Volker Reiche: "Strizz. Das erste Jahr"

Zum ersten Mal erschien "Strizz" am 21. Mai 2002 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Es war keineswegs vorherzusehen, welchen immensen Erfolg dieser Comic-Strip ernten würde.


Regelmäßige Comic-Strips sind in Tageszeitungen eine Seltenheit. Manchmal gibt es internationale Anleihen wie etwa Garfield. Der unmittelbare Vorgänger von "Strizz" war Steven Applebys "Mein normales Leben" gewesen und hatte nur wenige Leser für sich begeistern können. Dass "Strizz" schon heute einen "Kult"-Status erreicht hat, ist der einmaligen Konzeption zu verdanken, der sich der Autor bedient.

Es ist alles andere denn eindimensional, was der Leser vorgesetzt bekommt. Die Figuren altern zwar nicht; entwickeln sich jedoch weiter. Jede einzelne Figur hat eine spezifische charakterliche Ausprägung, durch die sehr rasch eine Identifikationsmöglichkeit entsteht. Die Strips sind ineinander verwoben, obwohl es keine Einheitlichkeit gibt. Der Geniestreich besteht darin, die verschiedensten Figuren miteinander in Bezug zu bringen und somit ein "eigenes, kleines Universum" zu entwerfen, in dem sich erstaunliche, verrückte, bedrückende, humorige oder philosophische Dinge abspielen. Für Comics unüblich ist die textuelle Komponente. Auf nur acht bis neuen Bildern wird unglaublich viel erzählt. Durch die Kompaktheit der textuellen und zeichnerischen Elemente ergibt sich eine weitverzweigte Spielwiese, auf der der Leser entweder in Verzückung geraten oder aber von der literarischen Qualität erstaunt sein kann. Ein Comic-Strip mit literarischem Niveau auf relativ hoher Ebene ist zweifelsfrei eine Rarität. Genau jenes vollzieht sich bei "Strizz".

Nunmehr wurden alle Comic-Strips des Jahres 2002 (vom 21. Mai bis zum 31. Dezember) in ein Buch gepackt, und somit hat auch der nicht auf die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" abonnierte Leser die Möglichkeit, die Abenteuer von Strizz und der nunmehr zu erwähnenden Figuren zu verfolgen. Die Titelfigur "Strizz" ist ein großer, dürrer, stets auf Gehaltserhöhung drängender Zeitgenosse, der durch allzu langsame Arbeitsweise seinen Chef zur Weißglut bringen könnte. Er hat das Glück, alleine in einem Büro zu arbeiten, und so teilt er sich die Zeit ein, ohne von irgendwelchen Mitarbeitern belästigt zu werden. Strizz ist ein Einzelgänger; übrigens die einzige Komponente, die ihn mit seinem Chef verbindet. Doch es deutet sich eine zarte Liebesbeziehung mit einer gewissen Irmi an, die ihn aus Versehen anruft und gleich mal gründlich beschimpft. Es dauert mehrere Monate, bis sich die beiden erstmals im Stadtpark begegnen. Diese Besonderheit wird dadurch hervorgestrichen, dass dieses Treffen der einzige Comic-Strip ist, der sich über zwei Seiten des Buches ausbreitet. Ansonsten beaufsichtigt Strizz seinen Neffen Rafael, der für sein Alter (neun Jahre oder so!) unglaublich klug ist, und Spaghetti mit Ketchup über alles liebt. Der liebenswerte Rafael spielt gerne mit seinen Freunden Driver (Spielzeugauto), Krock (Krokodil), Teddy (eh klar) und Dino (auch klar). Er bildet zusammen mit seinen stummen Spielzeugen das "philosophische Quintett" und tut sich dadurch hervor, dass er mit Brillanz doziert, und die vier weiteren Philosophen selbst dann kaum zu sprechen kämen, wenn sie sprechen könnten.

Der Chef von Strizz hat einen überaus unangenehmen Kater namens "Herr Paul" zum Haustier. "Herr Paul" hat ziemlich menschliche Züge an sich und repräsentiert durch sein selbstbeweihräucherndes und hedonistisches Gehabe den erfolgsorientierten Menschen der Neuzeit. Als Mensch wäre er kaum zu ertragen; durch die "Verniedlichung" als Kater kann er schon mal über die Stränge schlagen und Müller drastische Vorträge halten. Müller ist übrigens der Hund von Irmi, der Freundin von Strizz, und so etwas wie der ewige Zweifler und Dulder, der nie auf einen grünen Zweig kommt. Müller muss stets darauf aus sein, seinem lieben Frauchen Freude zu machen. Das weiß er auch und will sich eigentlich gar nicht mit Herrn Paul streiten. Darum hält er schon mal lieber sein Maul. Auch Müller wäre als Mensch eher nicht zu ertragen, da er viel zu sehr der Bodenhaftung dienlich sein will und darüber hinaus sein Spektrum an Möglichkeiten übersieht. Als Hund ist er aber prädestiniert, Fräulein Irmi ein lieber Gefährte zu sein, und das "Hol's Stöckchen"-Spiel mit Perfektion zu betreiben.

Das Besondere an "Strizz" ist die tagesaktuelle Komponente. Es gibt zahlreiche Folgen der Comic-Serie, die auf realen Geschehnissen aufgebaut sind bzw. sich daran anlehnen. Deutsche Innenpolitik ist ein wesentlicher Faktor. Von der Hartz-Kommission über die Arbeitslosigkeit bis zur Rentenreform und der Wahl reicht die Palette. Doch selbst für österreichische Leser muss das kein Grund sein, sich zu fadisieren: Wird doch oft die deutsche Mentalität auf die Schippe genommen. Wie überhaupt geschrieben sein muss, dass Strizz dem den Germanen auf den Leib geschriebenen perfektionistischen Erfolgsstreben widerspricht. Strizz wirkt weniger wie ein Angestellter eines deutschen, mittelständischen Unternehmens, sondern mehr wie ein unterforderter, ständig der Langeweile preisgegebener, übelgelaunter, inkompetenter Beamter österreichischen Zuschnitts. In diesem Sinne können also ruhig österreichische Leser an "Strizz" Gefallen finden.

Zwei Besonderheiten dieses "Strizz"-Bandes möchte ich hervorheben. Zum Einen gab es anlässlich der "Frankfurter Buchmesse 2002" das große "Strizz-Literaturpreisrätsel", das vom 7. bis 11. Oktober 2002 Leser des Comics anhand exemplarischer Szenen aus verschiedensten Werken der Weltliteratur, die natürlich von den Figuren Strizz, Herr Paul, Leo usw. gespielt werden, vor die Aufgaben stellte, die jeweiligen Werke bzw. Autoren zu identifizieren. Eine herrliche Idee, wie ich finde! Faust I und Bartleby hätte der Rezensent mühelos erkannt. Er wäre aber höchstwahrscheinlich an Zwerg Nase gescheitert; ein Märchen, das er kaum hätte dechiffrieren können ...
Insgesamt waren elf Werke bzw. Autoren zu erraten!

Zum Anderen ist es das immer wieder auftauchende spielerische Element, welches Strizz so liebenswert macht. Dieser Mann weiß nicht so recht, was er mit Irmi anfangen soll, als er endlich ein Treffen mit ihr vereinbaren konnte. Was soll er über sich selbst sagen? Was zeichnet ihn aus?
Er löst dieses Problem, indem er ihr den Spielplatz zeigt, wo er seinerzeit so glücklich gewesen, und von der Atmosphäre verzaubert zu unglaublichen Erkenntnissen vorgedrungen war! Strizz spielt auch gern "Fußballweltmeisterschaft" mit den Spielzeug-Freunden seines Neffen Rafael und baut einen Aktenschrank zum Fußballtor um. Rafael verkörpert da schon eher den gewitzten Knaben, der weiß, wo's langgeht, und seine Spielzeugfiguren zu Sprachrohren seiner überdurchschnittlich entwickelten Intelligenz macht. Diese scheinbare Unterlegenheit des Onkels gegenüber dem Neffen ist teilweise zum Schreien komisch und macht wie viele andere Dinge Lust auf mehr.

Dieser erste Sammelband der "Strizz"-Comicstrips, auf den hoffentlich bald weitere folgen werden, hat meine Erwartungen bei weitem übertroffen. Volker Reiche hat ein "Comic-Universum" geschaffen, dem schon viele deutsche Leser huldigen mögen. So sei es spätestens mit der Veröffentlichung dieses gesammelten Bündels an der Zeit, dass "Strizz" viele österreichische Leser findet, die sich an den mannigfaltigen Abenteuern von Strizz und seinen Mitstreitern erfreuen!

(Jürgen Heimlich; 04/2004)


Volker Reiche: "Strizz. Das erste Jahr"
C.H. Beck, 2004. 185 Seiten.
ISBN 3-406-51075-2.
ca. EUR 9,90. Buch bestellen

Band 2: "Das zweite Jahr"
Wie geht es weiter mit Strizz und seinen Freunden? Strizz denkt sich neue raffinierte Möglichkeiten aus, seinem eintönigen Büroalltag zu entfliehen, jede konzentrierte Arbeit zu vermeiden, eine Gehaltserhöhung zu erreichen, und seine Freundin Irmi zu beeindrucken. Kater Paul wird im Umgang mit seinen treuen Freunden Dackel Müller und dem dichtenden Hofhund Tassilo immer frecher und vorlauter. Rafael lüftet das lange gehütete Geheimnis, wer seine Eltern sind und warum er bei seinem Onkel Strizz lebt. Giraffe Leonie wird ins "Philosophische Quintett" aufgenommen - jetzt heißt es "Neues Philosophisches Sextett" und legt erst richtig los! STRIZZ als der Zeitgeist-Comic Deutschlands spiegelt so in subtilen Beobachtungen die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Landes und ist für viele inzwischen unentbehrlich geworden. (C.H. Beck, 2004) Buch bei amazon.de bestellen

Band 3: "Das dritte Jahr"
Was geschah im dritten Jahr? Strizz kauft sich eine Pfeife und beginnt, ein Buch zu schreiben, um reich und berühmt zu werden. Neffe Rafael gelingt es in der Kant-Woche, sich mit praktischer Philosophie die Taschen zu füllen. Ratte Lilo begibt sich auf eine österliche Reise, um den Sinn des Lebens zu ergründen, während Hofhund Tassilo zauberhafte Haikus dichtet. Herr Paul strebt mit Energie das Amt des Bundespräsidenten an und demonstriert während der Europameisterschaft 2004 und im Ausblick auf die Weltmeisterschaft 2006 seine unnachahmlichen Fußballkünste. Im Sommer zieht es Irmi nach Italien. Strizz bleibt allein zurück und stürzt in eine tiefe Eifersuchtskrise. Archivar Berres sieht die Zeit zum Handeln gekommen und richtet in seinem Wohnmobil die Zentrale der Wahrheit ein. Im Oktober schließlich wird die Welt von Strizz zur rätselhaften Opernbühne ... All dies ereignet sich vor dem kritisch beleuchteten Hintergrund des aktuellen Geschehens aus Politik, Wirtschaft und Kultur. (C.H. Beck, 2005) Buch bei amazon.de bestellen

Zu einem Interview mit Volker Reiche ...

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