Mukhtar Mai: "Die Schuld, eine Frau zu sein"

Die erschütternde Geschichte der jungen Pakistani Mukhtar Mai


Mukhtar Mai - geborene Mukhtarana Bibi - wuchs wie die meisten Mädchen in ihrer Gegend von Pakistan auf; und vielleicht sogar ein wenig besser. Sie durfte sich freier bewegen, und als sie mit ihrem Mann nicht zurecht kam, unterstützte ihre Familie ihre Bemühungen um die Scheidung. Und danach vermochte sie in das Haus ihrer Eltern zurück kehren und sich in ihrer Dorfgemeinschaft einen Namen als Koranlehrerin machen - und dies, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt weder lesen noch schreiben konnte.
Bis sich am 22. Juni 2002 ihr Leben für immer verändert. An diesem Tag beschließt ein halblegales Stammesgericht, dass sie sich im Namen ihrer Familie für ein Verbrechen, das ihr zwölfjähriger Bruder an einer anderen Familie begangen haben soll, offiziell entschuldigen muss. Voller Vertrauen auf die Gerechtigkeit des Ratschlusses - obwohl sie gar nichts über die Hintergründe weiß - tritt sie vor die Männer der anderen Familie und wird im Laufe der Nacht mehrmals - mit Billigung des Gerichts - von ihnen vergewaltigt. Tagelang schließt sie sich danach zuhause ein und bereitet sich innerlich auf den Selbstmord vor, den die Tradition von Frauen nach einem solchen Erlebnis verlangt. Aber ein gewisser innerer Widerspruchsgeist - und einige Worte ihrer Mutter - lassen sie einen anderen Weg beschreiten.

In Begleitung einiger männlicher Verwandter begibt sie sich zur Polizei, um ihre Peiniger anzuzeigen. Doch die Polizei, die ebenfalls der Willkür der in der Gegend sehr mächtigen Familie unterliegt, versucht, die des Lesens und Schreibens unkundige Frau wieder und wieder in die Irre zu führen und so eine wirkliche Anzeige und eine daraus resultierende Anklageschrift zu verhindern. Doch bald werden Regierungsstellen und Presse auf die Ereignisse aufmerksam, und befeuert durch die Weltöffentlichkeit beginnt die pakistanische Regierung den Fall genauer zu untersuchen. Mit weiterer Unterstützung durch ihre Familie und einige internationale und nationale Hilfsorganisationen gelingt es Mukhtar Mai, die fraglichen Männer vor Gericht zu bringen, damit die Situation pakistanischer Frauen einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen zu führen und einen Kampf zu beginnen, dessen Ende noch lange nicht abzusehen ist.

Die auf vorislamischen Traditionen beruhende Rechtsprechung, auch in anderen Ländern oft zur Unterdrückung und Entwürdigung von Frauen genutzt, wird in diesem Buch nicht nur am zentralen, sondern auch an vielen anderen Fällen dargestellt. Denn nachdem ihr Engagement in der Sache begonnen hatte, hörte und las Mukthar Mai immer mehr Geschichten über ähnliche Fälle - denn auch das Lesen hat sie mittlerweile gelernt. Und ihr ist klar geworden, dass Bildung der beste Weg für junge Frauen ist, aus diesen Zuständen heraus zu kommen und dass fehlende Bildung sie immer wieder zu Opfern machen wird. Weswegen sie auch in ihrem Dorf eine Schule gegründet hat, in der Mädchen unterrichtet werden, ohne dass dafür Schulgeld verlangt wird. Diese Schule wird teils mittels Spenden und teils seitens der Regierungsstellen finanziert, und Mukhtar Mai ist ihre Direktorin.

Seit Jahren lebt Mukhtar Mai nun unter Polizeischutz und versucht, eine rechtskräftige Verurteilung ihrer Peiniger zu erwirken. Vergebung ist nicht ihr Ziel - genauso wenig wie Verständnis. Sie fordert mindestens lebenslange Haft und lieber die Hinrichtung für die Männer, die zuvor über sie gerichtet haben und nun - in der Folge ihres Widerstandes - sowohl ihre Familie, als auch ihre mittlerweile 200 Schülerinnen und Schüler bedrohen. Ihr Kampf geht weiter.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 02/2006)


Mukhtar Mai: "Die Schuld, eine Frau zu sein"
Übersetzerinnen: Eléonore Delair, Elaine Hagedorn und Bettina Runge.
Droemer, 2006. 239 Seiten.
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Mukhtar Mai wurde 1972 geboren. Sie lebt in dem kleinen Dorf Meerwala in Pakistan. Ihre Geschichte wurde aufgeschrieben von Marie-Thérèse Cuny.

Leseprobe:

Ein langer Weg

Die Entscheidung, die mein Leben von Grund auf verändern wird, fällt in der Nacht vom 22. Juni 2002 im Kreis der Familie.

Ich, Mukhtaran Bibi, achtundzwanzig Jahre alt und Angehörige der Bauernkaste der Gujjar aus dem Dorf Meerwala in der pakistanischen Provinz Punjab, muss vor den Klan der höheren Kaste der Mastoi treten, der aus mächtigen Grundbesitzern und Kriegern besteht. Ich muss sie im Namen meiner Familie um Vergebung bitten.

Um Vergebung für meinen kleinen Bruder Shakkur. Die Mastoi beschuldigen ihn, mit Salma, einem Mädchen ihres Stammes, "gesprochen" zu haben. Mein jüngerer Bruder ist gerade mal zwölf Jahre alt, die junge Frau dagegen über zwanzig. Wir wissen, dass Shakkur nichts Schlechtes getan hat, doch die Mastoi haben es so beschlossen, und wir, die Gujjar, müssen uns ihren Geboten fügen. Das ist schon immer so gewesen.

Als mein Vater und mein Onkel mir die Nachricht gemeinsam überbringen, sind sie sehr müde und niedergeschlagen.

Mit trauriger Stimme sagt mein Vater: "Wir haben unseren Mullah, Abdul Razzak, um Rat ersucht, doch er weiß nicht, was tun. Die Mastoi sind im Dorfrat weit zahlreicher vertreten als die Gujjar. Sie lehnen jedes Schlichtungsangebot ab und bleiben bei ihrer Forderung. Wir müssen uns fügen. Sie haben Waffen. Dein Onkel mütterlicherseits sowie Ramzan Pachar, ein unabhängiger Vermittler, haben alles versucht, um die Mitglieder der jirga zu besänftigen. Wir haben nur noch eine letzte Chance: Eine Frau der Gujjar muss im Namen unseres Stammes um Vergebung bitten. Und unter allen Frauen des Hauses haben wir dich ausgewählt."

"Warum ausgerechnet mich?", frage ich und sehe die beiden aus großen Augen an. Im ersten Moment fährt mir der Schreck durch alle Glieder. Es gibt so viele Frauen in unserer Familie, schießt es mir durch den Kopf, und ausgerechnet mich müssen sie auswählen. Wieso sollte gerade ich es schaffen, die Mitglieder der jirga, des örtlichen Stammesgerichts, zu unseren Gunsten umzustimmen?

"Dein Mann hat dir die Scheidung gewährt, du hast keine Kinder, du bist die Einzige im richtigen Alter, du lehrst den Koran, und du genießt Ansehen", zählen sie zögerlich all die Gründe auf, die mich in ihren Augen zur geeigneten Person machen. Mir bleibt keine andere Wahl, ich werde mich ihrem Wunsch fügen.

Die Dunkelheit ist seit langem hereingebrochen, und ich habe noch keine konkrete Vorstellung davon, worum es bei diesem schwerwiegenden Konflikt eigentlich geht und wieso genau ich vor diesem Rat um Verzeihung bitten muss. Das wissen allein die Männer, die seit zahllosen Stunden in der jirga oder dem panchayat, wie das Stammesgericht auch genannt wird, versammelt sind. Ganz wohl ist mir bei der Sache nicht, doch ich versuche die unangenehmen Gedanken beiseite zu schieben. Es gelingt mir allerdings nur kurz, und bald schon wandern sie zu meinem kleinen Bruder zurück. Shakkur ist seit heute Mittag verschwunden. Keiner aus meiner Familie hat in Erfahrung bringen können, was an diesem verhängnisvollen Nachmittag tatsächlich geschehen ist. Wir wissen nur, dass mein Bruder sich zum angeblichen Tatzeitpunkt auf dem Zuckerrohrfeld in der Nähe des Hauses der Mastoi befand. Jetzt ist er allerdings auf dem Polizeirevier, etwa fünf Kilometer von unserem Dorf entfernt, sie haben ihn dort eingesperrt. Ich erfahre aus dem Mund meines Vaters, dass sie meinen jüngeren Bruder geschlagen haben.

"Wir haben Shakkur gesehen, als die Polizei ihn bei den Mastoi abgeholt hat. Der Ärmste war blutüberströmt, und seine Kleider waren völlig zerrissen. Sie haben ihn in Handschellen abgeführt, ohne dass ich auch nur ein Wort mit ihm sprechen konnte. Ich hatte ihn zuvor erfolglos überall gesucht. Ein Mann, der hoch oben in einer Palme saß, um Zweige zu schneiden, hat mir erklärt, er habe gesehen, wie die Mastoi ihn entführt hätten. Nach und nach habe ich von verschiedenen Leuten im Dorf erfahren, dass die Mastoi ihn zunächst des Diebstahls bezichtigt haben. Er soll sich in ihrem Zuckerrohrfeld bedient haben. Dann ist Salma ins Spiel gekommen."

Die Mastoi ergreifen häufig derartige Repressalien. Sie sind ungemein gewalttätig, und ihr mächtiges Stammesoberhaupt hat viele Bekannte an den richtigen Stellen - alles einflussreiche Männer.

Niemand aus meiner Familie hat jemals gewagt, zu ihnen zu gehen. Diese Männer sind im Stande, wie aus dem Nichts und ohne jeden Grund mit Gewehren bewaffnet in jedem beliebigen Haus aufzutauchen, hemmungslos zu plündern, zu zerstören oder zu vergewaltigen. Wir können dagegen nichts tun, denn wir gehören den Gujjar an, einem niedrigen Stamm, und müssen uns dem Willen der Mastoi beugen. Abdul Razzak, der Mullah von Meerwala, der dank seiner religiösen Funktion als Einziger zu einem solchen Schritt befugt ist, hat versucht, die Freilassung meines Bruders zu erwirken. Leider erfolglos. Als meine Familie die Nachricht erhielt, war die Bestürzung groß und wir waren zunächst sehr hilflos. Doch mein Vater hat sich nicht mit der Situation abfinden wollen und all seinen Mut zusammengenommen - wohl wissend, dass dies Ärger bedeuten könnte. Er ist also zur örtlichen Polizei gegangen und hat sich beklagt. Empört, dass ein Gujjar-Bauer es gewagt hat, ihnen die Stirn zu bieten und ihnen die Polizei vorbeizuschicken, haben die hochmütigen Mastoi die Anklage daraufhin kurzerhand geändert. Sie haben nun einfach behauptet, mein kleiner Bruder Shakkur habe Salma vergewaltigt. Deshalb würden sie ihn nur gehen lassen, wenn er ins Gefängnis komme. Sie haben allen Ernstes verlangt, die Polizei müsse ihn wieder den Mastoi übergeben, falls er freigelassen würde.

Sie beschuldigen Shakkur also der zina-, in Pakistan gleichbedeutend mit der Sünde der Vergewaltigung, des Ehebruchs oder der außerehelichen sexuellen Beziehung. Nach dem Gesetz der Scharia droht meinem zwölfjährigen Bruder damit die Todesstrafe.

Die Polizei hat ihn daraufhin tatsächlich ins Gefängnis gesteckt - einerseits weil er beschuldigt wird, andererseits um ihn vor der Gewalttätigkeit der Mastoi zu schützen, die auf dem Recht bestehen, selbst zu richten.

Das ganze Dorf ist seit dem frühen Nachmittag über die Angelegenheit auf dem Laufenden, und aus Sicherheitsgründen hat mein Vater sämtliche Frauen meiner Familie zu einigen Nachbarn gebracht. Wir fürchten die Vergeltung der rachsüchtigen Mastoi, die in solchen Dingen generell nicht lange zögern. Wenn die einflussreichen Angehörigen dieses Stammes Rache üben, das ist bekannt, dann immer an einer Frau aus einem niedriger gestellten Klan als dem ihren. Und nun soll eine Frau der Gujjar sich vor den Männern des Dorfes, die vor dem Anwesen der Mastoi zur jirga versammelt sind, erniedrigen und um Vergebung für ihre Familie bitten.

Diese Frau bin ich.

Ich kenne das besagte Anwesen aus der Ferne, es liegt etwa dreihundert Meter von unserem Hof entfernt - mächtige Mauern umschließen das Haus mit seiner Terrasse, von der aus die Mastoi die Umgebung überwachen, als wären sie die Herren über die Welt.

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