Albert Sánchez Piñol: "Im Rausch der Stille"
Endstation Trugbilder: Reif für die Insel?
Wir ähneln denen, die wir hassen, mehr als
wir denken. Und deshalb glauben wir, dass wir denen, die wir lieben,
nie ganz nah sind. Als ich mich einschiffte, kannte ich dieses grausame
Gesetz bereits. Doch es gibt Wahrheiten, die unsere Beachtung
verdienen, und solche, mit denen wir uns besser nicht befassen. |
"Im Rausch der Stille", so der für den
deutschen Sprachraum gewählte Titel von Albert
Sánchez Piñols Romanerstling, ist eines jener
Bücher, die man geradezu verschlingt. Stilistisch und
inhaltlich fesselnd, fasziniert der sensationelle Roman von der ersten
bis zur letzten Seite. |
Die
Zutaten für die bekömmliche Mischung, die den "Rausch
der Stille" ergibt, sind erprobte Klassiker:
Eine winzige, raue Insel gleichsam am Ende der Welt, zwei charakterlich
höchst unterschiedliche Männer, ein weibliches Wesen
und eine tödliche Bedrohung, die gegenständlich nicht
"aus heiterem Himmel", sondern aus den Tiefen des Ozeans kommt.
Darüber, was sich im Einzelfall aus diesen simpel anmutenden
Gegebenheiten entwickelt, entscheiden das Talent sowie die Fantasie des
jeweiligen Schriftstellers. Was also brodelt unter der
Oberfläche?
Dem 1965 in Barcelona geborenen Anthropologen Albert Sánchez
Piñol gelingt es mit Bravour, Stück für
Stück Gegenwart, Lebensläufe und Denkwege seiner
beiden Protagonisten, die das Schicksal an einem unwirtlichen Ort auf
Gedeih und Verderb zusammengeschmiedet hat, zu enthüllen, in
Beziehung zueinander zu setzen, aufeinander prallen zu lassen,
Naturschauspiele furios abzubilden und abwechselnd das
Erzähltempo beklemmend zu steigern und spannungsgeladen zu
drosseln.
Auf dem Buchumschlag der deutschen Ausgabe prangt übrigens
eine Papierschleife mit der werbeträchtigen Aufschrift: "Platz
1 der spanischen Bestseller-Listen. Mehr als 100 Wochen auf der
Bestseller-Liste. Übersetzt in 27 Sprachen."
Albert Sánchez Piñol erhielt
für seinen im Jahr 2002 in Spanien erschienenen
Debütroman den renommierten Literaturpreis "Ojo critico de
narrativa".
Der Icherzähler, ein Waisenkind, ehemaliger irischer
Freiheitskämpfer und Fachmann für Marinelogistik,
soll ein Jahr auf einer gottverlassenen Insel im Südatlantik,
die nur einmal im Jahr von einem Schiff angelaufen wird, als
Wetterbeobachter zubringen. "Ich war nicht der Gefangene
meiner kleinen Insel, nur der meiner Erinnerungen" und "Wollte
ich in einer von Gewaltspiralen gesteuerten Welt bleiben, die das
Unglück der Menschen endlos fortsetzte? Meine Antwort lautete
nein, nie mehr und nirgends, und darum entschied ich mich für
die Flucht in eine Welt ohne Menschen." Er will in der
selbstgewählten Einsamkeit Abstand vom gefährlich
närrischen Trubel Europas gewinnen.
Bei der Ankunft auf der Insel trübt nichts, bis auf die
Tatsache, dass sein Vorgänger, den er ablösen soll,
verschwunden zu sein scheint, die wildromantische Szenerie: Das
vorgefundene Häuschen wirkt zwar ein wenig verwahrlost,
genügt jedoch auf den ersten Blick den Ansprüchen.
Das zweite Bauwerk auf der Insel ist ein zur Festung ausgebauter
Leuchtturm, doch dessen Bewohner, der sich als Batís
Caffó vorstellt, ansonsten wortkarg und
gleichgültig bis feindselig agiert, kann oder vielmehr will
vorerst keinerlei Auskunft oder Hilfestellung geben.
Wie sollte der namenlos bleibende Icherzähler auch ahnen, dass
allnächtlich das Grauen in Form von Scharen amphibischer
Ungeheuer dem Meer entsteigt, offenbar von unbezähmbarer Gier
nach Menschenfleisch getrieben?
So ist das Entsetzen groß, als sich die nächtlichen
Angreifer mit voller Wucht auf das kleine Haus stürzen und der
Wetterbeobachter um sein Leben kämpfen muss.
An Schlaf ist unter diesen Umständen tage- und
nächtelang klarerweise nicht zu denken, denn bei Einbruch der
Dunkelheit nähern sich die Bestien, und bei Tag gilt es, die
Unterkunft sicherer zu machen.
Doch die Ereignisse überstürzen sich: Der
Erzähler nimmt vor der Übermacht Reißaus
und findet nach turbulenten Stunden und einer sonderbaren Entdeckung
doch Zuflucht im Leuchtturm, mehr geduldet als willkommen.
Denn zur großen Überraschung des verhinderten
Wetterbeobachters beherbergt der im Leuchtturm hausende germanische
Grobian ein weibliches Exemplar der Meeresungeheuer, "Froschkerle", in
der Diktion Batís Caffós, das "Maskottchen", wie
er es nennt: Aneris. Diese überwiegend teilnahmslos (oder auch
entrückt) erscheinende Kreatur verrichtet einfache Arbeiten
und dient ihm als Lustsklavin, doch auch der Neuankömmling
kann sich der sexuellen Anziehungskraft der kalthäutigen "Sirene"
(nicht von ungefähr lautet die wörtliche
Übersetzung des Originaltitels "Die kalte Haut"), die das
Herannahen ihrer Artgenossen stets mit unheimlichem Gesang
ankündigt, nicht entziehen. Ein vor dem aufbrausenden
Batís Caffó (er könnte vielleicht ein
Mörder sein) lange Zeit verheimlichtes Treiben nimmt seinen
Lauf: "Sie machte, dass ich mir über die Lust meines
Körpers bewusst wurde, indem ich ihn von mir trennte und
jegliche Beziehung zwischen meiner Person und meiner Lust aufhob, die
ich wahrnehmen konnte, als ob sie etwas Lebendiges wäre." und:
"Ich schlief mit ihr, wann immer ich konnte."
Aneris, womöglich magischer Mittelpunkt des
Geschehens, hegt übrigens keinerlei Fluchtabsichten, so
interpretiert der Icherzähler ihr Verhalten: "Ich
hatte mich von den Meinen losgesagt, sie von den Ihren. Das war alles.
Der einzige Unterschied war, dass Aneris den Citauca (den
"Ungeheuern"; Anm.) näher war als ich den Menschen."
"Und wenn ich es erst nicht recht glauben wollte, so machte sich in mir
die Vorstellung breit, dass, ohne es zu wissen, sie die Zuflucht war,
die ich seit meiner Flucht aus Europa gesucht hatte. Wenn ich sie nur
anschaute, wenn ich sie nur berührte - in diesen Momenten gab
es die Grausamkeiten des Leuchtturms nicht. Und ich stellte fest,
über mich selbst erschrocken, dass es mich gar nicht
interessierte, ob sie mehr oder weniger menschlich, mehr oder weniger
Frau war."
Mit unzähligen Sprengladungen und enormem Munitionsverbrauch
versuchen die Schicksalsgefährten, die unerbittlich
angreifenden Ungeheuer auszurotten, freilich umsonst: So viele
blaublütige "Froschkerle" sie auch töten, es kommen
ihrer immer mehr aus dem Ozean. Die Situation eskaliert zusehends, und
es scheint keinerlei Ausweg zu geben; die Insel ist ein
verwüstetes Schlachtfeld.
Eine Kette von Ereignissen und Erlebnissen (z. B. trifft der
Wetterbeobachter während eines Tauchgangs zu einem
Schiffswrack auf harmlose, verspielte Jungungeheuer, und auch die
"Sirene" verblüfft ihn durch gewisse "menschliche" Regungen)
führt jedoch schließlich dazu, dass der
Icherzähler sein Verhalten gegenüber den amphibischen
Lebewesen ändert, sie nicht länger gedankenlos
abschlachtet, missbilligend beobachtet vom "Herrn des Leuchtturms", der
Nacht für Nacht seine Strategie der Verteidigung gegen die
zahlenmäßig überlegene, unbewaffnete Schar
fortsetzt, eben nicht aus seiner (keineswegs kalten) Haut herauskann.
Ob auf "Andersartige" oder "Ihresgleichen" geschossen wird, stellt
für nicht wenige Menschen den ausschlaggebenden Unterschied
dar, ob sie sich als Helden oder als Verbrecher fühlen; die
(Un)Logik des Krieges.
"Im Rausch der Stille" werden große Daseinsthemen
unaufdringlich, weil wohldosiert, nichtsdestoweniger tiefsinnig
behandelt; (Freiheits-)Kampf, Sadismus, Mordlust und Feindbilder,
Einsamkeit, Identitätszweifel und Resignation,
Kommunikationsunfähigkeit.
Findet die erbitterte Auseinandersetzung ein Ende? Bewährt
sich Caffós Strategie oder die des Erzählers, oder
bleibt alles, wie es ist: Ein Kreislauf des Unabwendbaren, aus dem es
kein Entkommen gibt, mit wechselnden Darstellern? Ist Rettung in Sicht?
Wo und wie überschneiden bzw. berühren sich die
Erlebniswelten von Individuen? Wo endet die Verlässlichkeit
nonverbaler Verständigung, wo lauert die Falle einer
Fehlinterpretation beim Umgang mit dem Unbekannten? Ist Aneris gar der
Auslöser der Kämpfe?
Der außergewöhnliche Roman wartet mit teils
überraschenden Antworten auf, überlässt
allerdings auch vieles dem Vorstellungsvermögen des Lesers,
denn die Fantasie hat - gottlob - ihre eigenen Spielregeln.
(kre)
Albert Sánchez Piñol: "Im Rausch der Stille"
(Originaltitel "La pell freda")
Aus dem Katalanischen von Angelika Maass.
Fischer Taschenbuch. 256 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Weitere Bücher des Autors:
"Der Untergang Barcelonas"
Barcelona um 1700: Zuvi ist vierzehn, etwas unverschämt, ein
Taugenichts mit rabenschwarzem Haar. Als ihn der Graf Vauban auf sein Schloss
einlädt, ändert sich Zuvis Leben schlagartig. Tochter Jeanne führt ihn in die
Liebeskunst ein, und Vater Vauban, der berühmteste Baumeister seiner Zeit, lehrt
ihn, die sichersten und schönsten Festungsmauern zu bauen. Aber dann tobt der
Spanische Erbfolgekrieg, und Zuvis Heimatstadt Barcelona droht, eingenommen zu
werden. Zuvi, inzwischen mit allen Wassern gewaschen, hat einen genialen Plan -
und scheitert bitterlich. Machtlos muss er zusehen, wie seine geliebte Stadt in
Schutt und Asche zerfällt ... (S. Fischer)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Pandora im Kongo"
Im Kongo, diesem endlosen Meer von Bäumen, geschehen seltsame
Dinge. Was bedeutet das unheimliche Kreischen aus der Tiefe? Sind das die
Klänge der afrikanischen Nacht? Oder der Schrei nach Vergeltung? Thomson ist
"Ghostwriter" und erhält den Auftrag, Garveys Unschuld zu beweisen. Weshalb
ist er angeklagt?
Angeblich hat Garvey im Kongo zwei britische Aristokraten und
Goldgräber umgebracht. Thomson schreibt dessen Geschichte auf - der Angeklagte
muss unschuldig bleiben, unbedingt. Auf der Suche nach der Wahrheit
gerät Thomson immer tiefer in Afrikas Mitte: undurchdringliche Vegetation, emotionale
Verstrickungen und ein Netz endloser Lügen. (Fischer)
zur Rezension ...
Buch
bei amazon.de bestellen