Thea Leitner: "Jugendzeit Seinerzeit.
Bürgerliches
Leben zwischen Sachsen und Wien 1921 - 1938"
Es ist keine Fantasie, sondern aus dem Gedächtnis geschrieben. Dies umso leichter, als es die Geschichte der Jugendzeit der Autorin ist, welche in die Zwischenkriegszeit fällt, also in die Zeitspanne zwischen Ende des 1. Weltkriegs (1914 - 1918) und den Beginn des 2. Weltkrieges 1938.
Um diese Zeit zu verstehen, beginnt die Erzählung mit den Eltern der Dame. Der Vater ist ein Oberleutnant der k. & k. Armee mit Stationierung in Köszeg (Ungarn). Die Mutter, ein knapp 18-jähriges Mädchen, aus gut behütetem Hause der schwäbischen Kleinstadt Hartha nahe Dresden. Sie lernen sich im Jahr 1913 in Wien kennen, wo das Mädchen bei ihrer Tante als Besucherin längere Zeit weilt, und letztlich auch lieben. Da der Sold eines österreichischen Offiziers karg bemessen war, musste die Frau, die ihn heiraten wollte, für den k. & k. Oberleutnant Kaution als finanzielle Sicherstellung für ein zukünftiges standesgemäßes Leben der Offiziersfamilie aufbringen. Nachdem diese Kaution und entsprechende Mitgift von den Eltern des Mädchens aufgebracht wurde, stand einer ehelichen Verbindung und gutbürgerlicher Haushaltsführung nichts mehr im Wege. Leider war der Hochzeitstag gerade für den 1. August 1914 angesetzt, just den Tage, an welchem der unglückseliche 1. Weltkrieg begann und Angehörige der Armee sofort unabkömmlich waren. Da eine Trauung während des Krieges aus eher patriotischen Gründen nicht in Frage kam, wurde, dank des Überlebens, dieser Tag in bescheidenem Rahmen nach Kriegsende nachgeholt. Die Umstände hatten sich inzwischen jedoch total geändert. Die in gut verzinster Kriegsanleihe sicher angelegte Kaution und Mitgift sowie der Krieg waren verloren, die Monarchie untergegangen. Mit dem Reststaat Österreich wussten weder die Politiker, aber noch weniger das Volk etwas anzufangen. Lebensweise, Gesinnung und gesellschaftliches Gehaben blieben dem versunkenem Staat trotz geänderter Situation weiter verbunden. Einerseits gab es die große Masse des Proletariats, andererseits jene Bevölkerungsgruppe, welche zu Reichtum kam bzw. zumindest ein gut bürgerliches Dasein entsprechend ihrem Erziehungs- und Bildungsstand führen wollte. Dieses gut bürgerliche Leben hielt auch trotz vieler Entbehrungen unsere junge Familie aufrecht, die nach einer lebensunfähigen Frühgeburt letztlich ein weiteres Kind, "ein Madl", zur Welt brachte. Zugute kam ihr jedoch, dass der abgerüstete k. & k. Oberleutnant letztlich in das Bundesheer übernommen wurde, wodurch wohl ein mageres, aber doch ein gesichertes Einkommen gegeben war. Obwohl der Groschen, vom Schilling brauchte man gar nicht zu reden, vor seiner Ausgabe mehrmals umgedreht werden musste, war doch das Schreckgespenst der Arbeitslosigkeit und des wirtschaftlichen Ruins gebannt. Dass die so genannte Zwischenkriegszeit als alles andere als rosig bezeichnet werden kann, ist unserer noch lebenden älteren Generation aus eigenem Erleben bekannt.
Unsere Autorin, eine so genannte "höhere Tochter" ihrer Zeit, bringt ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse, wie sie diese in Wien-Währing und in der Ferienzeit bei ihren Großeltern in Hartha erlebte, in leicht lesbarer Form unter Anführung verschiedener Gegebenheiten zum Ausdruck. Sie erzählt vom Völkergemisch in Wien, der ehemaligen Residenz- und Hauptstadt eines Großreiches, sowie den Zuständen, der Lebensweise und den moralischen Vorstellungen der so genannten gutbürgerlichen Gesellschaft. Auch die in ihrer Jugendzeit erlebten politischen Wirren in Wien und Hartha bis zum 2. Weltkrieg sowie deren dramatische Folgen werden kurz dargelegt. Dass die Anschauungen und Erziehungsmethoden mancher Familien fast bis in die ausgehenden Fünfzigerjahre in dem in der Monarchie gegebenen Klischee verharrten, konnten ebenfalls noch manche selbst erleben. Der Mann als Familienoberhaupt bestimmte, alle anderen hatten sich ihm zu unterordnen. Nur ein festes Zusammenhalten konnte den Status, zumindest nach außen, aufrecht erhalten. Schilderungen, wie "Politik ist nichts für Frauen" oder die Aussage der böhmischen Hebamme bei der Geburt des Mädchens: "O We! Isse nur a Madl. Madl hams schwer im Leben", oder dass ein Kuss "Sünde" sei und man vom Tango-Tanzen schwanger werden könnte, erinnert an die Zeit des ersten Walzers, der damals als unmoralisch abgelehnt wurde. Zeigt aber auch den Stellenwert der Frau sowie die Verdrängung verschiedener Themen aus dem Leben und der Erziehung. Dass aber die Frau als wirtschaftlicher Faktor für das Wohl und Überleben der Familie wichtig und notwendig war, sah man als eine Selbstverständlichkeit. Wie groß die wirtschaftliche Notlage der Bevölkerung und auch bei unserer Familie war, kommt zum Ausdruck, wenn beispielsweise beschrieben wird, dass der Fußboden wöchentlich auch in der gutbürgerlichen Familie von der Frau selbst geschrubbt wurde; wie die Kleidung in Eigenregie durch mehrmaliges Ändern und Wenden der jeweiligen Mode angepasst wurde; dass ein Bleistift bis zum letzten Rest Verwendung fand; ein Urlaub, sofern man sich diesen überhaupt leisten konnte, nur am Bauernhof möglich war, wobei der Bauer seine Wohnung dem Gast überließ und selbst ein Zimmer im Hinterhof oder möglicherweise im Heulager bezog. Auch war unser heute so geliebtes Auto damals nur wenigen beschieden, für die Masse der Bevölkerung war es utopisch, ähnlich wie heute eine Reise zum Mond. Dass jedoch eine Auto- oder Eisenbahnfahrt ein Erlebnis war ist nicht nur auf die romantischen Dampfrösser zurückzuführen, als viel mehr auf die Seltenheit des Vergnügens. Auch innerhalb Wiens ersparte man sich die Straßenbahnkarte und ging lieber in die Stadt hin und retour jeweils 3 1/2 Kilometer zu Fuß.
Das Buch ist eine Lebensgeschichte, welche nicht nur unsere Autorin erlebte, sondern wie schon angeführt von vielen der älteren Generation noch in ähnlicher Art erlebt wurde. Für die heute 60-jährigen war es eine Tatsache und entsprach der Notlage der Zeit. Heute könnte man sich die Lebensweise und die moralischen Vorstellungen von damals in unserem sowohl aufgeklärten als auch sozial und wirtschaftlich gut funktionierenden Staat nicht mehr vorstellen. Eine Familie oder Straße ohne Auto wäre wohl romantisch aber unrealistisch, fährt man doch um die Ecke in die Trafik mit dem Auto. Unsere ältere Generation ist inzwischen auch dem Wohlfahrtsstaat mit seinen Auswüchsen erlegen. Auch sie könnten sich nicht mehr vorstellen, dass sie so wie damals noch leben könnten.
Das Buch ist in Sprache, Ausdruck und Gliederung brillant geschrieben. Für die ältere Generation ist es rückblickend und zur Erinnerung empfehlenswert. Der jungen Generation sollte man es ans Herz legen, damit sie gewisse Aussagen- und Erziehungsmethoden der Eltern aus anderer Sicht und den heutigen Wohlfahrtsstaat nicht als selbstverständlich sieht, sondern als Folge harter Arbeit und großer Entbehrungen.
(Dr Hans Schulz; Mrz/2002)
Thea
Leitner: "Jugendzeit Seinerzeit.
Bürgerliches Leben zwischen Sachsen und Wien
1921 - 1938"
Verlag Überreuter, 2002.
200 Seiten.
ISBN 3-8000-3843-9.
ca. EUR 19,90.
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