Alice Sebold: "In meinem Himmel"


"Mein Nachname war Salmon, also Lachs, wie der Fisch; Vorname Susie. Ich war vierzehn, als ich am 6. Dezember 1973 ermordet wurde."
So beginnt ein Aufsehen erregender Roman: die Geschichte eines Mädchens, das nach seinem Tod aus dem Jenseits beobachtet, wie seine Familie mit dem Verlust umzugehen lernt.

Susie Salmon erzählt die Geschichte ihres "Lebens" nach ihrer Ermordung durch den Nachbarn Mr. Harvey. Sie ist in ihrem privaten Himmel, der wie eine Art idealisierte Highschool ist, und beobachtet das Treiben der Menschen, die sie kannten - oder die irgendwie durch ihre Ermordung beeinflusst wurden - mit großem Interesse, während sie sich an ihre neue Umgebung anpasst. Sie sieht, wie ihre Eltern und Geschwister zunächst von ihrem Verschwinden und dann von ihrem Tod erfahren, und wie dies sie verändert. Sie sieht auch, wie ihre Klassenkameradinnen und -kameraden auf die Ereignisse reagieren, beobachtet die Ermittlungen der Polizei und auch das versteckte Leben ihres Mörders.

Dieser Roman erstreckt sich über mehrere Ebenen: Er ist ein Krimi - allerdings ohne Auflösung für die Lebenden. Er ist die Geschichte von Angst, Verlust und dem Wunsch nach Rache. Er ist die Geschichte darüber, wie sich das Verschwinden eines Kindes auf die Familie auswirkt, wie die Öffentlichkeit und die Polizei darauf reagieren. Der Roman beschreibt die Erfahrung eines Mädchens, plötzlich nicht mehr sie selbst zu sein, sondern die Schwester eines anderen Mädchens, dem wohl Gewalt angetan worden ist. Es wird dargestellt, wie viele Menschen von einer einzelnen Gewalttat berührt werden und wie es diese Menschen schaffen, schließlich nicht mehr ausschließlich unter dem Eindruck jener Katastrophe, die in ihr Leben eingetreten ist, sondern auch voller liebevoller Erinnerung an das, was sie verloren haben, weiterzuleben.

Susie ist eine sehr genaue und zunehmend wohlwollende Beobachterin der Geschehnisse, die nach ihrem Tod lernen muss, die Lebenden loszulassen, genau wie diese lernen müssen, sie loszulassen. Doch bevor sie dies wirklich tun kann, muss sie bewirken, dass ihrem Mörder niemand mehr zum Opfer fallen kann, dass ihre Eltern nach einer fünfjährigen Trennung wieder zusammen finden, und sie muss, durch ein seltsames Intermezzo, ihre Jungfräulichkeit mit dem einzigen Jungen, den sie je begehrt hat, verlieren.

Ein nachdenkliches und auch sehr schönes Buch, das die normalen Konventionen der Traumatisierung durch Gewalt aufbricht, ohne dabei irgendetwas zu beschönigen oder zu verharmlosen. Alice Sebold verarbeitet hier eigene Erfahrungen der Gewalt, die sie selber in ihrer Jugend gemacht - und glücklicherweise überlebt - hat. Gewalt, die für sie selber wie eine Art Tod war, und die ihr Leben danach lange bestimmte, bis sie schließlich lernte, viele Aspekte der Ereignisse loszulassen und sich wieder dem Leben zuzuwenden. Und darum ist dies auch - trotz, oder gerade wegen seines Themas - ein hoffnungsvolles Buch für jeden, dessen Leben von Gewalt berührt wurde, und der der Welt danach misstrauisch und ängstlich gegenüber steht. Denn wenn man sein Leben von dem Trauma bestimmen lässt, dann gewinnt der Gewalttäter jeden Tag von Neuem Gewalt über uns, tut uns täglich neu Gewalt an, selbst wenn er längst verschwunden ist. Doch diese Gewalt hat meistens nichts mit uns zu tun, und wenn wir dem Gewalttäter diese Macht über unser Leben nicht geben, dann können wir uns auch nach einem schweren Trauma ein schönes, erfülltes Leben aufbauen. Frei nach dem Motto: "Die beste Rache ist es, ein gutes Leben zu führen".

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2003)


Alice Sebold: "In meinem Himmel"
(Originaltitel "The Lovely Bones")
Übersetzt von Almuth Carstens.
(Hör-)Buch bei amazon.de bestellen

Alice Sebold hat an der Syracuse University studiert und für diverse Zeitungen geschrieben.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Das Gesicht des Mondes"

Helen Knightly hat ihre 88-jährige Mutter Clair mit einem Handtuch erstickt. Fast unbewusst wirkt dieser Mord und doch wie die Erfüllung eines lebenslang unterdrückten Wunsches. Es ist die Tat einer Frau, die seit ihrer Kindheit in Hassliebe an ihre Mutter gefesselt ist, zerrissen von widersprüchlichen Gefühlen, aber auch überfordert von der psychischen Erkrankung ihrer Mutter. Denn trotz ihrer Dominanz ist Clair stets auf die Unterstützung ihres Mannes und ihrer Tochter angewiesen, und beide tragen schwer an der Last dieser Verantwortung. Helens Vater zerbricht schließlich daran, und nun hat auch Helen das Band zu ihrer Mutter endgültig zerrissen. Doch ihre vermeintliche Freiheit fordert von Helen auf ganz neue Weise, Verantwortung für sich und ihr Leben zu übernehmen.
In Rückblenden und in der Schilderung der 24 Stunden nach der Tat geht Alice Sebolds Roman der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern nach, der Bedeutung von Abhängigkeit und Freiheit und dem schmalen Grad zwischen Liebe und Hass. (Manhattan)
Buch bei amazon.de bestellen