der beiden Männer lacht.
"From Moscow with love! Halt
mal."
Sie schlingen das Absperrband einmal um den Stamm und entfernen
sich damit wieder Richtung Haus.
"Kommt davon, wenn man zu oft die Seiten
wechselt!" Raoul wartet, bis sie in ihren Streifenwagen vor dem Gartentor
eingestiegen und abgefahren sind. Dann löst er sich aus seiner Deckung und
huscht über den Rasen. Eine kleine Steintreppe führt hinunter zum Kellereingang.
Zersplittertes Glas knirscht unter seinen Sohlen.
Das Haus glüht. Eine
unglaubliche Hitze empfängt ihn. Warme Wasserbäche rinnen an den Wänden herunter
Vorsichtig steigt er die Kellertreppe hinauf in die ehemalige Diele. Um ihn
herum ein Flüstern und Wispern, Knacken und Rauschen von angekohltem Holz und
das Glucksen, Tröpfeln und Plätschern des Löschwassers wie in einer
Tropfsteinhöhle.
Hier irgendwo muss er die Blechmarke verloren haben. Er
schiebt mit den Schuhen den schlammigen Brandschutt zur Seite. Ätzende
Rauchschwaden treiben ihm die
Tränen in die Augen. Er presst den Arm vor Nase
und Mund und steigt über sein Kinderbett; das durch die Decke in den Flur
gestürzt ist. Der Boden unter seinen Sohlen ist warm wie eine
Herdplatte.
Im Arbeitszimmer haben Explosion und
Feuer den geringsten
Schaden angerichtet. Unter der Decke wabern Rauchschleier Er presst die Lippen
aufeinander, um nicht zu husten. Die Bücher in den Regalen sind vom Löschwasser
aufgequollen. Inmitten des Chaos steht das Videogerät scheinbar unversehrt neben
dem zertrümmerten Fernsehapparat.
Raoul verpasst ihm einen gezielten
Tritt. Er reißt das Videotape aus der Kassette und hält es in die Glut eines
Balkens, bis es zu einem übelriechenden Plastikklumpen verschmort ist. Das war
er Tatjana schuldig.
Er bückt sich, wühlt in dem Gipsschlamm und der
nassen Asche an der Stelle, wo Kasunke ihn angekettet hatte. Endlich findet er
sie: Kasunkes NVA-Erkennungsmarke.
Triumphierend ballt er die Hand um das
glühendheiße Stück Metall. Er spürt nicht, wie es sich in seine Handfläche
brennt. In ihm ist alles wie abgestorben. Er fühlt keinen Schmerz. Nur Trauer,
Wut und das unbändige Verlangen nach Rache.