Mark Benecke: "Mordspuren"
Von
Vampiren, Kannibalen und
Serientätern
Der Gerichtsmediziner Mark Benecke lädt seine Leser nun schon
zum dritten Mal ein, sich mit ihm auf Spurensuche zu begeben, und auch
dieses Mal
gilt die Suche wieder lange verblichenen Mordspuren. Das klingt schon
einmal recht
interessant und spannend. Eine Mischung aus Spannung, Information und
Grusel
verspricht uns denn auch vollmundig der Umschlagtext auf der
Rückseite des
Bandes. Leider kann das Buch den Erwartungen, die der Werbetext beim
Leser schürt,
nicht immer gerecht werden.
Wie steht es beispielsweise mit dem angesprochenen Gefühl des
Gruselns? Was ist
denn so gruselig an der Vorstellung, dass Menschen, die verstorben
sind, in Fäulnis
übergehen und dadurch ihren ganz persönlichen Beitrag
leisten, das Leben, das
ihnen genommen wurde, weiterzugeben an zahllose Kleintiere und
Mikroorganismen,
die sich von dem verwesenden Körper nähren. Logisch,
Beneckes Leichen sehen
anders aus als der zum Verzehr präparierte Kadaver eines
goldbraun gebratenen
Grillhähnchens. Und sie riechen auch anders. Unappetitlich und
vielleicht auch
ekelerregend für verzärtelte Gemüter. Mark
Benecke berichtet denn auch
ungeschminkt und in deutlichen Worten über seine Arbeit, ohne
dass ihm dabei
aber effekthascherische Geschmacksrohheiten unterlaufen wären.
Auch ist der
Text keineswegs übertrieben sensationsgeschwängert,
obwohl dort spektakuläre
Kriminalfälle zur Sprache kommen. Dies sei also
zunächst einmal als ein
deutliches Positivum herausgestellt. Ein Gruseln allerdings wird
zumindest den
Durchschnittsleser bei der Lektüre dieses Buches kaum
überkommen.
Wie ist es aber nun um die Spannung und um die Information bestellt?
Ist
Beneckes Buch tatsächlich spannender als jede Fiktion,
spannender als jeder
Krimi? Wohl kaum. Da müssten wir unseren Krimiautoren
allerdings ein schlechtes
Zeugnis ausstellen, falls dies zuträfe. Benecke erweist sich
beim Erzählen
seiner Mordgeschichten als ein Erzähler mit mehr
journalistischen und
selbstdarstellerischen als mit wirklichen
Erzählerqualitäten. Dazu passt auch
die Schlagzeile der "Märkischen Allgemeinen": "Gerichtsbiologe
Mark Benecke im
Audimax der FH Brandenburg wie Popstar gefeiert." Ja, Mark
Benecke ist eben
ein Spurenleser, der sowohl
Winnetou
als auch Sherlock
Holmes
mühelos in den
Schatten stellt. Der noch an einem mit Maden gespickten Hals erkennen
kann, ob
eines Affen haarige Würgepratzen oder in Glacehandschuhen
steckende Finger ursächlich
für das todbringende Einschnüren dieses Halses waren.
Dies ist jetzt
keineswegs zynisch gemeint, denn es ist in der Tat erstaunlich und
anerkennenswert, was Mark Benecke und seine Kolleginnen und Kollegen in
mühseliger
Kleinarbeit noch nach Jahren oder gar Jahrzehnten an
verschütteten
Informationen ans Tageslicht fördern können. Mit
unerbittlichem Eifer und
hingebungsvoller Akribie entschlüsseln sie die Hieroglyphen
der Verwesung und
des Verfalls. Und der Aufwand, den sie bisweilen treiben
müssen, der scheint
auch mir gerechtfertigt. Mark Benecke selbst hat es auf Seite 321
seines Buches
sehr treffend formuliert: "Das Leben ist das kostbarste und
höchste
Rechtsgut, das wir Menschen haben. Wer ein Menschenleben
vorsätzlich
vernichtet, begeht das schwerste Verbrechen, das wir kennen. Daraus
ergibt sich
die zwingende Verpflichtung, von staatlicher Seite aus alles zu tun, um
eine
solche Straftat aufzuklären. Würde man die
Aufklärung davon abhängig machen,
welcher Aufwand, welche Kosten und welche Erfolgsaussichten damit
verbunden
sind, wäre dies der Anfang vom Ende unseres Rechtsstaates."
Immer wieder stellt der Autor die Frage nach dem Warum, nach den
Motiven der Täter.
Aber die Antwort, die muss er uns schuldig bleiben.
Zwangsläufig. Niemand kann wissen, ob und wann der
Teufel-aus-dem-Kasten einer verkorksten Kindheit
aus dem Unbewussten ins Bewusstsein springt und dann zur (Un)Tat
schreitet. Ist
dieser Drang zum Töten, von dem der Triebtäter
beherrscht wird, tatsächlich
und in jedem Fall das Ergebnis äußerer
Einflüsse auf den Menschen, oder sind
wir alle potenzielle "Bestien"?
Ist der unselige Trieb wirklich eine Macht,
die jeder Willenskraft spottet?
Die Fragen, mit denen der Autor nach eigenem Bekunden am
häufigsten
konfrontiert wird, sind ganz banaler Natur, wie: "Ist das nicht eklig?"
oder
"Gibt es den perfekten Mord?" Mich würde eher interessieren,
wie oft ihm
schon von "höherer Seite" nahegelegt wurde, Befunde und
Ermittlungsergebnisse einfach unter den Tisch zu kehren. Immerhin
klingt dieses
brisante Thema im Bericht über den Mord an einem Programmierer
schon einmal an.
Wichtigste Erkenntnis aus dem, was wir von Mark Benecke gelernt haben
ist wohl
die, dass man den Aussagen eines Menschen erst dann Glauben schenken
darf, wenn
er kalt und steif und infolgedessen auch tot ist. Und um diese stumme
Sprache
der Toten zu deuten oder zu interpretieren, verrichten Mark Benecke und
seine
Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit.
"Mordspuren" ist das Werk eines Wissenschaftlers, aber es ist kein
wissenschaftliches Buch im eigentlichen Sinne. Den Leser zu
unterhalten, war
wohl vorrangiges Bestreben des Autors. Und mit einigen Abstrichen ist
ihm das
auch gelungen. Formal ist das Buch eingeteilt in sieben Kapitel. Das
erste
Kapitel, das den Themenkomplex Kannibalismus und Vampirismus
behandelt,
schien
mir noch das interessanteste. Da erfahren wir unter anderem, woran es
liegt,
dass bis in die Neuzeit hinein Menschen Gräber öffnen
und dann beim Anblick
der Leiche fest davon überzeugt sind, dass dort ein Vampir im
Grabe liegt, der
sich mit dem Blut der Lebenden mästet. Kapitel zwei ist etwas
langatmig geraten
und schildert die Aufklärung eines schon lange
zurückliegenden Mordfalles in
England, bei dem zum Schluss aber immer noch leise Zweifel an der
Schuld des
mutmaßlichen Täters bestehen bleiben. Zwei
Serienmörder, Jürgen Bartsch und
Luis Alfredo Garavito, werden im dritten Kapitel den Lesern
vorgestellt. Was ich
nicht verstehe ist, dass hier beinahe über fünfzig
Seiten Briefe des Serienmörders
Jürgen Bartsch an einen ungenannten Briefpartner abgedruckt
wurden. Warum? Es
handelt sich dabei meiner Ansicht nach mehr oder weniger um reines
Geschwafel.
Auffallend ist, dass nicht nur im Fall Jürgen Bartsch, sondern
auch an anderer
Stelle, wenn es um spektakuläre Mordfälle geht, immer
wieder der Name des
sogenannten "Star-Verteidigers" Bossi auftaucht. Man fragt sich da
manchmal: Sind
wir hier im Showgeschäft?
Kapitel vier beinhaltet die Aufklärung eines fast perfekten
Verbrechens. Dieses
Kapitel ist wieder recht interessant und kurzweilig. In den noch
folgenden
Kapiteln werden dann in verkürzter Form weitere
ungewöhnliche Verbrechen sowie
auch andere denkwürdige Ereignisse aufgeführt, unter
anderem der tiefe Fall
eines blinden Passagiers, der im Fahrwerksschacht eines Flugzeuges
mitreisen
wollte. Auch den schnellsten
Schützen
der Polizei von Los
Angeles stellt uns
Mark Benecke vor. Der Mann schießt wahrhaftig schneller, als
es die Polizei
erlaubt. Ziehen, Zielen und Abfeuern von neun Schüssen in
unglaublichen 1,826
Sekunden. Wohin ein solches Talent aber führen kann, das mag
jeder Leser selbst
in Mark Beneckes "Mordspuren" nachlesen. Rätselhaft bleibt
mir, was die
Interviews mit Programmierern in diesem Buch zu suchen haben, selbst
wenn ein
Fall dabei ist, wo es sich bei dem Opfer um einen Programmierer
handelt. Im Großen
und Ganzen ist das Buch trotz der angesprochenen Mängel ganz
unterhaltsam, der
große "Hit", wie uns der Umschlagtext suggerieren
möchte, ist es hingegen nicht.
(Werner Fletcher; 08/2007)
Mark
Benecke: "Mordspuren"
Gustav Lübbe Verlag, 2007. 496 Seiten.
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Hörbuch, gelesen vom Autor:
Lübbe Audio, 2007.
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