Ernst Molden: "doktor paranoiski"

Unsterbliche im Wienerwald, der große Plan und der 'Tag X' ...


'Der folgende Text ist die gewissenhafte und lückenlose Abschrift von drei analogen Audiokassetten, die unlängst eine Person namens Dr. Christoph Salzer nach vorhergehendem Telefonat in einem Espresso im neunten Wiener Distrikt für den Herausgeber hinterlegt hat.'
Mit ebendiesen Worten wendet sich die Romanfigur 'der Herausgeber' eingangs an den Leser, zitiert aus einem den Kassetten beigefügten Begleitschreiben und tritt daraufhin umgehend in den Hintergrund, das Gehörte feinsäuberlich protokollierend.

Warum dieser Kunstgriff? Mitunter geraten Romanfiguren außer Rand und Band, und manch ein Autor muss inmitten der selbstgeschaffenen literarischen Wildnis Distanz zwischen sich und die unbändigen Geschöpfe bringen, wobei die eingeschobene Ebene eines Berichterstatters zweifelsohne nutzbringend sein kann. Wer allerdings Ernst Moldens vorherigen Roman kennt, wird ahnen, dass diesem Grenzsituations-Dompteur gar nichts unabsichtlich entglitten ist und der Autor somit keinesfalls gezwungen war, eine gekünstelte Knautschzone in Form einer dubiosen Rahmenhandlung zu konstruieren.
Vielmehr erwartet man geradezu begierig, in die Eigendynamik eines mehrdimensionalen zerstörerischen Sogs einzutauchen, darin enthemmte Individuen treiben, gefährlich hinter ihren unscheinbaren Alltagsmasken gärend. Man begegnet der Natur in der Doppelrolle als Darstellerin und aufgeladene Kulisse - und dies alles im Nahbereich der Gefahrenzone Wien - (innerhalb des Verkehrsverbundes Ost-Region nicht von ungefähr als 'Kernzone 100' ausgewiesen) - beziehungsweise in der 'unfreien Wildbahn' der Bundeshauptstadt selbst.

Wieso existieren Tonbandaufnahmen dieses Mannes, und was macht sie beachtenswert? Eine seiner Funktionen innerhalb der Gruppe der Unsterblichen war (ist?) die exakte Aufzeichnung seiner Erlebnisse ab dem Zeitpunkt seines fingierten Ablebens. Der aus einer Großgärtner-Dynastie stammende studierte Botaniker und Publizist Doktor Christoph Salzer täuscht am 16. März seinen Tod vor: Er ist seines schalen, leeren Lebens überdrüssig und will einfach hinaus. So hofft er etwas naiv, mit einem Schlag sämtliche Probleme abzuschütteln. Ein befreundeter Hilfsarbeiter einer Prosektur liefert einen 'passenden' Leichnam und hilft dem Aussteigewilligen, den Toten und die Wohnung in der Fasangasse im 3. Wiener Gemeindebezirk in Brand zu setzen. Der umweltbewusste Dr. Salzer fährt daraufhin mit einem Bus der Wiener Linien auf den Kahlenberg, um sein Heil als Zivilisationsflüchtling in stadtnahen Waldgebieten zu suchen. Im Bus bemerkt er eine rothaarige Frau, die ihn wiederholt auffordernd ansieht.

Wie sich Wochen später herausstellt, gehört diese rätselhafte Person der Kommandoebene der Unsterblichen an. Diese - nun ja - paramilitärische Organisation verfolgt folgende Ziele: Erstens die Auflösung der Staaten, zweitens die Abschaffung des Geldes, drittens die Bewaldung der Städte. Ihre Mitglieder leben, nur mit dem Allernötigsten versorgt, in Wäldern. Sie hirschen und pirschen unbemerkt von der restlichen Menschheit querwaldein und rauben schon einmal in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen Supermarkt aus, um ihren Salzvorrat aufzustocken.

Doch vorerst schleppt sich Doktor Salzer tagelang durch die gezähmte wenngleich keineswegs anheimelnde Flora, und sowohl sein Wohlbefinden als auch der eigens präventiv angefressene Wanst leiden Höllenqualen: Das Dasein als Vogelfreier ist so ersprießlich nicht - sieht sich der bislang gutsituierte Akademiker doch gezwungen, seine Marschrouten entlang der Mistkübel, welche die Spazierwege säumen, auszurichten, die seine Nahversorger - (nah & frisch!?) - darstellen! Bald erkrankt er an Durchfall und bietet einen furchteinflößenden Anblick, wird vom Platzhirsch, dem Sandler-Sadhu namens Josef verprügelt und vertrieben und von einem Mann der Naturwacht Niederösterreich Süd krankenhausreif geschlagen. Die bei dieser Aktion gebrochene Rippe und die später tastbare Einbuchtung am Knochen sowie die zutrauliche Krähe Nebel stellen untrügliche Konstanten dar und helfen Doktor Salzer noch einige Male, nicht den Verstand zu verlieren. Das klingt zwar paradox, ergibt aber sehr bald Sinn.
Denn was nun anhebt, ist eine Geschichte, die in gewisser Weise an den Film '12 Monkeys' erinnert: Zeit- und Orientierungsverlust, Gewaltexzesse, déjà-vu-Erlebnisse; die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verschwimmen mehr und mehr, wobei Doktor Salzer sich seines Hier und Jetzt nicht immer gewiss sein kann. An Knackpunkten des Romans bekommt er nämlich mit schöner Regelmäßigkeit eins übergezogen und kippt in tiefe Bewusstlosigkeit, aus der er an den seltsamsten Orten wieder erwacht ...

Nach dem schmerzhaften Zusammentreffen mit dem Organwalter der Naturwacht erlangt Doktor Salzer das Bewusstsein in einem verborgenen Bombentrichter wieder, umgeben von Mitgliedern der Gruppe der Unsterblichen, die jedes Detail aus seinem Leben zu kennen scheinen und offenbar Gedanken lesen können. Er wird auf deren Ziele eingeschworen, und seine Verletzungen werden behandelt. Er absolviert ein hartes Training, lernt die Kommandoebene kennen, der Realidád, die attraktive Frau aus dem Bus angehört. Sie ist es auch, die ihm seinen Kampfnamen gibt: Doktor Paranoiski. So avanciert der 'neugeborene' Doktor Paranoiski im Verlauf eines Salzraubzuges zum ruhmreichen Helden, als er drei 'Latex-Polizisten' erschießt. Diese geheime Spezialeinheit der Exekutive existiert angeblich, um die Unsterblichen zu vernichten, wobei die Öffentlichkeit weder von den Aktivitäten der einen noch der anderen Truppe Kenntnis hat.
Die Schießerei verschafft Salzer sowohl Anhänger als auch Widersacher in höchsten Kreisen, und einmal entkommt er nur aufgrund einer Warnung durch Realidád, die ihm ihre Liebe gesteht, einem Hinterhalt.

Doktor Paranoiski führt geheime Spezialaufträge aus; unter anderem rekrutiert er zwei Selbstmordkandidaten für die Unsterblichen, während die intern zerstrittene Gruppierung auf den ominösen 'Tag X' hinarbeitet. Im Vorfeld werden kostspielige Sabotageaktionen durchgeführt. Die Organisation verfügt über Fahrzeuge, konspirative Treffpunkte in noblen Vorstadtvillen, und ihre Anführer leben selbstverständlich nicht mit den gemeinen 'Soldaten' im Wald.
Die Störaktionen sind perfekt geplant und gipfeln darin, dass Doktor Paranoiski am 'Tag X' in einer Abendnachrichtensendung als Innenminister auftritt, dem er in der Tat verblüffend ähnlich sieht. Zuvor ist er jedoch in seiner alten Wohnung - (nach dem Brand renoviert) - erwacht, wohin man ihn verfrachtet hat. Der echte Innenminister wird vorübergehend aus dem Verkehr gezogen, damit das Sprachrohr der Unsterblichen, Doktor Paranoiski, an seiner Stelle vor laufenden Kameras die Auflösung sowohl der Regierung als auch des Staates proklamieren kann.
Paranoiski weiß, dass er diesen Auftritt nicht unbeschadet überstehen wird, und abermals erwacht er danach in einer neuen Umgebung: im Hauptquartier der 'Latex-Polizisten', wo Frau Magister Sommer den 'Herrn Unbekannt' verhören muss. Dieser will nichts verraten, jedoch durchaus etwas zur Chefin der Abteilung sagen. Da besinnt er sich auf seine botanischen Kenntnisse und hält der verdutzten Beamtenschaft einen Vortrag über Johanniskraut und Nebelkrähen, bevor es wieder ganz dunkel wird.

Als er neuerlich Licht wahrnimmt, befindet sich Paranoiski in der Landesnervenheilanstalt Wien-Steinhof. Die Ärztin ist Realidád - oder doch nicht? Die angeknackste Rippe jedenfalls ist tastbar, und auch Nebel, die Krähe, krächzt draußen. Und wieder fordert ihn die Frau, die sich in dieser Episode als Ärztin zu erkennen gibt, auf, alles auf Tonband zu sprechen. Sie unternehmen eine Reise, die sie ostwärts über die Staatsgrenzen hinaus führt und deren angebliches Ziel ein internationaler Kongress von Wahnforschern ist.

Kapitel einunddreißig beendet schließlich die Odyssee durch Bewusstseinslabyrinthe. So viel sei verraten: Die Krähe namens Nebel behält den Überblick - (kein Wunder - aus der Vogelperspektive ...).

Ernst Moldens Roman überzeugt durch kraftvoll entworfene und mit außergewöhnlicher Sprachintelligenz dargestellte Szenarien und plausibel entwickelte Charaktere, Temporeichtum und hervorragende Ideen sowie absurde Wendungen. Die Handlung tänzelt leichtfüßig zwischen gegensätzlichen Polen und es ist ein wahres Vergnügen, mit Ernst Molden in die Abgründe der österreichischen Befindlichkeit abzutauchen!

(kre; 01/2002)


Ernst Molden: "doktor paranoiski"
Deuticke, 2001. 223 Seiten.
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