Henning Mankell: "Vor dem Frost"
Linda Wallander, die Tochter von Kommissar Kurt Wallander, nimmt ihren
Dienst auf ...
Kurt
Wallander ist noch nicht in Pension. Er werkt nach wie vor in Ystad und versucht
eine unerklärliche Reihe von Morden, die an Tieren begangen wurden, zu klären.
"Wer Tiere mordet, könnte irgendwann auch Menschen morden." Eine Aussage, die
sich leider immer wieder bewahrheiten kann. Doch die Zusammenhänge sind lange
unklar. Aus dem Schatten des von Persönlichkeitskrisen durchgebeutelten Kommissars
tritt dessen Tochter. Es soll ein Generationenwechsel stattfinden, der in zukünftige
Fälle ausarten mag - oder auch nicht.
Doch Linda Wallander wird kaum selbstreflexiv
geschildert. Ihr berühmter Vater huscht sozusagen immer wieder durchs "Bild" und
belehrt sie häufig. Dieser alte Haudegen kommt selten gut weg. Es ist erstaunlich,
dass Linda hauptsächlich durch ihre Beziehungen zu Menschen ein wenig in den Mittelpunkt
gelangt. Es versteht sich von selbst: Ihr Vater ist das erste Beziehungsgeflecht,
die Mutter das zweite, und der tote Großvater das dritte. Linda lebt durch diese
Beziehungen hindurch und verhält sich ansonsten auffallend zwiespältig. Ihre Ermittlungsarbeit,
welche durch das Verschwinden einer gewissen Anna, die einstmals ihre beste Freundin
war, in Gang geraten muss, obzwar sie ähnlich wie ihr Vater (siehe "Wallanders erster
Fall") zu Beginn dessen Polizeikarriere an und für sich gar keine Berechtigung
hat, als Polizeiaspirantin irgendwelche eigenen Nachforschungen vorantreiben zu
dürfen, ist ziemlich waghalsig und stellt sich bald als eine zu hohe Hürde für
sie heraus.
Der Vater ist der große Ermittler; Linda nur eine knapp 30-jährige
Frau, die kurz vor ihrem Dienstantritt bei der Polizei ein paar Wochen frei hat
und in dieser Zeit einerseits das Verschwinden ihrer Freundin aufklären will und
andererseits mangels eigener Wohnstätte im kleinen Heim ihres Vaters ständig Kämpfe
mit dem Mann austrägt, der zahlreiche Fälle gelöst hat und das Szepter nunmehr
seiner Tochter in die Hand weitergeben möchte.
Der Roman ist so etwas
wie ein Abgesang an die Figur Kurt Wallander. Dem Leser soll es wohl leichter
gemacht werden, Abschied zu nehmen und der Tochter auf deren Pfaden zu folgen.
So gibt es immer wieder Erinnerungen von Kurt an "seine" Mörder, Fälle und Toten.
Es ist eine melancholische Verbindung, die ihn auf merkwürdige Weise zur Ruhe
kommen lässt. Mehr soll an dieser Stelle darüber nicht verraten werden. Sten Widen;
der Pferdestallbesitzer, welcher mit Kurt oft einen über den Durst trank, hat
eine dramatische Rolle im Kontext des Romans zu erfüllen. Eine weitere Finte des
Autors ist, dass Stefan Lindman auftaucht und sich Linda sogar in ihn verliebt.
Stefan Lindman ist der Kommissar in Mankells Roman "Die Rückkehr
des Tanzlehrers". Somit ist also viel Nostalgie abgedeckt, ohne dass die Konturen
von Kurt Wallander langsam verschwinden würden. Ganz im Gegenteil. Die letztliche
Aufklärung des Falls ist ganz vom Einschreiten des altehrwürdigen Kommissars abhängig.
Die geschilderten Zusammenhänge sind keineswegs Nebenaspekte der Geschichte rund
um religiöse Allmachtsfantasien, sondern eher Hauptfaktoren. Darunter mag die
eigentliche Geschichte leiden. Doch mal der Reihe nach.
Nachdem Schwäne, ein Kalb sowie sämtliche Tiere einer Zoohandlung bestialisch
durch Verbrennen umgebracht wurden, findet eine Hinrichtung in einer Kirche
statt. Eine junge Frau wird mit dem Hals in der Schlinge eines Taus brutal ermordet,
indem von beiden Enden des Taus mehrere Menschen zuziehen. Dies sollte sich
als Menschenopfer erweisen. Eingebunden in diese Bestialität ist ein Mann, der
den Massenmord in "Jonestown" überlebte. Jim Jones war jener Sektenführer, welcher
den Tod von 920 Menschen zu verantworten hatte, ehe er sich selbst umbrachte.
Er hatte geglaubt, ein "Heilsbringer" zu seinm, und im Dschungel von Guyana
die "Volkstempler"-Sekte angesiedelt. Übrigens überlebten tatsächlich einige
der Sektierer das Massaker. Anstatt seine Lehren aus dieser unfassbaren Tragödie
zu ziehen, bildet sich jedoch im Kopf des fiktiven Überlebenden eine Idee heraus,
durch deren Konsequenzen letztlich die Hölle auf Erden ausgemerzt werden soll.
Er braucht einige Menschen, die ihn als "Meister" anerkennen und seine Befehle
ohne Widerstand ausführen. Das letztliche Ziel sollte ein "Gottesreich" auf
Erden sein, da die falschen Propheten ihre Masken ablegen mochten und die Lügen
ans Tageslicht geraten. Licht ist jene Quelle, von der die makabre Vereinigung
pseudoreligiöser Fantasten nichts wissen will und stattdessen die Dunkelheit
anbetet, in der sich Dinge offenbaren mögen, zu denen Licht keinen Zugang haben
kann.
Im Vorfeld des Erscheinens dieses Romans war davon die Rede, dass "Vor dem Frost"
die Antwort Henning Mankells auf den 11. September 2001 sei, wo bekannterweise
das World Trade Center von Flugzeugen durchbohrt wurde. Jedoch kann die Geschichte
aus Sicht des Rezensenten in keinen Zusammenhang mit den damaligen dramatischen
Vorfällen gebracht werden. Die Vorstellung eines christlichen Fundamentalismus,
welcher in der Zerstörung von Kirchen oder sonstigen religiösen Symbolen einen
brutalen Ausdruck findet, könnte daran gemahnen, dass es sich bei der Attacke
auf das World Trade Center und andere Angriffsziele auf nordamerikanischem Gebiet
um fundamentalistisch-muslimische Terroraktionen
handelte. Diese Vermutung konnte und wird wohl nie bewiesen werden. Vielmehr
handelte es sich um einen Angriff auf den
Kapitalismus
us-amerikanischer Spielart, der durch den nur kurz vorher nicht gewählten,
sondern durch Wählerstimmenmanipulation an die Macht gekommenen "Präsidenten"
George W. Bush repräsentiert wird. Bush machte sich ja leider lächerlich, indem
er den Krieg gegen den Irak bzw. Saddam
Hussein ausrief. Die Lächerlichkeit wäre ohne Belang, wenn dadurch nicht Tausende
von unschuldigen Menschen im Irak ums Leben gekommen wären. Es ist davon auszugehen,
dass keine religiösen Gründe diesen Anschlägen zugrunde lagen. Sinnvoller ist
es, von einem "Kampf der Kulturen" zu sprechen. Mankell begeht also den Fehler,
christlichen Fundamentalismus aus sich heraus zu beschreiben und in den Wahnsinn
treiben lassen zu wollen. Das mag damit zusammenhängen, dass der Autor nur unzureichend
Ahnung von den Buchreligionen, insbesondere dem Christentum, hat. Eine der Figuren
im Roman schreibt die Bibel um, fügt sogar Sätze hinzu und will ein fünftes
Evangelium verfassen. Das hat jedoch nichts mit "fundamentalistischem Christentum"
zu tun, sondern einzig und allein mit Allmachtsfantasien. Durch die Unmöglichkeit,
irgendeinen Zusammenhang ableiten zu können, wodurch die Mordfälle (es wird
auch eine Prostituierte ermordet) mit christlichem Fundamentalismus einen Berührungspunkt
bilden, ergibt sich eine ziemlich holprige Leseweise der Geschichte.
Viele Menschen lassen
sich von Sekten ködern und glauben dadurch, "gerettet" zu sein. Diese Organisationen
versprechen Dinge, die sie letztlich sowieso nicht halten können. Sollte eine
Wahnsinnssekte aus dem Boden gestampft werden, deren Mitglieder die Bibel umschreiben,
und eine "christliche Neuordnung" auf dieser Welt anstreben, wie es von Mankell
beschrieben wird, dann kann dies nie und nimmer in
Attacken
auf Kirchen münden, sondern müsste sich zuvor irgendwie medial als eine neue
"Erweckungsbewegung" ankündigen. Es geht ja immer auch um die Kontrapunkte, mit
denen sich derart Wahnsinnige messen müssten. Wie kann ein "Kampf" gewonnen werden,
wenn der Gegner nicht mal im Ring steht, sondern nur dessen Institutionalisierung
(eben die Kirche) kraftlos die Fäuste hebt? Reichlich verworren, was im Endeffekt
dabei herauskommt.
Und dennoch warte ich mit einer Überraschung auf: Trotz
dieser verkehrten Strukturen, die durch den Roman fließen, und des Abgesanges
an Kurt Wallander (mit ziemlicher Melodramatik geschildert), ist die Geschichte
dennoch nicht als misslungen zu bezeichnen. Der Grund dafür ist einfach. Mankell
versteht es auf unnachahmliche Art und Weise, Spannung zu erzeugen, die sich mit
Vorantreiben der Handlung immer mehr steigert und schließlich in einem Showdown
endet. Das entschädigt letztlich dafür, dass die Handlung mehr als in allen anderen
Mankell-Krimis zusammengenommen an den Haaren herbeigezogen ist. Leser, die also
bekennende "Wallander-Fans" sind, werden von diesem Roman keineswegs enttäuscht
sein. Es ist das Eine, die kriminelle Energie und polizeiliche Aufklärungsarbeit
einzuatmen, und es ist das Andere, gewisse mit der Handlung transportierte Ideen
für bare Münze zu nehmen.
(Jürgen Heimlich; 07/2003)
Henning Mankell: "Vor dem Frost"
(Originaltitel "Innan frosten")
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2003. 544 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 528 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen