Cilla Naumann: "Eriks Zimmer"

Der Einbruch einer Tragödie in das Leben einer ganz normalen Familie 


Erik, Sonja und Olof sind eine ganz normale kleine Familie. Sonja, die Juristin, und Olof, der Kinderarzt, sind die Eltern des zur Zeit noch studierenden Erik, der seine ganze Kindheit und Jugendzeit über ein sehr ruhiges und unauffälliges Kind gewesen ist, das besonders durch wenig Kuschelbedürfnis, große Unabhängigkeit und wenig Freundschaften aufgefallen ist. Im Kreise der Kolleginnen, Kollegen und Freunde ist das Ehepaar ziemlich beliebt und anerkannt, wenn sich die Leute auch immer wieder wundern, warum die beiden - trotz ausreichendem Einkommens - keine weiteren Kinder bekommen haben. Es hat nicht an Versuchen gemangelt, und auch vom biologischen Standpunkt betrachtet scheint mit den beiden alles in Ordnung zu sein. Und so leben die drei - manchmal ergänzt durch Eriks Freundinnen - entweder in der Stadt oder in einem kleinen Häuschen auf Udden unauffällig und - wie sie sich sicher sind - glücklich und zufrieden.

Eines Tages wird im dritten Jahr hintereinander ein grausiger Mordfall von den Medien bearbeitet, und diese Morde scheinen irgendwie miteinander zusammen zu hängen. Als Olof und Sonja an diesem Tag nach Hause kommen, hören sie zu ihrem Entsetzen, dass ihr Sohn als einer der Hauptverdächtigen in diesem Fall in Haft genommen worden ist. Und plötzlich sind die beiden gezwungen, ihr gesamtes bisheriges Leben in Frage zu stellen und dies geschieht, während sie durch die Berichterstattung in den Medien, durch die Reaktionen ihrer Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunde immer mehr in die Isolation gedrängt werden in unsystematischen Rückblenden, die teilweise auf Olofs und Sonjas Kindheit zurückgehen und teilweise ihr gemeinsames Leben vor und nach Eriks Geburt beschreiben. Dabei zeigt sich, dass ihre Lebensläufe durchaus nicht so gradlinig glücklich verliefen, wie sie sich immer eingeredet haben, und den Leserinnen und Lesern - wenn auch nicht den Protagonisten - wird zunehmend deutlich, dass zwischen den Mitgliedern dieser Familie sehr viele Dinge immer unausgesprochen blieben. Und weil vor dem Hintergrund dieser in ihr Leben getretenen Krise Sonja und Olof nun nicht doch beginnen, miteinander zu reden, bewegen sich die beiden emotional - aber auch räumlich - immer weiter voneinander fort, bis zu Prozessbeginn Sonja bereits seit einiger Zeit alleine in der Stadt und Olof alleine auf Udden lebt.

Mit dem Prozessbeginn endet der Roman, in dessen Verlauf die genauen Details und Eriks Beteiligung an dem zur Diskussion stehenden Verbrechen niemals ganz deutlich gemacht werden. In der Tat lernen wir Erik selber in diesem Roman kaum kennen, so wie auch Sonja und Olof das Gefühl bekommen, dass sie ihren eigenen Sohn niemals wirklich gekannt haben. Im Aufzeigen, wie ein solches Ereignis die Selbstwahrnehmung einer Familie auflöst und verändert ist Naumann hier ein hervorragender Roman gelungenen, dessen Sprache sehr genau die verwirrte Gefühlswelt der Protagonisten spiegelt. Das ist nicht unbedingt leicht zu lesen und zwangsläufig, wie alles, was das richtige Leben spiegelt, teilweise langatmig oder widersprüchlich, aber wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, ist dies sicherlich ein sehr interessantes Buch.

Cilla Naumann wurde 1960 geboren, arbeitete zunächst als Journalistin und debütierte 1995 mit "Wasserherz". Für diesen Romanerstling erhielt sie den Preis für das beste literarische Debüt des Jahres, den Katapult Preis. Seither hat sie zwei weitere vielbeachtete Romane veröffentlicht; "Eriks Zimmer" ist ihr vierter Roman, der ebenfalls gleich nach Erscheinen großes Lob von der schwedischen Literaturkritik erhielt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 07/2003)


Cilla Naumann: "Eriks Zimmer"
Deutsch von Paul Berf.
dtv, 2003. 280 Seiten.
ISBN 3-423-24331-7.
ca. EUR 15,-.
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