Juri Rytchëu: "Der Mondhund"
Eine Fabel über die Liebe aus dem Land der Tschuktschen
Irgendwo im äußersten Nordosten
Sibiriens, dort, wo die mächtige Weite der Tundra allmählich in den schier
endlosen Pazifik abfällt, nimmt die Geschichte vom "Mondhund" ihren
Anfang. In diesem rauen, unwirtlichen Stück Natur leben nicht viele Zweibeiner,
auch Menschen genannt. Und die, die es doch tun, weben gerne an Träumen. Einer
von ihnen ist Juri Rytchëu, aus dem Volk der Tschuktschen. Als den "ersten
Schriftsteller" seiner bloß 12.000 Seelen fassenden Ethnie preist ihn der
Klappentext.
Ist es wirklich "nur" Schriftstellerei, was Rytchëu
betreibt? Für die geordnet-logische Ratio des Westens wohl ja. In der
Begriffswelt sibirischer Nomaden, in der die
Buchkultur ohne Tradition ist, eher
nein. Zu Papier gebrachter, in Fabelform vermittelter Schamanismus käme dem Werk
Juri Rytchëus wohl näher (siehe seine andere Erzählung "Wenn die Wale
fortziehen").
Namensgebende Figur im "Mondhund" ist ein
junger, kräftiger Rüde, ob Samojede oder Sibirischer Husky bleibt offen (am
Buchumschlag läuft irreführender Weise ein
Wolf durch den
Schnee). In der Sippe seines Vaters Vierauge ist er der Schwarm aller Hündinnen.
Doch Monder, so sein Name, widersteht deren körperlichen Reizen. Für ihn ist es
zu früh, für Nachwuchs zu sorgen, erst möchte er die Geheimnisse der Welt
außerhalb des vertrauten Familienverbandes ergründen. In einer klirrend klaren
Vollmondnacht stimmt er in das Geheul seines Rudels ein. Monders Stimme hat
solche Kraft, dass er auf ihrem Tonstrahl bis zur Mondscheibe auffährt. Keck
beißt er ein Stück vom Erdtrabanten ab, was ihm fortan die Fähigkeit verleiht,
die Sprache aller anderen Tierarten zu verstehen und sogar ihre Körperform
anzunehmen. Nur "Mondhunde" bringen dieses Kunststück der Himmelfahrt zuwege,
keine anderen Tiere. Das Warum bleibt eines der Geheimnisse des Buches.
Vielleicht liegt in einer alten Weisheit die Antwort: Wer wagt,
gewinnt.
Monder verlässt nach dem Biss in den
Mond sein Sicherheit
gebendes Rudel, schnürt schnurstracks ins Unbekannte. Zuerst schlüpft der
Wanderer in das Aussehen einer Robbe, der Reihe nach wird er Krähe, Mücke, Ren
und Vielfraß. Bei all diesen Arten gewinnt der Mondhund an Einsicht, lernt ihre
Lebensweisen und Eigenheiten kennen. Überall wird er eingeladen, sich zu paaren,
um so für den Fortbestand der jeweiligen Spezies zu sorgen. Doch Monder will mehr
als reproduktiven Sex, ihn dürstet nach einem unbewussten, aber ständig
präsenten Gefühl; der Mondhund verlangt nach der Großen Liebe. Um diesem
beglückenden Geheimnis näher zu kommen, muss der formwandelnde Canide zur
letzten und gefährlichsten Metamorphose schreiten: die Menschwerdung steht
bevor. Ein Zweibeiner dieser Art versteht zwar nicht die Sprache der anderen
Tiere, ist zudem schwach und ohne schützendes Körperfell, läuft nur langsam,
schwimmt schlecht und fliegen kann er schon gar nicht. Mit einem Satz: "die
Welt wird so eng wie sein Gesichtsfeld. Aber dafür gewinnt er etwas anderes -
das Gefühl für eine Frau."
Monder wagt den irreversiblen Schritt zur
Verwandlung in einen Menschen. Es ist wie ein
Kosten vom Apfel der
Erkenntnis,
ultimativ, denn einmal getan, gibt es kein Zurück mehr. Mit den Vielfältigkeiten
des Tierseins ist es danach vorbei. Das Schicksal meint es gut mit Monder. Er
trifft Tirkynëu, die Tochter des Sonnenherrschers. Nun kann der Mondhund am
eigenen Leib erfahren, was es mit der Großen Liebe auf sich hat. Sonne und Mond
- die alten Gegensätze - schließen den Kreis zur Vollendung. Und mit ihnen
kommen Sternengefunkel und Polarlicht in die Welt.
Was Juri Rytchëu durch
Monders Reisen und Wandlungen beschreibt, ist der klassische Initiationsweg
eines Sinnsuchenden. Seine Botschaft: "Der Sinn des Daseins liegt in dem Raum
zwischen Anfang und Ende". Es gibt einen soliden Ausgangspunkt, der
aufgegeben werden muss, um an ein vorerst nur ungenau markiertes Ziel zu
gelangen, das aber die Entbehrungen lohnt. Dazwischen lauern Umwege und
Gefahren. Für jene, die berufen sind, wirkt ein Meisterplan im Hintergrund. John
Bunyan ("A Pilgrim's Progress") lässt grüßen, wenngleich aber kein
Christengott seine Hand im Spiel hat, sondern eine nicht näher definierte Kraft,
die in allem, vor allem auch in Tieren wirkt. Juri Rytchëu, ein schamanischer
Äsop Sibiriens? Mehr noch, ein Pilger auf der Suche nach der idealen Liebe. Bei
Galja, seiner verstorbenen Frau, der dieses Buch gewidmet ist, scheint der
Polarpoet gefunden gehabt zu haben, wonach er suchte. Das regt an, den Biss in
den Mond zu wagen.
(lostlobo; 08/2005)
Juri Rytchëu:
"Der Mondhund"
(Originaltitel "Lunny Pjos")
Aus dem Russischen von
Antje Leetz.
Unionsverlag, 2005. 121 Seiten.
ISBN 3-293-00351-6.
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