Jørn Riel: "Vor dem Morgen"


Ein Roman voller Schönheit und Traurigkeit

Ninioq ist eine Inuit-Großmutter, die auf ein reiches Leben zurückblickt. Mit der großen Familie ihres Sohnes zieht sie in ein Sommerlager, und die Familie macht reichlich Beute und kann Wintervorräte anlegen. Ninioq und ihr siebenjähriger Lieblingsenkel Manik werden auserwählt, das viele Fleisch und den Fisch auf einer vorgelagerten kleinen Insel vorzubereiten und zu trocknen; der Junge freut sich über diese Möglichkeit, seine Reife zu beweisen. Auch Ninioq übernimmt die Aufgabe gern. Die beiden verbringen glückliche Wochen auf der Insel und erledigen ihre Arbeit. Sie bestehen auch ein paar Abenteuer. Manik lernt sehr viel über die Traditionen seines Volks, über Jagdtechniken und alte Geschichten.
Als die Zeit vergeht, wundern sich die beiden, weil sie und das konservierte Fleisch nicht abgeholt werden. Es wird stürmisch und kalt, und die Insel verliert ihren Charme. Ninioq und Manik setzen zum Festland über, um im Lager nachzusehen. Dort machen sie eine Entdeckung, die ihnen zeigt, dass sie auf ihre Familie nicht mehr zählen können.
Bestürzt kehren sie zur Insel und den Vorräten zurück. Der arktische Winter beginnt, begleitet nicht nur von eisiger Kälte, bedrückender Dunkelheit und sehr realen Gefahren, sondern auch vom Aufkommen einer schrecklichen Einsicht: Sie sind die letzten Menschen ihrer Welt, eine alte Frau und ein kleiner Junge, und sie können sich den Bedrohungen ihrer Umwelt letztlich nicht entgegenstellen.
Ninioq, die in ihrem Leben bereits mehrmals in Extremsituationen geraten ist, stellt sich ihrer Verantwortung für das Kind und fällt die einzig mögliche Entscheidung.


Jørn Riel ist eigentlich ein Unterhaltungsautor. Er versteht sich meisterhaft darauf, Stimmungen darzustellen und eine fremde Welt vor dem inneren Auge des Lesers zu errichten, in diesem Fall jene einer Familiengruppe von Inuit (Eskimos) an der grönländischen Küste, die völlig abgeschlossen von anderen Kulturen lebt. Riel erschließt detailliert und spannend das Frühjahr und den Sommer Ninioqs und ihrer Familie, er lässt uns den Sommer und Frühherbst auf der unbewohnten kleinen Insel mit Maniks und Ninioqs Augen sehen.
Es bleibt aber nicht bei dieser fröhlichen, bilderreichen Erzählung, der übrigens von Anfang an eine gewisse Beklemmung durch Ninioqs scheinbar unbegründete Vorahnungen innewohnt. Als die Tage und Wochen ins Land ziehen und die beiden schließlich auf die Suche nach ihren Verwandten gehen, ergibt sich eine schaurige Wende. Von da an ist der Roman trotz aller sprachlichen und gedanklichen Schönheit an Düsternis kaum zu übertreffen. Das Ende kommt nicht gänzlich überraschend, schmerzt dennoch - und gibt der letzten und einzigen Hoffnung der Protagonisten Raum.
Die lebendige und von Bildern getragene Sprache tut ein Übriges, um die starken Stimmungen des Romans zu unterstützen und unmittelbar wiederzugeben. Der Übersetzer hat sehr gute Arbeit geleistet und den bei aller bewusster Schlichtheit sehr ausdrucksvollen Stil hervorragend ins Deutsche übertragen.
Die Aufmachung ist hochwertig und ansprechend. Positiv fällt auch die angenehme Schriftgröße auf.

Ein fesselnder Roman über das Leben der Inuit in Grönland und darüber hinaus über Liebe, Glück, Verpflichtung und Verantwortung.

(Regina Károyli; 02/2006)


Jørn Riel: "Vor dem Morgen"
(Originaltitel "Før morgendagen")
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel.
Unionsverlag, 2006. 192 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen