Will Self: "Wie Tote leben"
"Nach Davids Geburt 1948 war
ich klaustrophobisch, nach Charlottes Geburt zehn Jahre später war ich agoraphobisch.
Aber nach Nataschas Geburt 1961 konnte ich weder drinnen noch draußen sein. So
stand ich mit dem Baby im Arm in der Hintertür und schwankte zwischen den schrecklichen
Nichtalternativen. Ich schätze, das ist das einzig Gute, was man übers Sterben
sagen kann: Es fasst all diese irrationalen Ängste zusammen und übertrumpft sie
lässig mit der ganz großen. Keine Einsätze mehr. Rien ne va plus."
Lily Bloom,
die Hauptdarstellerin dieses Romans ist 66 Jahre alt und leidet an Krebs im fortgeschrittenen
Stadium. Vorerst wird sie von den beiden Töchtern und Personal in ihrer Wohnung
gepflegt, doch als sie immer schwächer wird, wird sie ins Krankenhaus verlegt,
wo sie, vollgepumpt mit Morphium, ihr Leben Revue passieren lässt. Völlig verbittert
zieht sie Bilanz über ihre beiden Ehen und die drei Kinder, die sie geboren hat.
David kam durch einen Unfall zu Tode, und die beiden Mädchen aus der zweiten Ehe
haben sich keinesfalls zur Zufriedenheit der Mutter entwickelt.
Natasha ist zu
einem verkommenen Junkie und Charlotte eine spießige Hausfrau geworden. Selbst
mit dem nahen Tod konfrontiert, schafft es Lily Bloom nicht, sich mit dem Leben
und ihrer Familie auszusöhnen. Ihr Hass und Sarkasmus erscheinen grenzenlos, und
es bleibt nicht genügend Zeit, diese Gefühle auszuleben. Im Krankenzimmer wartet
geduldig ein australischer Aborigine, der sie nach ihrem Tod über
den Styx geleiten wird, was Lily Bloom vorerst für eine Fantasie hält.
Doch die Überraschung ist groß, als das Leben nach dem Tod tatsächlich
weitergeht. Gemeinsam mit dem Aborigine Phar Lap, ihrem Todesführer, wird sie
in einem Taxi in einen öden Vorort von London gebracht, wo sie ihr Leben nach
dem Tod verbringen soll. Ihr Leben mag düster gewesen sein, aber ihre Zukunft
übertrifft das bei Weitem. Ihr Leben nach dem Tod soll sie in einer miesen Souterrainwohnung
verbringen, sie wird aufgefordert, zu den Treffen der "Persönlich Toten" zu gehen,
um sich in der Todokratie zurechtzufinden. Abgesehen davon, muss sie ihre Unterkunft
mit ihrem Sohn aus erster Ehe, der mit neun Jahren durch ihre Schuld starb, und
einem versteinerten Embryo, der permanent um ihre Füße wuselt und ständig
Schlager aus den 1970er-Jahren trällert, teilen. Der Sohn, Rotzlöffel genannt, begleitet
sie fluchend und schreiend überall hin. Außerdem wird ihre Wohnung noch von
"den Fetten" bevölkert, die eine Verkörperung all der Kilos darstellen, die
Lily jemals in ihrem Leben ab- und zugenommen hat - die Horrorvision schlechthin
für alle Frauen, die jemals eine oder mehrere Diäten
hinter sich gebracht haben. Die Fetten erinnern sie permanent daran, dass sie
alt und fett ist.
Ein Alptraum beginnt, das einzig Positive für Lily ist, dass sie wieder über ihre
eigenen Zähne verfügt, doch auch das ist nur ein geringer Trost, denn die Toten
brauchen keine Nahrung, aber zumindest das Rauchen kann sie jetzt nicht mehr umbringen.
Die Toten haben nun 24 Stunden täglich Zeit, da sie keinen Schlaf brauchen, können
täglich arbeiten - ja auch das Leben nach dem Tod muss finanziert werden, treffen
auch immer wieder mit den Lebenden zusammen, arbeiten mit ihnen gemeinsam. Dadurch,
dass sich aber keiner für den Anderen interessiert, fällt das weiter nicht auf.
Ein weiterer Vorteil des Todes besteht darin, keine Schmerzen mehr zu haben, aber auch
nichts mehr zu fühlen, zu schmecken, zu riechen. Besucht Lily am Anfang noch die
Treffen der "Persönlich Toten", um mehr über das Leben in der Todokratie zu erfahren,
kapselt sie sich mit der Zeit immer mehr ab, da ihr diese Treffen nicht weiterhelfen.
Stattdessen verfolgt sie das Leben ihrer beiden Töchter hautnah. Sie verbringt
jede Menge Zeit in deren Umgebung und beobachtet so den Verfall Nattys und das
spießbürgerliche Leben Charlottes. Die Jahre vergehen, und Lily erkennt, dass ihr
Tod sich inzwischen nach demselben Schema gestaltet wie ihr Leben, apathisches
Verweilen gefolgt von Krämpfen der Trägheit.
Als sie das erkennt, fragt Phar Lap sie, ob sie diesen Umgang, wie er ihre Anhängsel im Tod nennt, verlassen
wolle, und in ihr regt sich so etwas wie Hoffnung. Gefühle kehren wieder zurück
und letztendlich auch der Hunger und die Lust am Essen. Der
Glaube
an Wiedergeburt liegt in der Luft, doch sollten Sie, wie ich jetzt,
auf ein glückliches Ende hoffen, so hat mich dieser Roman eines Besseren belehrt, nämlich:
Es kann immer noch schlimmer kommen.
Der Autor Will Self wurde 1961 in London geboren und studierte in Oxford. Als er 1991 seinen ersten Erzählband
veröffentlichte, bekam er mehrere Preise und gilt seitdem als einer der besten
britischen Schriftsteller seiner Generation. Will Self besitzt zweifellos die
Fähigkeit, seine Horrorvisionen auf originelle Weise auszudrücken und trotz allem
Gänsehaut hervorzurufen.
Für mich war dieser Roman eine Gruselgeschichte,
die nicht leicht zu verkraften ist. Lily Bloom, eine frustrierte, vom Leben enttäuschte
ältere Dame, rechnet mit dem zwanzigsten Jahrhundert ab. Ihre Geschichte ist trostlos,
voller Bitterkeit; ein Leben gekennzeichnet von der Suche nach Liebe, Sex, Spaß,
Erfolg - doch keines der Ziele wurde erreicht. "Erfolgreich sein kann jeder, doch
es braucht Mumm, ein Versager zu sein", lautet einer der Sprüche von Lily, der
auch den Neid auf erfolgreiche Menschen widerspiegelt. Nach so einem Leben erkennen
zu müssen, dass auch der Tod keine Erlösung bringt, wird nur erträglich durch
die Gefühllosigkeit, die der Tod hervorruft.
Ich war schockiert,
dass ein Mann imstande ist, ein derart düsteres Bild von einem Frauenleben zu skizzieren
und auch darüber, dass die verstorbenen Kinder, abgetriebene Föten, während der
Schwangerschaft verstorbene Kinder und auch die toten Kinder ihrer Töchter sowie
sämtliche überflüssige Pfunde Lily im Tod heimsuchen und durch ihre Anwesenheit
permanent an ihr Versagen erinnern. Störend in diesem Roman habe ich empfunden,
dass alle wichtigen Positionen in der Todokratie von Männern bekleidet wurden,
sei es in der Verwaltung wie auch im Bereich der Todesführer. Auch wurden die
Männer, mit denen Lily im Tode zusammentrifft, keineswegs von derartigen Heimsuchungen
befallen, da dieser Roman unter Anderem auch das 20. Jahrhundert repräsentiert,
traurig aber weiter nicht wirklich verwunderlich, sondern geradezu realitätsnah.
Diese groteske Abrechnung mit dem Leben, dem Tod und allem, was danach kommt, ist sicherlich
lesenswert, zumal das Ende einfach unglaublich düster ist und den Leser, der sich
in die Person der Lily Bloom versetzt hat, mit Wut, Trauer und Verzweiflung zurücklässt.
(Margarete Wais; 03/2002)
Will Self: "Wie Tote leben"
(Originaltitel "How the Dead Live")
Aus dem Englischen von Klaus Berr.
Luchterhand, 2002. 448 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors:
"Dorian. Eine Nachahmung"
1981, kurz vor dem Ausbruch der Aidsepidemie: Ein Reigen aus schwulen britischen
Snobs, Avantgarde-Künstlern, Strichern, Drogenhändlern versammelt sich zu einem
Totentanz - ein überschäumendes und bitterböses Sittenbild, geschrieben in
Trauer und im Zorn.
Die goldenen Siebziger sind vorbei. Die Avantgarde verkauft ihre Ideale, und
ihre Kinder sterben. Das Aidsvirus erhebt sein hässliches Gesicht. Eben hatte
die Schwulenszene noch geglaubt, die große Feier aus
Sex, Drogen und Dekadenz
ginge ewig weiter, da finden sich ihre Vorkämpfer auf dem Sterbebett. Bis auf
einen. Dorian - ein Mann von mörderischer Schönheit, immer jung, immun gegen
die Seuche. Nur sein Bild verfällt. Will Self verlegt
Oscar Wildes legendäre
Erzählung vom Bildnis des Dorian Gray nach London und New York zu Zeiten von
Lady Di und HIV. Auf unvergleichliche Weise paart Self Sarkasmus und böse
Sottisen mit Trauer und tief empfundenem Mitleid. Ein hartes und klares Bild
einer Zeit, die uns bis heute in den Knochen sitzt. Das Bild bleibt jung, auch
wenn die Zeit in unserer Erinnerung verfällt. (Berlin Verlag)
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"Regenschirm"
1918: Audrey Death, Feministin,
Sozialistin und Arbeiterin in einer Londoner Munitionsfabrik, fällt der
Europäischen Schlafkrankheit zum Opfer, eine Epidemie, die sich in ganz Europa
ausbreitete, ein Drittel seiner Opfer tötete und ein zweites Drittel in die
Irrenhäuser jener Zeit verbannte.
1971: Zachary Busner, Psychiater, entdeckt bei
seinem Antrittsbesuch im "Friern Mental Hospital" in Nord-London eine alte Frau,
die dort seit 49 Jahren vor sich hin dämmert, kann ihre Krankheit richtig
behandeln und holt sie ins Leben zurück - mit ungeahnten Folgen.
Audreys Erinnerungen an eine verlorene Welt, ihre
Familie, die sie vergaß, ihre
Liebhaber und ihr Engagement für die Sozialisten, verwebt Will Self mit Busners
Therapieversuchen und mit den Erinnerungen, die der Jahrzehnte später
pensionierte Psychiater an jene Zeit und seine Patientin hat, die er in ein
Leben zurückholt, das nicht mehr ihres werden kann. (Hoffmann und Campe)
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