Pham Thi Hoai: "Sonntagsmenü"
Eine Kurzgeschichtensammlung, geschrieben von der 1960 geborenen Vietnamesin Pham Thi Hoai, die sich in ihrem Land zunächst als Übersetzerin der Werke von Günter Grass, Franz Kafka und Friedrich Dürrenmatt einen Namen gemacht hat. Seit einiger Zeit lebt die LiBeraturpreisträgerin des Jahres 1993 (diese Auszeichnung wird ausschließlich an Frauen vergeben) abwechselnd in Hanoi und Berlin.
Die elf Kurzgeschichten dieser
Sammlung zeigen sehr deutlich die Einflüsse der Werke der europäischen
Literatur, die Pham Thi Hoai übersetzt hat,
womit sie in gewisser Weise der Arbeit
von
Haruki Murakami folgt, dabei allerdings eine eigene vietnamesische - und
weibliche - Sichtweise an die Sache heranträgt. Tatsächlich sollte der
vorhergehende Satz nur der ungefähren Orientierung jener Leserschaft dienen, die
bereits mit Murakamis Werk vertraut ist, denn trotz vieler Berührungspunkte
schreibt Pham Thi Hoai ihre ganz eigenen Geschichten.
"Sonntagsmenü", die Titelgeschichte, setzt sich mit der Achtung vor den Ahnen und den Alten in
der vietnamesischen Gesellschaft auseinander und ist ein überaus passender
atmosphärischer Einstieg in eine Geschichtenreihe, die für einige europäische
Leser bisweilen ungewohnte Klänge enthalten mag.
Danach folgen einige
Geschichten - wie etwa "Die Puppen der Alten", "Allumfassende
Liebe" und "In einem Regen", welche gerade das Verhältnis der
jungen und alten Generationen Vietnams zum Thema behandeln, während sich "Tribut
des Meeres", "Fünf Tage" und "Ein Held" in erster
Linie mit Beziehungen zwischen Mann und Frau beschäftigen, die in der
vietnamesischen Gesellschaft deutlich veränderten Spielregeln gegenüber dem
mitteleuropäischen Verständnis folgen. Hierbei spielt oft auch die Frage der
geplanten und zufälligen Prostitution eine große Rolle, was besonders in
"Die Schneiderei Saigon" klar zu Tage tritt.
Kafka und
Grass werden besonders durch die Geschichten "Der Besuch", "Die Republik
der Dichter" und "Die Geschichte von Meister A.K., dem Intellektuellen von Hanoi"
gewürdigt, wobei "Der Besuch" das Verhältnis der "primitiven" Randbereiche Vietnams
zum "zivilisierten" Teil unter die Lupe nimmt. In "Die Republik der Dichter"
wird genau das beschrieben, was der Titel aussagt, wobei sich der Rezensent
hier sogar teilweise an
Swift erinnert sah, und die letzte Geschichte ist eine deutliche Verbeugung
vor Kafka und vor Dürrenmatt.
Wer mit dem Werk Franz Kafkas nichts anfangen kann, wird sich mit diesen
Kurzgeschichten eher schwer tun. Wer allerdings die genannten Bezugsautoren schätzt
und bereit ist, sich auf die besondere Sprache und Bildwelt hinter diesen
Geschichten einzulassen - wobei auch ein kurzes Glossar am Ende des Buchs
behilflich ist - wird an diesem Band sicherlich seine Freude haben.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2005)
Pham Thi Hoai: "Sonntagsmenü"
Aus dem Vietnamesischen von Dietmar Erdmann.
Unionsverlag, 2005. 205 Seiten.
ISBN 3-293-20328-0.
ca. EUR 10,20.
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Pham Thi Hoai studierte Archivwissenschaften und war Mitarbeiterin am Institut für Gesellschaftswissenschaften in Hanoi. 1983 begann sie zu schreiben, aber ihr erster Novellenband, "Fünf Tage", konnte erst nach der Liberalisierung Vietnams im Jahr 1986 erscheinen. Ihr Erstlingsroman "Die Kristallbotin" (Rowohlt, 1992) erschien 1988 in der Zeitschrift des vietnamesischen Schriftstellerverbandes gekürzt, später in der unzensierten Fassung.