Henning Mankell: "Das Auge des Leoparden"
Es beginnt damit, dass ein Mann irgendwo in Afrika von Fieberschüben gebeutelt wird. Langsam träumt er sich delirierend in seine Vergangenheit zurück. In eine Zeit, wo von Afrika noch keine Rede war.
Die
Geschichte läuft in zwei Zeitzonen. Auf der einen Seite die
europäische Zeitzone, auf der anderen die afrikanische.
Gleichbedeutend mit Vergangenheit und (un)mittelbarer Gegenwart. Das
Gewesene wird sich immer mehr dem Seienden annähern, bis sich
der Zeitsprung aufhebt, und aus Afrika wieder Europa wird. Doch bis der
Hauptprotagonist Afrika verlässt, passiert ziemlich viel.
Der Mensch ist auf der Suche, und er findet nichts. Hans Olofson,
Schwede ohne Leidenschaft, quält sich durch ein seiner Ansicht
nach sinnentleertes Leben. Nach vielen erschütternden
Niederlagen und schweren Schicksalsschlägen
entschließt er sich, dem "schwarzen Kontinent" einen Besuch
abzustatten. Er möchte nur ein paar Tage bleiben. Aber daraus
wird nichts. Besser gesagt: Es wird viel mehr. Er wird zwanzig Jahre in
Afrika, genauer genommen, in Sambia, verbringen. Der Rassismus der
Weißen ist ihm von Anfang an klar. Nur dank zweier
grobschlächtiger Rassisten gelingt es ihm, dorthin zu
gelangen, wo er hin will. Zu einem Grab eines schwedischen Missionars,
der auf der langen Reise nach Afrika im 19. Jahrhundert Frau und vier
Kinder verlor.
Diese
Menschen sind gastfreundlich, solange sie von keinen
Schwarzen belästigt werden. Einer der
Lieblingssprüche des Ehepaars lautet: "Es ließe sich
in Afrika viel machen, wenn es dort keine Schwarzen gäbe."
Hans Olofson lässt die Menschen reden und macht sich selbst
kaum Gedanken. Er lässt sich mehr und mehr treiben und so
geschieht es, dass ihm nach kurzer Zeit ein Job als Verwalter einer
Hühnerfarm angeboten wird. Nach kurzer
Überlegungsphase nimmt er das Angebot an; besteht aber darauf,
nur vorübergehend als Verwalter tätig sein zu wollen.
Und zwar so lange, bis ein neuer Verwalter für das Anwesen
gefunden ist. Aber bald schon findet er Gefallen daran, den
"großen Weißen" spielen zu können.
Zweihundert Arbeiter mögen nach seiner Pfeife tanzen. Als ihm
die Besitzerin der Hühnerfarm schließlich ein
weiteres, verlockenderes Angebot macht, stimmt er ohne weiteres zu. Er
wird zum neuen "Herrn" der Farm. Die Frau zieht sich nach England
zurück und wird Zeit ihres Lebens einen Teil des
erwirtschafteten Gewinns für sich beanspruchen
können. Hans Olofson fühlt sich wohl als
Farmbesitzer. Doch heimisch wird er nie werden. Er muss sich an die
korrupten Polizeibeamten und die Eigenarten der Afrikaner erst
gewöhnen. Als er ihre Löhne deutlich erhöht
und für bessere Unterkünfte sorgt, beginnen die
Männer und Frauen zu trödeln und unordentlich zu
arbeiten. Häufig steht der Betrieb fast still, und es
lässt sich nicht vermeiden, dass er ein wenig Druck
auszuüben versucht. Doch der Schuss geht nach hinten los: Die
Männer und Frauen halten zusammen, und er muss immer wieder
nachgeben. Er ist zwar für die Lebensgrundlagen seiner
Arbeiterschaft verantwortlich; kann jedoch ihre Lebenseinstellungen
nicht so beschneiden, wie er es vielleicht gerne wollte.
Er freundet sich mit dem System an, und alles scheint eitel Wonne. Doch
es brodelt in Sambia. Die Weißen sind nicht besonders
beliebt. Sie sind Arbeitgeber, die es verstehen, mit rassistischen
Methoden zu drangsalieren. Auch Hans Olofson beobachtet sich immer
öfter dabei, eine Wut auf die schwarze Bevölkerung zu
haben. In ihm brodelt es, weil er sich nie für einen Rassisten
gehalten hätte. Aber nach vielen Jahren als Farmbesitzer in
Sambia scheint es logisch, dass er sich selbst der Nächste
wird und sein Verständnis für die schwarze
Bevölkerung abnimmt. Es brodelt in Sambia und es brodelt in
ihm. Und schließlich werden seine Nachbarn, die ihm
seinerzeit geholfen hatten, seine "Mission" zu erfüllen,
bestialisch ermordet. Er wird daraufhin sehr vorsichtig und
schläft immer mit einem Revolver unter dem Kopfpolster. Sein
geordnetes, von Reichtum gesegnetes Leben
in
Afrika gerät durcheinander, und die scheinbaren
Sicherheiten fallen schließlich wie ein Kartenhaus in sich
zusammen.
Mankell schreibt zum Teil Platitüden. Dies mag allerdings
beabsichtigt sein, um die Eigenheiten des afrikanischen Kontinents
darzustellen. Kein Europäer wird je das Geheimnis Afrikas
ergründen können. Das ist wohl die Botschaft des
Autors. Kritische Ansätze verstecken sich zwischen den Zeilen
und am Ende der Geschichte in Afrika. Da wird die schwedische
Entwicklungshilfe angeprangert, die ohnehin nie die arme
Bevölkerung unterstützt, sondern nur der Oberschicht
zu mehr Reichtum verhilft. Olofson wurde selbst zu einem Teil dieser
absurden Geschichte, die viele Verlierer und nur wenige Gewinner kennt,
welche nahezu alles einstreifen.
Weit spannender als die "Afrika"-Episode, welche ganze zwanzig Jahre
andauert, ist zweifelsfrei die Vergangenheit von Hans Olofson. Und hier
beginnt auch das Spannungsfeld der Geschichte. Nur auf die "Abenteuer"
eines Weißen in Afrika bezogen, bliebe so gut wie nichts in
Erinnerung. Es würde niemanden interessieren, wie Olofson zu
einem Ausbeuter wird, ohne anfangs zu ahnen, dass er
tatsächlich "im Grunde seines Herzens" ein Ausbeuter ist. Denn
er denkt nicht viel darüber nach, was auf diesem Kontinent
angerichtet wird. Es sind egoistische und materialistische Motive, die
ihn in Sambia festhalten. Er kann seinen Reichtum maximieren. Und ist
darauf auch noch stolz. Die gebrochenen Menschen rund um ihn herum
unterstützt er ausreichend, wie er vermeintlich glaubt. Doch
nie wird er in ihre Herzen und Seelen sehen können, die den
Weißen gegenüber sehr kritisch sind. Die
Zerstörung der Farmen von weißen Grundbesitzern
wäre völlig uninteressant, wenn es nicht die zweite
Zeitzone gäbe, die in diesem Roman beschrieben wird. Denn die
Vergangenheit von Hans Olofson war eine Reise durch eine sternenlose
Nacht, die in Schweden angesiedelt ist. Die Mutter verließ
ihn und seinen Vater kurz nach seiner Geburt und verschwand auf
Nimmerwiedersehen. Der Vater wollte immer zur See fahren und musste
sich, um sich und seinen Sohn ernähren zu können, als
Holzfäller verdingen, womit er nie zurechtkam. Er
säuft vor Kummer, und Hans muss oft mitansehen, wie er mit
seinen Kumpanen Alkohol in unglaublichen Mengen "konsumiert". Hans
schimpft mit seinem Vater und versucht ihn davon abzuhalten, sein Leben
und das des Sohnes immer mehr in den Dreck zu ziehen. Irgendwann kommt
er in die Schule, und da ändert sich grundlegend einiges. Er
hat einen sehr guten Freund, mit dem er viel zusammen unternimmt. Der
Freund stammt aus einem reichen Elternhaus und benimmt sich Hans
gegenüber anfangs ziemlich snobistisch. Doch je älter
sie werden, desto mehr entdecken die beiden Freunde Gemeinsamkeiten.
Sie hecken Streiche aus, gehen zu Tanzveranstaltungen. Eines Tages
beschließen sie, der von den Städtern
geächteten nasenlosen Janine Dreck in die Küche zu
kippen. Sie werden von ihr dabei erwischt und nicht zur Rede gestellt.
Stattdessen lädt sie die beiden Jungen von zwölf und
vierzehn Jahren dazu ein, sich bei ihr ein wenig vom schwedischen
Winter aufzuwärmen. Es entwickelt sich eine seltsame
"Dreierbeziehung", die vollkommen ohne Sexualität auskommt.
Sowohl Hans als auch sein Freund Sture träumen freilich davon,
sich mit ihr zu vergnügen. Aber sie entschließt sich
nicht einmal, sich ihnen nackt zu zeigen. Sie ist eine sehr
gläubige Frau von knapp dreißig Jahren und beichtet
nahezu jeden Tag. Es ist nicht leicht für Hans und Sture, ihr
in die Augen zu sehen. Die Frau hat anstatt einer Nase ein Taschentuch
unterhalb der Augen stecken. Manchmal setzt sie eine Clownsnase auf.
Sie wird von allen gemieden außer von "Hurra-Pelle", dem
Pfarrer des Örtchens, und den zwei Jungs.
Zwei Geschehnisse verändern das Leben von Hans Olofson von
Grund auf. Zum Einen ist es die missglückte Mutprobe seines
Freundes. Er will des morgens jenen Brückenbogen erklettern,
den Hans am Abend zuvor erklommen hat, und stürzt dabei
unglücklich ab; bricht sich das Rückgrat. Er wird
Zeit seines Lebens bewegungslos in einem Bett vegetieren
müssen.
Zum Anderen kommt es nach mehreren Jahren zu jener sexuellen
Annäherung, von der Hans so lange geträumt hatte.
Janine ist eine wunderbare Geliebte für einen Jungen seines
Alters. Er kann zu ihr kommen, wann immer er will. Doch eines Tages
beschließt Janine, politisch aktiv zu werden und ihren
kleinen Teil dadurch beizutragen, dass sie sich an eine
Straßenecke stellt und die baldige Apokalypse
heraufbeschwört, insofern sich nichts ändern
möge. Daraufhin wird sie noch viel mehr beschimpft als je
zuvor. Am grausamsten für sie ist jedoch, dass Hans sich an
den Schimpftiraden beteiligt und sie doch immer wieder als Lustsklavin
benutzt, wann immer ihm danach ist. Als er sich entschließt
in eine andere Stadt zu ziehen und dort das Abitur nachzuholen,
verabschiedet er sich bar jeglichen Gefühls für
Janine von ihr und erfährt nur kurze Zeit später,
dass sie sich ertränkt hat. Hans Olofson fühlt sich
für ihren Tod verantwortlich. Janine hatte oft davon
gesprochen, auf den Spuren eines schwedischen Missionars nach
Mutshatsha zu pilgern, und dort dessen Grab zu besuchen. Das war ihr
großer Traum, den sie sich nie erfüllen konnte. Hans
beschließt, nachdem er mit seinen Studienplänen
einige Jahre später gescheitert ist, die Reise anzutreten, von
der Janine so sehr geschwärmt hatte.
Sehr kunstfertig verbindet Henning Mankell diese beiden
Erzählebenen miteinander, und nur im Zusammenhang verdeutlicht
sich die poetische Kraft des Romans. Es geht ihm nicht unbedingt darum,
die Schwierigkeiten des weißen, reichen Mannes in Afrika am
Beispiel Sambia zu verdeutlichen. Das wäre zu einfach gedacht
und höchstens Abbild einer Schnulze, für die der
Krimiautor und "Wallander"-Erfinder nicht berühmt ist. Nein;
im Grunde genommen geht es um einfache Fragen, die Hans Olofson zu
beantworten sucht: Was will ich eigentlich in meinem Leben? Was treibt
mich dazu, dieses oder jenes zu tun? Und letztlich: Was will ich
eigentlich in Afrika?
Die Entscheidung, heimische Gefilde zu verlassen und einen unbekannten
Kontinent anzusteuern, ist die eigentliche Feder, von der die
Geschichte angetrieben wird. Wie kann es so weit kommen, dass ein
Mensch einen für ihn gänzlich fremden Kontinent zu
entdecken sucht und dort auch noch haften bleibt? Der weiße
Mann ist egoistisch und materialistisch, wenn es darum geht, Afrika zu
"erobern". Er wählt Afrika. Er entscheidet sich für
ein Leben dort, und selbst der dümmste und
oberflächlichste Europäer kann in Afrika "Karriere"
machen, weil dort gänzlich andere Gesetze herrschen als in
Europa. Insofern er sich mit den "richtigen" Menschen arrangiert, kann
er sich schnell gut einrichten, und seine Schäfchen ins
Trockene bringen. So mögen viele in Europa gescheiterte
Existenzen auf dem afrikanischen Kontinent verharren und ihren
"erwirtschafteten" Reichtum maximieren. Doch bei Hans Olofson war es
nicht von vornherein ein berechnendes, unverschämtes Motiv,
das ihn nach Afrika trieb. Er wollte in die imaginären
Fußstapfen seiner nunmehr toten Freundin treten, für
deren Tod er sich mitverantwortlich fühlte. Er wollte ein
neues Leben beginnen; abseits von den Träumen, die ihm
in
Schweden ausgetrieben worden waren. Die Chance, Erfolg und darin einen
neuen "Sinn" im Leben zu haben, veränderten seinen Charakter
dahingehend, dass er berechnend wurde und sich somit gegen sein
eigentliches Motiv stellte. Letztlich ist dies wohl auch der Grund
dafür, dass er nach zwanzig Jahren den geschundenen Kontinent
verließ.
Im Leben müssen ständig Entscheidungen getroffen und
neue Pfade begangen werden. Schicksalsschläge führen
den Menschen oftmals in Gefilde, wo er eigentlich nichts verloren hat.
Ähnlich erging es Hans Olofson, als er in Afrika landete und
sich dort zu einem "Mächtigen" entwickelte, der von seinen
eigenen Arbeitern nur respektiert; nicht aber geachtet wurde.
Ständig wird ihm in Afrika vor Augen gehalten, dass er nur ein
Besucher ist und die Einheimischen in ihren Herzen und Seelen das
Szepter der Geschichte und Entwicklung Afrikas bewahrt haben. Die
Eigenheiten der Afrikaner sind für viele Europäer
nicht verständlich. Das hängt freilich damit
zusammen, dass sie die Afrikaner aus der Sicht des weißen
Mannes zu decodieren suchen. Scheitern ist in diesem Falle
vorprogrammiert. Und selbst als Teil der Gesellschaft in Afrika wird
ein Weißer nie in die Besonderheiten afrikanischer Geistesart
eindringen können. Hans Olofson ist mit seiner "Mission"
gescheitert, weil er sie schnell in seine schicksalhafte Entscheidung
abgeändert hat. Er hat damit Janine verraten - und auch sich
selbst.
Henning Mankell ist ein Roman gelungen, der auf einem schmalen Grat
wandert: Afrikanische und europäische Kultur werden im
Aufeinandertreffen zu einer schwer überbrückbaren
Kluft, die nur durch Ehrlichkeit und Freundschaft ausgemerzt werden
könnte. Jedes Gespräch zwischen zwei
Repräsentanten dieser beiden Kontinente wird zu einer
besonderen Begegnung, in der sich die Beteiligten einander nur durch
Verständnis annähern können. Und eines
sollte klar sein: Wenn ein Afrikaner nach Europa kommt, sind seine
Motive nicht dieselben wie die der Europäer, wenn sie nach
Afrika wollen. Der Afrikaner sucht keinen großen Reichtum, er
sucht keine Macht, er sucht keinen ausufernden Materialismus, er sucht
keine unverschämten Ziele bar jeder Vernunft. Er sucht nur
eines: Nach einem Weg, um sich mit jenen Menschen zu
versöhnen, deren Lebensart Grundlage seiner Armut in Afrika
ist. Meist ist er auf der Flucht vor Krieg, Elend oder drakonischen
Strafen. Es fällt ihm meist sehr schwer, diese Entscheidung zu
treffen: Flucht nach Europa!
Viel leichter, und das sollten insbesondere Politiker endlich mal
bedenken, fällt es Europäern, nach Afrika
auszuwandern und dort den großen Reichtum anzustreben.
Machtstreben und Egoismus können Gründe für
den Europäer sein, in Afrika zu leben. Umgekehrt wird das nie
der Fall sein. Der Afrikaner ist auf der Flucht und kommt dabei oft
genug zu Tode. Über die Motivation des Europäers hat
Henning Mankell in diesem Roman geschrieben. Die Flucht der Afrikaner
nach Europa beschrieb der Autor in
"Tea-Bag".
Beide Seiten zu sehen und die eklatanten motivatorischen Unterschiede
zu erkennen, ist wohl Grundvoraussetzung, um zu einer inneren
Klärung der Problematik zwischen Europa und Afrika zu kommen.
Hans Olofson scheiterte, weil er scheitern musste. Er scheiterte an der
Tatsache, dass er Europäer ist und es ihm nie daran gelegen
war, Afrika etwas Gutes zu tun.
(Jürgen Heimlich; 02/2004)
Henning
Mankell: "Das Auge des Leoparden"
(Originaltitel "Leopardens öga")
Aus dem Schwedischen von Paul Berf.
Zsolnay, 2004. 384 Seiten.
ISBN 3-552-05296-8.
ca. EUR 21,50.
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"Der
Tod ist in Afrika immer gegenwärtig", sagt Werner Masterton.
"Ich weiß nicht, woran es liegt. An der Hitze, an allem, was
hier verwest, an den Afrikanern, bei denen die Wut gleich unter der
dünnen Haut verborgen liegt. Es braucht hierzulande nicht
viel, um eine Menschenmenge aufzuwiegeln, und dann erschlagen sie
jeden, der ihnen in die Quere kommt, mit einer Keule oder einem Stein."
"Dennoch leben Sie beide hier", sagt Hans Olofson.
"Vielleicht gehen wir nach Rhodesien", antwortet Werner Masterton.
"Aber ich bin schon vierundsechzig. Ich bin müde, habe
Probleme beim Pinkeln und schlafe schlecht. Vielleicht hauen wir
trotzdem ab."
"Wer würde die Farm kaufen?"
"Vielleicht sollte ich sie in Brand stecken."
Sie kehren zu dem weißen Haus zurück. Wie aus dem
Nichts taucht ein Papagei auf und setzt sich auf Hans Olofsons Schulter.
Anstatt Bescheid zu sagen, dass seine Weiterreise nach Mutshatsha sich
erübrigt hat, betrachtet er den Papagei,
der nach der Naht seines Hemds hackt.
Manchmal ist Feigheit meine auffallendste Charaktereigenschaft, denkt
er resigniert. Ich traue mich nicht einmal, Menschen die Wahrheit zu
sagen, die mich überhaupt nicht kennen.
Die tropische Nacht senkt sich wie ein schwarzes Tuch herab. Die
Dämmerung ist nicht mehr als ein flüchtiger, eilig
entschwindender Schatten. Er hat das Gefühl, dass die
Dunkelheit ihn in die Vergangenheit zurückversetzt.
Auf der großen Terrasse, die sich über die gesamte
Vorderseite des Hauses erstreckt, trinkt er Whisky mit Ruth und Werner
Masterton. Sie haben sich gerade erst mit ihren Gläsern
niedergelassen, als das Licht von Autoscheinwerfern über den Weiden
flackert, und er hört das Ehepaar Vermutungen darüber
anstellen, wer das sein könnte.
Ein Wagen hält unterhalb der Terrasse, und ein Mann
unbestimmten Alters kommt zu ihnen hinauf. Im gedämpften Licht
der Petroleumlampen sieht Hans Olofson, dass der Mann rote Brandwunden
im Gesicht hat. Sein Schädel ist völlig kahl, und er
trägt einen schlechtsitzenden Anzug. Er stellt sich als Elvin
Richardson vor, Farmer wie die Mastertons.
Wer bin ich, denkt Hans Olofson. Eine zufällige
Reisebekanntschaft aus dem Nachtzug von Lusaka nach Kitwe?
"Viehdiebe", sagt Elvin Richardson und lässt sich mit einem
Glas in der Hand schwer auf einen Stuhl fallen.
Hans Olofson hört zu, als wäre er ein Kind, das
gebannt einem Märchen lauscht.
"Gestern nacht haben sie unten bei Ndongo den Zaun durchschnitten",
fährt Elvin Richardson fort. "Ruben White haben sie drei
Kälber gestohlen. Die Tiere wurden an Ort und Stelle
geschlachtet. Die Wachposten haben wie üblich nichts bemerkt.
Wenn das so weitergeht, müssen wir Patrouillen organisieren
und ein paar Diebe erschießen, damit sie sehen, dass wir es
ernst meinen."
Die Konturen schwarzer Diener sind in den Schatten auf der Terrasse zu
erkennen.
Worüber reden die Schwarzen, fragt sich Hans Olofson. Wie
beschreibt Louis mich, wenn er mit seinen Freunden am Feuer
zusammensitzt? Hat er meine Unsicherheit bemerkt? Wetzt er ein Messer,
das ganz allein für mich bestimmt ist?
Schwarze und Weiße scheinen sich in diesem Land nicht
miteinander zu unterhalten. Ihre Welt ist gespalten, es fehlt an
gegenseitigem Vertrauen. Über den Abgrund hinweg werden
Befehle erteilt, das ist alles.
Er verfolgt das Gespräch und stellt fest, dass Ruth Masterton
aggressiver ist als ihr Mann. Während Werner meint, dass sie
noch abwarten sollten, ist sie dafür, gleich zu den Waffen zu
greifen.
Er zuckt zusammen, als einer der schwarzen Diener sich über
ihn beugt, um sein Glas aufzufüllen. Schlagartig wird ihm
bewusst, dass er Angst hat. Die Terrasse, die blitzschnell einbrechende
Dunkelheit, das sorgenvolle Gespräch; all das verunsichert
ihn. Er empfindet die gleiche Hilflosigkeit wie als Kind, wenn die
Balken im Haus am Fluss sich bei Kälte bogen.
Man rüstet sich hier für einen Krieg, denkt er. Aber
was mir wirklich Angst macht, ist die Tatsache, dass die Mastertons und
der fremde Mann dies überhaupt nicht zu merken scheinen.
Beim Abendessen wendet sich das Gespräch anderen Themen zu.
Hans Olofson fühlt sich wohler, seit sie in einem Zimmer
sitzen, in dem elektrisches Licht die Schatten vertreibt, Licht, in dem
sich die schwarzen Bediensteten nicht verbergen können.
Das Gespräch bei Tisch kreist um alte Zeiten und um Menschen,
die längst nicht mehr leben.
"Wir sind nun einmal, wie wir sind", meint Elvin Richardson. "Es ist
sicher verrückt von uns, auf unseren Farmen zu bleiben. Nach
uns kommt nichts mehr. Wir sind die Letzten."
"Nein", widerspricht Ruth Masterton. "Da irrst du dich. Eines Tages
werden die Schwarzen an unseren Türen betteln und uns anflehen
zu bleiben. Die junge Generation sieht doch, wohin die Entwicklung
geht. Die Unabhängigkeit war ein bunter Stofffetzen, der an
eine Stange gehängt wurde, eine feierliche Proklamation leerer
Versprechungen. Heute sehen die jungen Menschen, dass in diesem Land
nur noch das funktioniert, was nach wie vor in unseren Händen
ist."
Hans Olofson fühlt sich auf einmal betrunken und glaubt, etwas
sagen zu müssen. "Sind hier eigentlich alle so
gastfreundlich?" fragt er. "Ich könnte doch auch ein
steckbrieflich gesuchter Verbrecher sein. Gott weiß wer mit
einer rabenschwarzen Vergangenheit."
"Sie sind ein Weißer", erwidert Werner Masterton. "In diesem
Land reicht das als Garantie."
Elvin Richardson verabschiedet sich nach dem Abendessen, und Hans
Olofson versteht, dass die Mastertons zeitig zu Bett gehen. Vergitterte
Türen werden sorgfältig abgeschlossen,
Schäferhunde bellen draußen in der Dunkelheit, und
Hans Olofson erhält Instruktionen, damit er keinen Alarm
auslöst, falls er nachts in die Küche gehen sollte.
Gegen zehn liegt er in seinem Bett.
Ich bin von Zäunen umgeben, denkt er. Das Haus ist ein
weißes Gefängnis in einem schwarzen Land. Was denken
die Schwarzen, wenn sie unsere Schuhe und ihre eigenen Latschen sehen?
Was halten sie von der Freiheit, die sie erlangt haben?
Er sinkt in einen unruhigen Schlaf.
Plötzlich wird er von einem Geräusch geweckt, und in
der Dunkelheit weiß er für einen Moment nicht, wo er
ist.
Afrika, denkt er. Noch weiß ich nichts von dir. Vielleicht
hat Afrika in Janines Träumen so ausgesehen? Auf einmal kann
ich mich nicht mehr erinnern, worüber wir an ihrem
Küchentisch gesprochen haben. Aber ich ahne, dass meine
Wertmaßstäbe und Denkmuster hier weder ausreichen
noch gelten. Hier ist ein anderes Sehen erforderlich …
Er lauscht in die Dunkelheit und fragt sich, ob er sich nun die Stille
oder aber die Geräusche einbildet, und bekommt wieder Angst.
Ruth und Werner Mastertons Freundlichkeit ist umgeben von einer
Katastrophe, denkt er. Diese Farm, das weiße Haus ist
umzingelt von Angst und Wut, die sich schon viel zu lange aufgestaut
haben.
Er liegt wach und stellt sich vor, Afrika wäre ein verletztes
Raubtier, das noch zu Kräften kommen muss, um sich zu erheben.
Der Atem der Erde und des Tieres sind eins, das Gestrüpp, in
dem es sich verbirgt, ist undurchdringlich. War das nicht Janines
Vorstellung von diesem verletzten und versehrten Kontinent? War er
nicht wie ein Büffel, den man zwar in die Knie gezwungen hat,
in dem aber noch so viel Kraft steckte, dass die Jäger auf
Distanz blieben?
Vielleicht konnte sie dank ihres Einfühlungsvermögens
tiefer in die Wirklichkeit eindringen als ich, der ich mich auf
afrikanischem Boden bewege? Vielleicht machte sie in ihren
Träumen eine Reise, die ebenso wirklich war wie meine sinnlose
Flucht zur Missionsstation in Mutshatsha.
Vielleicht gibt es auch noch eine andere Wahrheit. Könnte man
nicht sagen, dass ich hoffe, eine andere Janine auf dieser
Missionsstation zu treffen? Einen lebendigen Menschen, der sie, die
Tote, ersetzen kann?
Er liegt wach, bis die Dunkelheit rasch dem nahenden Morgen weicht.
Durch das Fenster sieht er die Sonne wie einen roten Feuerball am
Horizont aufgehen.
Auf einmal entdeckt er Louis, der neben einem Baum steht und ihn
beobachtet. Obwohl es bereits sehr heiß ist, läuft
ihm ein Schauer über den Rücken. Wovor habe ich
Angst, denkt er. Vor mir selbst oder vor Afrika? Was hat Afrika mir zu
sagen, das ich nicht hören will?
Um Viertel nach sieben verabschiedet er sich von Ruth Masterton und
klettert neben ihren Mann auf den Beifahrersitz des Jeeps.
"Kommen Sie wieder", sagt Ruth Masterton. "Sie sind uns immer herzlich
willkommen."
Als sie durch das große Tor der Farm fahren, an dem die
beiden Afrikaner linkisch salutieren, bemerkt Hans Olofson einen alten
Mann; er steht am Straßenrand im hohen Elefantengras und
lacht. Halb verborgen huscht er vorbei. Viele Jahre später
wird ihm dieses Bild wieder in den Sinn kommen.
Ein Mann, halb versteckt, der am frühen Morgen lautlos lacht
...