Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben"
"Ich bin Literatur." (Franz Kafka)
Wenn sich ein
Literaturkritiker auf
den Weg macht, sein eigenes Leben in literarischer Hinsicht in die Waagschale
zu werfen, kann dies leicht in einer Katastrophe ausarten. Nämlich dann, wenn
der besagte Kritiker sich in eine schwer lesbare Methode der Autobiografie flüchtet.
Genau das Gegenteil trifft auf die persönliche Geschichte des "Literaturpapstes"
Marcel Reich-Ranicki zu. Schon von der ersten Seite an ist klar, dass er sich
vorgenommen hat, ein lesbares Buch für interessierte Menschen zu schreiben. So
wie es ihm von Anfang seiner Karriere an wichtig war, seinen Lesern lesbare Buchrezensionen
anzubieten.
Die Autobiografie des bekanntesten Buchkritikers
deutscher Zunge zu rezensieren, ist eine besondere Herausforderung. Er verlangte
von sich stets, der Literatur zu dienen. Und sein persönlichstes Buch so zu repräsentieren,
dass es den Leser dieser Zeilen zu interessieren beginnt, ist eine Verneigung
vor der Literatur selbst. Schließlich muss eines ganz deutlich herausgestrichen
werden: Das Heimatland des Mannes, dessen Verdienst es ist, Literatur auch öffentlich
gemacht zu haben ("Das literarische Quartett"), ist eben die Literatur.
Reich-Ranicki wuchs in Polen auf, lebte als Kind in Berlin, kam dann ins Warschauer
Getto, und kehrte später wieder nach Deutschland zurück. Aber er nimmt für sich
in Anspruch, nirgends zu Hause zu sein. Und so kommt es nicht von ungefähr,
dass wohl drei Viertel seiner Autobiografie sich speziell mit seinen Erfahrungen
rund um die Literatur beschäftigen. Er streut
Heinrich Böll Rosen, da dieser
ihm sehr hilfreich war, als er noch in Polen lebte (und auch nachher noch).
Seine Begegnungen mit
Brecht,
Kästner, Köppen,
Bachmann,
Frisch,
Canetti
usw. beschreibt er lebendigen Herzens und ohne auch nur geringste Beschönigung.
Bald fand er heraus, dass die wichtigsten Eigenschaften eines Autors (egal ob
erfolgreich oder nicht) Egozentrik, Selbstverliebtheit, und unermüdliches Sprechen
über das eigene Werk sind. Darin enttäuschte ihn kein Schriftsteller. Die Episoden,
die aus dieser Besonderheit heraus entstanden sind, machen den heiteren Teil
des Buches aus.
Alles scheint rund um die Literatur
angeordnet. Kindheit und Jugend; geprägt von Erfahrungen literarischer Natur.
Selbst im Warschauer Getto ist er von den Büchern nicht abzubringen; betätigt
sich sogar als Musikkritiker. Die Liebesgeschichte mit seiner Frau ist wohl die
einzige Dimension, die einer vollkommen eigenständigen Quelle entspringt. Und
nimmt den wichtigen Platz ein, der ihr gebührt. Vom ersten Kuss zur überstürzten
Eheschließung im Warschauer Getto, über die gemeinsame Flucht vor dem sicheren
Tod zum Versteck bei dem Polen Bolek bis zum Zeitpunkt des Entstehens der Autobiografie.
Was hatte es mit der Einleitungsmusik zum "Literarischen Quartett" auf sich? Warum heißt er eigentlich Reich-Ranicki? Was hat er mit Politik am Hut? Er gibt auf nahezu alle auftauchenden Fragen sehr ausführliche Antworten.
Marcel Reich-Ranicki liebt die Literatur, und nach der Lektüre dieses Buches ist sehr leicht zu verstehen, warum er sie als sein Heimatland sieht. Ich kann nur ganz in seinem Sinne schreiben:
Lesen Sie dieses Buch. Sie werden es
nicht bereuen!
(Jürgen Heimlich)
Marcel Reich-Ranicki starb am 18. September 2013 im Alter von 93 Jahren.
Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben"
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2001. 565 Seiten.
ISBN
3-4210-5149-6.
ca. EUR 25,-.
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Taschenbuch:
dtv. 565 Seiten.
ISBN 3-4231-2830-5.
ca. EUR 11,50.
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