Jørn Riel: "Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf"

Eine arktische Safari


Mitreißende, humorvoll erzählte Geschichten aus dem Nordosten Grönlands

Zwanziger Jahre: Eine dänische Handelsgesellschaft unterhält in Nordostgrönland eine kleine Kolonie von Tierfängern. Diese leben einzeln, zu zweit oder selten auch zu dritt in kleinen Stationen und jagen Moschusochsen, Eisbären, Robben, Füchse und andere arktische Tiere. Allesamt sind sie trotz ihres sehr unterschiedlichen Hintergrundes - unter ihnen befinden sich ein frischgebackener Abiturient mit hochfliegenden Plänen, ein verschlafener Schlachter, ein ehemaliger Leutnant, ein Graf (der in der Arktis unverdrossen Wein, Getreide und Gemüse kultiviert), ein wunderlicher Isländer und ein Bücherwurm - eine eingeschworene Gemeinschaft von Sonderlingen und Aussteigern, die wissen, dass sie ohne die anderen nicht überleben können.

Riels Geschichten ranken sich um diese Männer, ihren Alltag und ihre Abenteuer. Da ist zum Beispiel der Abiturient Anton, der mit vielen Idealen und Erwartungen in die Arktis kommt, die rasch enttäuscht werden. Anton bekommt in der arktischen Nacht einen Koller und möchte im Frühjahr alles hinwerfen. Das Lied einer Schneeammer bringt ihn dazu, diese Entscheidung zu überdenken und seine Ziele anders zu stecken.

Die zwei folgenden Geschichten sind spannend, aber auch voller Komik, so jene von Siverts, der, von einem Eisbären überrascht, in der Folge ständig völlig falsch reagiert, und dessen Leben schließlich ein versehentlich gelöster Schuss seines Gewehrs rettet, der ihn beinahe selbst getötet hätte; oder die über den kauzigen Valfred und den Leutnant, die in einer Bucht Robben jagen und durch das Kalben eines Gletschers auf einen Eisberg verfrachtet werden, woraus sich eine unfreiwillige lange Reise ergibt.

Was aber macht man mit einer von der Handelsgesellschaft geschickten englischen Lady, die von den im Umgang mit Damen gänzlich ungeübten Fängern auf ihrer Moschusochsen-Safari geführt werden möchte? Und mit einem Politiker und Forscher, dessen Arbeit ihnen die Lebensgrundlage zu entziehen droht?

Das Buch enthält also einen Reigen aus dreizehn Geschichten, teils mit einem ernsten oder auch tragischen Hintergrund, teils originell. Alle sind sie spannend verfasst und vom großen Einfühlungsvermögen des Autors geprägt, der alle Regungen der arktischen Eigenbrötler glaubwürdig vermittelt, und der Humor tritt selbst in den packendsten Augenblicken derart unvermittelt und mitreißend zu Tage, dass der Leser das Lachen nicht zurückhalten kann. Überhaupt hat Riel im Rahmen seines gewaltigen Erzähltalents die Fähigkeit, Situationskomik sehr trocken und knapp darzulegen. Das Buch lebt nicht nur von der Spannung und der Melancholie vieler Geschichten sowie den äußerst gelungenen Charakterstudien, sondern gerade auch von diesem Sinn für Humor und Tragikomik. Der Stil ist unkompliziert und den Geschichten angemessen. Da der Autor den Nordosten Grönlands bereist und dort längere Zeit zugebracht hat, besitzt er zudem Ortskenntnis und ist mit dem Leben auf dieser überwiegend unwirtlichen Insel, insbesondere während des arktischen Winters, vertraut.

Am Ende des Buchs berichtet Jørn Riel über das Glück des Schreibens, darüber, wie er zu seinen Geschichten fand, die ihren Hintergrund in Erzählungen der letzten Fänger Grönlands haben, denen er in den Fünfzigern noch begegnete.

Man muss kein Grönland- oder Arktisliebhaber sein, um sich für Riels Geschichten zu begeistern. Es kann aber geschehen, dass man sich ein bisschen in die liebenswerten Figuren und ihre natürliche Umgebung verliebt - oder vielleicht nur in Jørn Riels Begabung, sie zum Leben zu erwecken?

(Regina Károlyi; 07/2006)


Jørn Riel: "Nicht alle Eisbären halten Winterschlaf"
(Originaltitel "En arktisk safari og andere skoner")
Aus dem Dänischen von Wolfgang Th. Recknagel.
Unionsverlag, 2002. 265 Seiten.
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