Haruki Murakami: "Gefährliche Geliebte"

Wieder einmal lässt Haruki Murakami einen Ich-Erzähler antreten, damit dieser seine Lebensgeschichte ausbreiten kann.


Dieser Ich-Erzähler namens Hajime ist männlich, in gehobenen Verhältnissen aufgewachsen, und hat eine Besonderheit unter den Gleichaltrigen seines Umfelds: Er ist ein Einzelkind. Damit stellt er in der Grundschule zunächst eine ungewöhnlich Ausnahmeerscheinung dar, und erst in der fünften Klasse lernt er ein weiteres Einzelkind kennen, das jedoch bald wieder aus seinem direkten Dunstkreis verschwindet. Diese erste Begegnung mit "Seinesgleichen", wenn auch vom anderen Geschlecht, soll alle seine weiteren Beziehungen mit seinen Mitmenschen bestimmen. So nimmt er nicht nur eine große Liebe zur leichteren klassischen Musik aus dieser Beziehung mit, sondern auch eine Vorliebe für die unausgesprochenen Einverständnisse, die Einzelkinder untereinander zu haben scheinen. Seine erste richtige Liebesbeziehung kommt deswegen auch nicht direkt zur Vollendung, weil die fragliche Dame viele Geschwister hat und er schließlich mit deren Kusine fremd geht, die älter ist als er, aber eben eine Einzelkind.

Als diese Beziehung auffliegt, hat er damit unwissentlich das Leben seiner Freundin für immer zum Negativen verändert. Sein eigenes Leben dümpelt hingegen für einige Zeit vor sich hin, bis er nach dem Abschluss eines eher desinteressierten Studiums eine Arbeit in einem Schulbuchverlag annimmt. Dabei ist er überaus unglücklich und zieht sich gleichzeitig immer mehr von den Menschen in seiner Umgebung zurück, bis er ganz isoliert von jedem gesellschaftlichen Kontakt lebt.
Doch eines Tages lernt er eine junge Frau namens Yukiko kennen und verliebt sich zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt wieder. Wenig später ist er verheiratet und bekommt von seinem Schwiegervater ein eigenes Unternehmen finanziert, das sich zu einem gut gehenden Jazz-Club entwickelt, der bald eine Filiale eröffnet. Neben den zwei Clubs hat Hajime auch noch zwei Töchter, ein reguläres und ein Ferienhaus und auch sonst so ziemlich alle Annehmlichkeiten, die sich ein Mensch nur wünschen könnte. Sein bisheriger Lebensweg lässt ihn das eigentlich auch gebührend wertschätzen. So ist er zufrieden. Bis eines Tages Shimamoto, seine Jugendliebe, in einem seiner Clubs auftaucht und allein schon durch ihre Anwesenheit seine gesamte Existenz in Frage stellt. Er erfährt nichts - oder fast nichts - von ihrem Leben seit dem zwölften Lebensjahr und wird trotzdem bei jedem neuen Treffen immer tiefer in Verwirrung gestürzt. Bis eine ungewöhnliche Nacht, die aus einem Gespenstermärchen für Erwachsene stammen könnte- seine Lebenskrise zum Höhepunkt bringt.

Der Weg, den man nicht gegangen ist, die Verletzungen, die man Anderen - oft unabsichtlich - zugefügt hat, und an die man sich immer wieder erinnert, sind die Hauptthemen dieses Romans. Und die alte Weisheit, dass man niemals zweimal in den gleichen Fluss steigen kann.

Der Protagonist, Hajime, ist unglaublich egozentrisch - wie er uns bereits auf den ersten Seiten erklärt -, und dies spielt in "Gefährliche Geliebte" insgesamt eine große Rolle. Trotzdem wird diese Figur dabei nie wirklich unsympathisch, was sicherlich eine der großen Leistungen dieses Romans ist, der auch sonst erzählerisch zum Besten gehört, was Haruki Murakami je geschrieben hat.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2005)


Haruki Murakami: "Gefährliche Geliebte"
(Originaltitel "Kokkyo no minami Taiyo no Nishi")
Aus dem Japanischen von Ditte und Giovanni Bandini.
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