Johann Georg Kohl: "Moskau 1841. Ein Reisebegleiter"
Herausgegeben von Kurt Scharr und Ksenia A. Scharr
Ein Schatz aus
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Der Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl gehörte zu den beliebtesten Autoren
des frühen 19. Jahrhunderts und ist heute zu Unrecht vergessen. Nicht wegen
seiner geografischen Städtestudien, wie der Herausgeber Kurt Scharr einleitend
meint, sondern wegen seiner Bildung, seiner Erzählkraft, seiner Neugierde und
seines hintergründigen Humors. Die Reise, die er vor über 100 Jahren von St.
Petersburg nach Moskau begann, steht in Reichhaltigkeit der Sprache den besten
deutschen Autoren in nichts nach. Kohl hat Sinn für Poesie, für
Landschaftsbeschreibungen, für Stimmungsbilder in einem Ausmaß, das heute
schon wieder unbekannt ist. Er ist diskret und hat einen sehr trockenen Humor,
der immer wieder zwischen den Zeilen aufblitzt.
In einer Einleitung meint der Bürgermeister von Moskau, Jurij Luschkow, das
Buch werde Touristen in die Stadt locken, die das Damals und Heute vergleichen
wollen. Gewiss bietet das Buch hier interessante
Einblicke. Am Besten, man fährt
dann von St. Petersburg die alte alexandrinische Chaussee dorthin (sofern es
davon noch Spuren geben sollte). Schwieriger wird es dann schon werden, der
Postkutsche voranzueilen im "tartarischen Stil". Einige Männer tun
sich bei einem Zwischenaufenthalt zusammen und requirieren Pferde und eine
behelfsmäßige Kutsche mit Knute, Flüchen und bestem Vertrauen darauf, dass
Aristokraten als Übermenschen anerkannt werden, egal, wie sie sich benehmen.
Und das mit Chuzpe gestartete Unternehmen gelingt, trotz eines Kutschers, der
auf einer zerbrochenen Bank fast auf die Straße hinab fällt, und trotz eines
einmal umkippenden Gefährtes. Das Ziel ist es, der Postkutsche wertvolle
Stunden voranzukommen, um sich die Städte auf dem Weg näher ansehen zu können,
was ganz im Sinne Kohls ist, der über die Stadt Twer berichtet, die hier in
Europa keiner kennt, und die damals doch schon Hunderttausende Einwohner und ein
reges Stadtbild aufweist.
In Moskau angekommen zeigt sich die wahre Qualität eines Reiseschriftstellers,
der hofft, dass seine Schriften die Zeit überdauern werden. Kohl ist fleißig
und entwirft mit kulturphilosophischen Anmerkungen gewürzte Bilder vom Kreml
und verschiedenen Palästen. Noch reizvoller aber ist seine Offenheit für
vieles Andere mehr. Er schildert die Märkte und zieht aus dem, was dort
feilgeboten wird, wo das Land steht, und welchen gesellschaftlichen Spannungen
es unterworfen ist. Er besucht Kirchen und Parkanlagen und spricht mit den
Menschen, erzählt kleine Geschichten zwischendurch, die Land und Leute
charakterisieren. Es ist keine große Literatur, aber es hat Leben und Stil und
ist für alle geeignet, die mit Büchern auf Reisen gehen - virtuell und reell.
Zur Aufmachung ist zu sagen, dass zahlreiche Lithografien und der schöne,
stabile Einband den Preis mehr als rechtfertigen. Der Anmerkungsteil ist solide,
wenn auch vieles unerklärt bleibt. Positiv zu vermerken ist der Aufsatz zu
Johann Georg Kohl als "gescheiterter" und spät rehabilitierter Geograf,
und natürlich hat es etwas, dass man den Moskauer Bürgermeister persönlich für
ein Vorwort gewinnen kann - wofür wahrscheinlich Kurt Scharrs Frau Ksenia als
gebürtige Moskowitin verantwortlich war. Für eine verdiente Zweitauflage würde
ich vorschlagen, dass man noch einen schematischen Lebenslauf und eine Werkübersicht
erarbeitet. Im heutigen Kulturbetrieb ist das etwas, das man von der Arbeit als
Herausgeber einfach verlangt. Das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses ist ein
weiterer Wermutstropfen, der aber dem Buch nichts von seiner Attraktivität
nehmen kann.
(Berndt Rieger; 11/2005)
Johann Georg Kohl: "Moskau 1841. Ein
Reisebegleiter"
Herausgegeben von Kurt Scharr und Ksenia A. Scharr.
Studienverlag, 2005. 284 Seiten.
ISBN 3-7065-4022-3.
Buch
bei amazon.de bestellen
Kurt Scharr, Mag. Dr., geboren
1970 in Mittersill i. Pinzgau, studierte an den Universitäten Innsbruck, Krakau
und Tel Aviv Geografie, Geschichte und im Erweiterungsfach Russisch. Er beschäftigt
sich hauptsächlich mit Fragestellungen zur historischen Geografie. Schwerpunktmäßig
liegen die Arbeitsgebiete im Alpen- und Karpatenraum. Zuletzt im Studienverlag
erschienen: "Die Karpaten - Balthasar Hacquet und das 'vergessene' Gebirge
in Europa" (2004).
Ksenia A. Scharr, geboren 1972 in Moskau, studierte an der Moskauer Staatlichen
Universität Kunstgeschichte und Alte Sprachen, sowie an der Universität
Innsbruck Übersetzung und Dolmetsch. Zahlreiche Fachübersetzungen aus dem
Deutschen ins Russische.
Noch ein Buchtipp:
Kurt Scharr (Hrsg.): "Die
Karpaten. Balthasar Hacquet und das 'vergessene'
Gebirge in Europa"
Die Karpaten zählen neben den Alpen zu den wichtigsten, zentral gelegenen
Gebirgsformationen Europas. Während des 19. Jahrhunderts versuchte man
zunehmend, sie für den Tourismus zu erschließen. Mit August 1914 fand diese
Entwicklung jedoch ein jähes und lang andauerndes Ende. Der Karpatenbogen
zerfiel in einzelne nationalstaatliche Teilsegmente: Tschechoslowakei, Polen,
Sowjetunion, Rumänien und Ungarn. Die verschiedenen nationalen Minderheiten
gerieten zum - sich vielfach nachteilig für die jeweils zahlenmäßig
unterlegene Bevölkerungsgruppe auswirkenden - Diskussionsgegenstand der oftmals
nationalistischen Tagespolitik junger Staaten auf der Suche nach ihrer Identität.
In der Folge waren und sind die Beziehungen zwischen diesen Staaten nach 1945
bis in die Gegenwart oftmals von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Erst seit
dem radikalen Systemwandel zwischen Dezember 1989 ("Revolution" in Rumänien)
und August 1991 (dem gescheiterten Putschversuch der Kommunistischen Partei in
Moskau) öffneten sich neue Perspektiven auf diese Länder Osteuropas. Und
trotzdem, mehr als ein Jahrzehnt nach der weitgehend gewaltlosen Revolution in
Europa fand die Wahrnehmung des Karpatenraumes aus westeuropäischer Sicht
bisher nur sehr zögerlich und auf kleine Fachkreise beschränkt statt.
Es liegt also nahe, dem Karpatenraum mehr als bisher Aufmerksamkeit zu schenken,
die über die einseitige Wahrnehmung - nicht zuletzt gefördert durch die Romane
von Bram Stoker ("Dracula", 1897) und
Jules Verne ("Das
Karpatenschloss", 1892)
sowie deren breitenwirksamen Verfilmungen - hinausgeht. Das gemeinschaftliche
Wahrnehmen von Gebirgsräumen, ihrer Problemhaftigkeit und Bedeutung für die
Zukunft sollte dadurch - ähnlich jenem der Weltmeere - eine weiter verbreitete
Akzeptanz finden als bisher.
Die umfassend bearbeitete Neuausgabe von Balthasar Hacquets Reisebeschreibung
der Karpaten bietet dazu einen zentralen Anstoß! (Studienverlag)
Buch
bei amazon.de bestellen
Leseprobe:
Das Magazin Luchmannow's
Daß kleine, untersetzte, schabröckige Leute viel Geld in der Tasche haben können,
hatte ich schon
in
Petersburg
und anderswo gesehen, und eben so hatte ich hier und da die Erfahrung gemacht,
daß ein Mensch bei einer für das Erlernen von Französisch oder Griechisch unvortheilhaften
Organisation doch dasjenige Kopforgan der Schlauheit, welches Geld in den Sack
bringt, in vorzüglicher Vollkommenheit besitzen kann. Ich wunderte mich daher
nicht, in dem reichen Besitzer jenes oben genannten Magazins einen alten, abgeschabten
Grünrock mit langem, weißem Barte zu finden, der weiter keine Sprache zu sprechen
verstand als das gute Russisch der Moskauischen Bauern, der aber freilich dann
in dieser Sprache viel Interessantes offenbaren konnte, da er 50 Jahre hindurch
mit halb Russland handelte, an seiner Bude fast alle russischen Großen dieser
Jahre mehre Male anklopften, und durch seine Hände schon mehr als ein Mal alle
Ducaten Moskaus wandelten.
Man findet in dem Magazine Luchmannow's Kostbarkeiten aller erdenklichen Art
zur Schau und zum Ankaufe ausgestellt, und man wird schwerlich etwas in dieser
Art Reicheres und Vollständigeres finden. Man sieht hier unter Anderem ganze
Schränke mit unzähligen kleinen Schubläden, und jeden Schubladen mit Tabatieren
der kostbarsten Arbeit angefüllt, es sind darunter viele von