Ranya Paasonen: "Der Stand der Sonne"

Mit ihrem mit mehreren finnischen Literaturpreisen ausgezeichneten Debutroman tritt Ranya Paasonen in die Fußstapfen großer europäischer Romanciers und lässt dabei ihre orientalisch beeinflusste Erzählkunst sinnlich zu Hochform auflaufen.


Als Tochter einer schlanken helläugigen und hellhäutigen groß gewachsenen Finnin namens Anu und ihres ägyptischen Vaters Ismael, dessen Name bedeutet, dass Gott all seine Gebete erhört, der in seiner Jugend in Amerika studierte und später in seiner Heimat als Hydrogeologe arbeitete, wächst Paasonen in unterschiedlichen Kulturkreisen und Ethnien auf.

Sie erzählt von ihrem Leben mit ihrer Schwester und ihren Eltern in Libyen, Ägypten, Indien und Finnland, immer wieder schildert sie die schicksalhafte Begegnung ihrer Eltern im Zug auf der Fahrt von Luxor nach Assuan und die Suche nach ihrer eigenen Identität, der eigenen Zugehörigkeit, ihrem eigenen Leben.
Geprägt von gänzlich verschiedenen Wurzeln fällt es ihr schwer, diesen Weg zu finden. Sie betet mit ihrem Vater zu Allah und wird dadurch der Mutter fremd, sie singt auf finnisch mit der Mutter und wird vom eigenen Vater nicht verstanden.

Alltägliche Situationen werden in ihrem Elternhaus unterschiedlich gemeistert: der Vater schält Orangen langwierig und kunstvoll in langen Spiralen, die als duftender Schmuck um das Handgelenk gewunden werden können, die aus dem hohen Norden kommende praktische Mutter hingegen schneidet in die Schale der Früchte vier Spalten, die sich ganz leicht mit dem Daumennagel abheben lassen. Beides fasziniert die Protagonistin, - als Synonym für ihr Leben erklärt es anschaulich die Schwierigkeit das subjektiv Richtige für sich selbst zu finden, Kompromisse einzugehen und sich abzugrenzen.
Die Liebe der Eltern zueinander verändert sich und damit auch das Familienleben.

Die von der Tochter nach Jahrzehnten erzählte Begegnung der Eltern, deren Liebesgeschichte zugleich unauslöschliche Auswirkungen auf das Leben der Töchter hat, wird auf erzählerisch dichte und atmosphärische Weise beschrieben. Immer wieder springt der Erzählstrang zwischen einst und jetzt, verbindet, trennt, erklärt Zusammenhänge, sucht, findet.
Nach und nach wird klar, dass die Autorin stark autobiografisch ihren Weg nachzeichnet, sich dabei selbst als eigenständige Persönlichkeit findet und ihre eigene Beziehungsfähigkeit, ihren eigenen Lebensstil, ihre eigenen Vorlieben und Abneigungen erkennt.

Paasonen schreibt auf eigentümlich poetische Weise, in ihren Beschreibungen vermeint der Leser den intensiven Duft der Mangos und Orangen zu riechen, die abendlichen Rufe des Muezzins zum Gebet in der Moschee zu vernehmen, das engelshafte Strahlen der jungen Mutter leuchten zu sehen.

Ein kleines Kunstwerk für das eigene Nachtkästchen.

(Gabriele Klinger; 08/2004)


Ranya Paasonen: "Der Stand der Sonne"
Übersetzt von Stefan Moster.
dtv, 2004. 160 Seiten.
ISBN 3-423-24398-8.
ca. EUR 12,90.
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Ranya Paasonen wurde 1974 im indischen Madras als Tochter einer finnischen Mutter und eines ägyptischen Vaters geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie in Indien, Tschad, Saudi-Arabien, Libyen, Ägypten und Finnland, wo sie seit 1987 lebt. Studium an der Universität Helsinki: Semitische Sprachen, Islamwissenschaft, Philosophie, Slawistik und Politische Geschichte.

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Leseprobe:


2.

Mein Vater begegnete meiner Mutter im Zug auf der Fahrt von Luxor nach Assuan. Mein Vater, der Löwe, mein Vater, dessen Augenwinkel voller Furchen waren vom Lachen und vom Zusammenkneifen, sagte zu meiner Mutter: mein Name ist Ismael, und das bedeutet, dass Gott all meine Gebete erhört, so ist es immer gewesen und so wird es immer sein, und mein Vater lächelte verschmitzt mit seinen Augen und mit seinem Mund, und meine Mutter sagte: mein Name ist Anu, und das bedeutet gar nichts, und manchmal, wenn meine Mutter vor dem Himmel stand, hatten ihre Augen und der Himmel die gleiche Farbe. Hinter meinem Vater stand Gott und hinter meiner Mutter stand gar nichts.

Jetzt ist August. Der Himmel ist voller fliegender Sterne. Manchmal bleiben wir bis zum Morgen wach, warum sollten wir schlafen? Wir reden über Bücher und Kinder und fremde Städte. Die Sommerblumen sind verwelkt, bald werden die Preiselbeeren reif, und der Wald riecht nach Pilzen. Die Äpfel fallen von den Bäumen. Wir essen Blaubeerkuchen auf der Veranda des Sommerhauses, und wenn unsere Gedanken sich zu sehr beeilen, stolpern sie übereinander. Nur die wichtigsten Wörter werden ausgesprochen, oft nicht einmal die. Nachts ist es so dunkel, dass wir uns nicht sehen. Wir reichen einander die Hand, und wenn wir Wein in den Gläsern haben, verschütten wir ihn vielleicht. Die Felsen sind warm geworden, wie das Meer. Nachts lassen wir uns treiben, überlassen uns dem Wasser. Nur unsere Fingerspitzen berühren einander, und wir sind still, endlich.

Ismael und Anu. Einst bildeten sie meine gesamte Wirklichkeit, und damals konnte ich nachts schreien, ohne dass ein Ton aus meinem Mund drang. Sie waren so groß, dass sie alle Ecken ausfüllten, alle Winkel, das Licht war von ihnen entzündet worden, und als es erlosch, war ich noch nicht groß genug, es wieder anzuzünden, und da wusste ich, dass ich ihrem Licht ganz und gar ausgesetzt war. Sie waren so groß, dass ich nicht mit hineinpasste in ihre Welt, keinesfalls. Wenn ich am Tisch saß, um eine Apfelsine zu schälen, wusste ich, dass ich vier Schnitte in die Schale machen konnte, damit sie sich leicht ablösen ließ, so machte es meine Mutter.

Aber ich wusste auch, dass ich die Schale in einer langen Spirale herunterschneiden und für eine Weile wie einen Schmuck über mein Handgelenk schieben konnte, so machte es mein Vater. Und wenn meine Mutter sagte, Trinkwasser ist frischer, wenn man keine Essenzen aus den Blütenblättern von Rosen hineingibt, dann schob mein Vater die Apfelsinenschale über mein Handgelenk wie einen Schmuck. Eine Apfelsine kann man auf zwei Arten schälen, aber ich kann sie nicht auf beide Arten schälen, wenigstens nicht dieselbe Apfelsine, keinesfalls, und so saß ich lange am Tisch, draußen geschahen allerlei Dinge, an denen ich nicht teilnahm, und ich konnte auf dieser Welt nicht mit beiden zusammen sein. Ganz und gar nicht.

Aber jetzt ist August, ich bin gewachsen, und sie sind kleiner geworden, auf meine Größe geschrumpft, außerdem gibt es so viel anderes auf der Welt, junge Menschen, die so groß sind wie ich, die so aussehen wie ich, ich suche nicht mehr nach einer Macht, der ich mich unterwerfen, in deren Schatten ich bleiben könnte, wohinter ich mich verstecken, in deren Innerem ich mich verlieren und sterben könnte. Schreie ich jetzt in der Nacht, wache ich auf, und ich habe mein eigenes Leben und fürchte mich nur selten. Jetzt kann ich die beiden vor mir aufbauen wie die Puppen, mit denen ich als Kind spielte, und ich weine nur selten, denn Freude und Trauer haben endlich an ein und denselben Ort gefunden.

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