"Die Schätze der Himmelssöhne"
Die kaiserliche Sammlung des Nationalen Palastmuseums, Taipei, Taiwan
Kaiserliche
Schätze
An einem
milden Abend im Spätfrühling des Jahres 353 trafen sich der Beamte und
Schreibkünstler Wang Hsi-chih und seine gelehrten Freunde am
Orchideenpavillon (lan-t’ing) in K’uai-chi um das Reinigungsfest zu
begehen und der Dichtkunst und dem Trinken zu huldigen. Man ließ sich am Ufer
eines Baches nieder, deklamierte, trank und setzte kleine Weinschälchen auf
Lotosblätter im Wasser eines nahen Baches. Wie es der Brauch war, musste
derjenige, vor dem sie ans Ufer trieben, ein Gedicht verfassen. Wang Hsi-chih
komponierte aus diesem Anlass den "Prolog zu der Zusammenkunft am
Orchideenpavillon" ("Lan-t’ing hsü"), der zu einem der berühmtesten
Werke der chinesischen Kalligrafie wurde.
Wie groß die
Verehrung für die
Meister der Schriftkunst war, beweist der T’ang-Kaiser
T’ai-tsung (reg. 626-649), der verfügte, zusammen mit dem "Lan-t’ing
hsü" begraben zu werden und so das Original der Nachwelt für immer entzog.
Die Bedeutung von Kunst und ihrem Besitz ging für die chinesischen Kaiser
jedoch weit über die ästhetische und intellektuelle Bewunderung oder den bloßen
finanziellen Wert hinaus. Die kaiserlichen Kunstsammlungen besaßen stets auch
hohe kulturelle und politische Symbolkraft.
Ihre
Tradition reicht zurück bis in die Zeit der Shang-Dynastie (ca. 1600- ca.
1100 v. Chr.), als der Besitz von Ritualbronzen, Plänen und historischen
Aufzeichnungen als sichtbarer Beweis der Legitimität der Herrschaft galt.
Auch später wurde das Sammeln von Kulturschätzen als Zeichen für die
Befolgung des Himmelsmandates (t’ien-ming) betrachtet, das mit dem Verlust
und der Zerstreuung der Sammlung verloren gehen konnte. Herrscher neuer
Dynastien bemühten sich, verlorene Kunstwerke wieder zurück zu erlangen und
die Anstrengungen ihrer Vorgänger sogar noch zu übertreffen und trugen so
zur im Vergleich zu den Kollektionen der europäischen oder nahöstlichen
Adelsgeschlechter einzigartigen Kontinuität der Sammlung der chinesischen
Kaiser bei.
Neben dieser
Legitimitätsfunktion entwickelten sich über die Jahrhunderte auch das
oftmals von wissenschaftlichem Interesse getragene Bewusstsein der Wichtigkeit
des Erhaltens von Antikem, die Wertschätzung zeitgenössischer Künste und
die Pflege der künstlerischen Praxis als Zeichen der Selbstkultivierung.
Viele der chinesischen Kaiser waren nicht nur passionierte Sammler, die ihre
Schätze systematisch katalogisieren und kunsthistorisch aufarbeiten ließen,
sondern schufen auch selbst Kunstwerke.
Ein
herausragendes Beispiel dafür war Kaiser Ch’ien-lung (reg. 1736-1795), der
zu den größten Sammlerpersönlichkeiten und den produktivsten Künstlern der
Weltgeschichte zählt. Die Dichtkunst mühelos zu beherrschen und feinsinnige
Prosatexte verfassen zu können wurde von jedem Angehörigen der
Gelehrten-Elite erwartet, und vom Kaiser als deren obersten Repräsentanten
natürlich in besonderem Maße. Ch’ien-lung war in diesem Sinne der ideale
Herrscher. In seinen gesammelten Schriften, die von 1749 bis 1800 in zehn
Folgen erschienen, sind rund 43 800 Gedichte und 1 300 gelehrte Abhandlungen
verzeichnet. Eines seiner Gedichte wurde gar in französischer Übersetzung in
Europa publiziert und von
Voltaire und
Friedrich dem Großen diskutiert.
Die Ausübung
der Kalligrafie und der Malerei gehörte ebenso wie die Dichtkunst zu den
grundlegenden Fertigkeiten eines Literaten. Wie viele seiner Vorgänger übte
auch Ch’ien-lung diese Künste aus, besaß doch die kaiserliche Handschrift
eine magische Immanenz und wurde als eine Art Stellvertreterin des Herrschers
wie er selbst mit Kotau verehrt. Dem Künstlerkaiser sind auch nach
wissenschaftlichen Prinzipien erarbeitete Kataloge der Sammlung zu verdanken,
der Stil der von ihm in Auftrag gegebenen Forschungen zu deren Objekten wirkt
bei chinesischen Kunsthistorikern heute noch nach.
Nicht alle
Kaiser gingen so verantwortungs- und respektvoll mit ihrem Erbe um. P’u-yi
etwa, der letzte Kaiser der Ch’ing-Dynastie, nutzte die kaiserliche
Kunstsammlung als private Geldquelle und veranstaltete nicht nur im Palast
Kunstauktionen, sondern verpfändete auch Teile der Sammlung an Banken.
Dynastische Wechsel, Kriege, Plünderungen und Zerstörungen durch ausländische
Mächte und der Verkauf von Objekten durch eigentlich mit ihrer Bewahrung und
Verwaltung beauftragte Beamte trugen ebenfalls zu Lücken in der riesigen
Sammlung bei.
Trotz aller
Wirren der Geschichte gelten
die heute im 1925 eröffneten Palastmuseum in Taipeh verwahrten Schätze der
Himmelssöhne als die weltweit umfangreichste und kostbarste Sammlung chinesischer
Kunst. Ihre nahezu 700 000 Objekte umfassen Gemälde und Kalligrafien alter
Meister, seltene Siegel und antike Münzen, kostbare Porzellane, archaische
Ritualbronzen und Jadearbeiten, frühe Buchdrucke, Tapisserien und Bildstickereien,
Lack- und Emailarbeiten, Holzschnitzereien und kunstvolle Sammelkabinette.
Zwei große
Ausstellungen - vom 18. Juli bis 12. Oktober 2003 im Alten Museum in Berlin
und vom 21. November 2003 bis 15. Februar 2004 in der Kunst- und
Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn - mit rund 400
Exponaten präsentierten auch dem europäischen Publikum eine hochkarätige
Auswahl dieser Essenz der
chinesischen Kunstgeschichte. Viele der Objekte,
unter denen sich auch eine Steinabreibung des verschollenen "Lan-t’ing
hsü" befindet, waren überhaupt erstmals im Ausland zu sehen.
Zu diesen in
über zehnjähriger Vorbereitungszeit organisierten Ausstellungen erschien im
Hatje Cantz Verlag ein prächtiger Kunstband, der nicht nur jedes der nach
Epochen gegliederten Exponate farbig abbildet und ausführlich beschreibt,
sondern auch vertiefende Aufsätze zur Sammlung der chinesischen Kaiser und
ihrer manchmal abenteuerlichen Geschichte bietet. Daneben erleichtern auch für
den Nicht-Kunsthistoriker interessante Textbeiträge zu einigen Kunstgattungen
wie der Kalligrafie oder Malerei und zu Jade oder Bronze und anderen
beliebten Werkstoffen das Verständnis der für den Laien ab und zu ein wenig
enigmatischen Reize und Bedeutungsebenen der chinesischen Kunst.
Werke der Kalligrafie etwa mögen dem westlichen Betrachter zunächst als bloße
Abfolge von unverständlichen Schriftzeichen erscheinen, aus denen außer
einem oberflächlichen ästhetischen kein weiterer Genuss zu ziehen ist. Weiß
man aber ein wenig über die Hintergründe und die Technik dieser
hochgeachteten Kunst, die sich bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. als eigenständige
Kunstform etablierte, und die gesellschaftliche Stellung und das Selbstbild
der Künstler Bescheid, versteht man zumindest einige der Gründe für die
Wertschätzung, die nicht nur die chinesischen Kaiser für die Schriftkunst
empfanden. Auch das Wissen um die der Jade bis heute zugeschrieben
spirituellen Kräfte entschleiert nicht den geheimnisvollen Zauber, der etwa
die archaischen Ringscheiben (pi) umgibt, sondern steigert nur noch ihre
Faszination.
Basis- und
Hintergrundinformationen zur chinesischen Kunst bietet der Kunstband auch
durch zahlreiche Karten, welche die Geschichte des Reiches von der Frühzeit
bis ins 20. Jahrhundert sowie wichtige archäologische Fundstätten und künstlerische
Zentren illustrieren, und durch ausführliche weiterführende
Literaturhinweise, ein Namensglossar der wichtigsten Künstler sowie die Übersetzung
von Bildaufschriften, Briefen und Gedichten.
"Schätze
der Himmelssöhne" ist mehr als ein bloßer, wenngleich opulenter
Ausstellungskatalog. Auch ohne Besuch der Schauen in Deutschland lässt der
Band den Leser einen faszinierenden Blick auf eine der ältesten Kulturen der
Welt werfen und vermittelt eindrucksvoll die enorme historische Spannbreite
der chinesischen Kunstgeschichte, ihre Kunstgattungen, thematische Vielfalt
und stilistischen Eigenheiten und nicht zuletzt die bedeutende Rolle der
chinesischen Kaiser als Sammler und Mäzene.
(sb; 10/2003)
"Die Schätze der Himmelssöhne.
Die kaiserliche Sammlung des Nationalen Palastmuseums, Taipei, Taiwan"
Hrsg. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH, Bonn.
Texte von Roger Goepper, Regina Krahl, Wolfgang Kubin, Ursula Lienert,
Adele Schlombs, Shih Shou-chien, Ursula Toyka-Fuong, Wang Yao-t'ing u. a.
Hatje Cantz, 2003. 472 Seiten, ca. 510 Abbildungen.
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Palastmuseum in Taipeh