Haruki Murakami: "Sputnik Sweetheart"


Wer bereits vier Romane eines Autors gelesen hat, wartet insgeheim auf den Augenblick, wo er sagt: "Dem fällt auch nichts Neues mehr ein." "Der dreht sich im Kreis." Oder "Der plagiiert sich selbst."
Nicht so Haruki Murakami. Jeder seiner Romane ist auf erstaunliche Weise neu, originell und tiefgründig.
Nach "Gefährliche Geliebte", "Mister Aufziehvogel", "Naokos Lächeln" und "Wilde Schafsjagd", von denen mich vor allem die drei ersten tief berührten, bin ich von "Sputnik Sweetheart" noch mehr angetan; möglicherweise, weil Murakami in diesem stillen melancholischen Roman stärker als in den vorhergehenden auf äußere Effekte und die Aufnahme von Sexszenen verzichtet.

Der Inhalt ist schnell skizziert. Der Ich-Erzähler, ein junger Tokioter Grundschullehrer, ist in tiefer Freundschaft mit Sumire verbunden, ohne dass es die geringste Aussicht auf Erfüllung körperlicher Sehnsüchte gäbe, denn die von schriftstellerischem Ehrgeiz geplagte Sumire ist wiederum Miu, einer älteren verheirateten Geschäftsfrau, leidenschaftlich zugetan, die Sumire zwar als Assistentin und gute Freundin akzeptiert, nicht aber als Geliebte. Ein mysteriöser Vorfall während ihres Studiums in der Schweiz hat jedes körperliche Begehren in ihr abgetötet.

Der Ich-Erzähler hält sich zwar eine Geliebte, die attraktive Mutter eines seiner Schüler, und auch Miu zieht ihn sexuell an, doch letztlich bedeuten sie ihm beide nichts im Vergleich zu seinem unerschütterlichen Gefühl für Sumire.
"Da saß ich nun auf einer winzigen griechischen Insel mit einer schönen älteren Frau, die ich erst gestern kennen gelernt hatte, und frühstückte. Diese Frau liebte Sumire, war jedoch außerstande, sie sexuell zu begehren. Sumire liebte und begehrte diese Frau. Ich wiederum liebte und begehrte Sumire. Sumire dagegen hatte mich zwar gern, war aber weder in mich verliebt noch begehrte sie mich. Ich meinerseits begehrte eine verheiratete Frau, die ich jedoch nicht liebte. Die Lage war höchst verzwickt - wie in einem existentialistischen Theaterstück. Es ging weder vor noch zurück, und Alternativen gab es auch nicht." (S. 132)

Während eines gemeinsamen Kurzurlaubs mit Miu auf einer kleinen griechischen Insel verschwindet Sumire ganz plötzlich, löst sich auf "wie Rauch" und taucht auch nicht wieder auf.
Miu ruft den Ich-Erzähler auf die Insel, damit er, Sumires vertrautester Freund, ihr bei der Suche helfe, beide bleiben aber merklich untätig, als wüssten sie, dass alles Suchen zwecklos ist und Sumire nie wieder auftauchen wird.

"Liebesgeschichte und Krimi, Buch voller Geheimnisse und wunderbare Meditation über die menschliche Existenz", heißt es im Klappentext. Einem Lektor, der solche oberflächlichen und falschen Aussagen hinschludert, sollte der Verlag das Gehalt kürzen oder ihn lieber gleich entlassen.

Der Roman bietet - außer dass jemand verschwindet - nicht die geringsten Ansätze zu einem Krimi, und eine Liebesgeschichte ist er ebenfalls nicht, denn es gibt weder eine Entwicklung in den Beziehungen noch ein glückliches Ende; alle Protagonisten verharren in der Ausgangsposition, allerdings mit einem veränderten Bewusstsein.
Der Roman ist ein permanentes Nachdenken über Einsamkeit, Freundschaft, Liebe und die Kräfte, die zwei Menschen anziehen oder abstoßen. Er gewinnt weit reichende philosophische Dimensionen, die den Leser nicht unberührt lassen und zum Nachdenken über seine eigene Umlaufbahn einladen.

Der Titel des Romans - "Sputnik Sweetheart" - wirkt auf den ersten Blick blöd, trifft aber genau ins Zentrum dessen, was Murakami bewegt: "Wir sind in derselben Welt und sehen denselben Mond. Wir sind durch eine Linie mit der Wirklichkeit verbunden. Ich brauche sie nur noch einzuholen, zu mir heranzuziehen." (S. 222) Doch was ist die Wirklichkeit? Jeder schafft sich unbewusst seine eigene, als Hölle oder Paradies. Jeder zieht - wie ein Satellit im Weltall - seine einsame Bahn, ohne jemals auf dieselbe Umlaufbahn seines "Sputnik Sweetheart", seines geliebten "Gefährten" zu gelangen.
"Ich lauschte mit geschlossenen Augen und dachte an die Abkömmlinge des ersten Sputnik, die unentwegt die Erde umkreisen und deren einzige Bindung an sie die Schwerkraft ist. Als einsame, metallene Seelen in der schrankenlosen Dunkelheit des Weltalls begegnen sie sich, schießen aneinander vorbei und bleiben für alle Ewigkeit getrennt. Zwischen ihnen gibt es keine Worte und keine Versprechen." (S. 192)

Es ist ein Roman der Übergänge
Traum und Wirklichkeit, ja, verschiedene Wirklichkeiten, die diesseitige und die der "anderen Seite" verschwimmen und überschneiden sich. Stabil bleiben die Gefühle: das der Freundschaft Sumires für den Erzähler, die ungestillte Sehnsucht des Erzählers nach Sumire, selbst über deren Verschwinden im realen Leben hinaus. Er opfert sogar die bequeme Beziehung zu seiner Geliebten, um sich noch intensiver dem Andenken Sumires widmen zu können.
"Außer einigen lebhaften Erinnerungen ... hatte Sumire mir nur ein paar lange Briefe und die Diskette hinterlassen. Inzwischen habe ich die Briefe und ihre Texte so oft gelesen, dass ich sie auswendig kann. Jedes Mal, wenn ich sie lese, habe ich das Gefühl, Sumire wäre bei mir, und unsere Seelen begegneten sich. Das erwärmt mein Herz mehr als alles Andere. Es ist, als ob man nachts im Zug eine weite Ebene durchquert und durch das Fenster in der Ferne das kleine Licht eines Bauernhauses sieht. Im nächsten Augenblick hat die Dunkelheit es wieder verschluckt, doch wenn man die Augen schließt, verweilt der Lichtpunkt noch für einen Augenblick ganz schwach auf der Netzhaut." (S. 216)

Leitmotivisch ziehen sich Verluste durch den Roman: Menschen, Fähigkeiten, Gefühle gehen verloren, doch - und das ist der einzige schwache Trost - können ein höheres Maß an Erkenntnis und ein tieferes Empfinden mitunter das Verlorene kompensieren, so dass Verlusten ein tieferer Sinn in der Entwicklung einer Persönlichkeit zugewiesen wird. Verlust muss nicht zwangsläufig Verarmung bedeuten, sondern kann auch Wandlung und Häutung bewirken:
"Dennoch werde ich nie wieder so sein wie vorher. Von morgen an werde ich ein anderer Mensch sein. Natürlich wird niemand in Japan die Veränderung bemerken. Auch wenn nach außen hin alles so sein wird wie immer, ist in mir etwas verloschen. ... Eine Tür geht auf und schlägt wieder zu. Licht aus. Heute ist mein letzter Tag. Der letzte Sonnenuntergang. Wenn die Nacht hereinbricht, werde ich nicht mehr hier sein. Ein Anderer wird meinen Körper bewohnen." (S. 191)

Dieser Roman öffnet Türen in der Seele des Lesers und schlägt sie so schnell nicht wieder zu.

(Diethelm Kaminski; 09/2004)


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