Dan Lungu: "Das Hühnerparadies"
Ein falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen
"Und
war es vielleicht schlecht, als die Kommunisten da waren?" "Naaa, ich
habe heute noch Sehnsucht danach - wegen Fleisch Schlange stehen und
kein Propangas haben, um einen Tee zu kochen." "Trotzdem, verhungert
ist keiner. " "Ich würde eher sagen, verdurstet ist keiner.
Schnaps gab es ja überall ..." (Seiten
182, 183)
Dieses Rumänien ist überall:
Gerüchte und Geheimnisse aus einer postdiktatorischen Welt
Eine Erinnerung an ein Gespräch in Rumänien, einige
Jahre nach Ceauşescus
Sturz: "Soooo einen kleinen Ceauşescu bräuchten
wir, der würde aufräumen mit den Zigeunern, Ungarn
und den anderen Volksschädlingen." Wie so mancher Ewiggestrige
bei uns deutete er mit Daumen und Zeigefinger die
Größe des erwünschten
Däumlingsdiktators an.
Auch unter den Nörglern, Aufschneidern, Trunkenbolden und
Habenichtsen in der Spelunke "Zum zerknautschten Traktor" in der
rumänischen Provinz wäre dieser Rumäne mit
seiner Meinung nicht alleine geblieben. Und auch andere wohlbekannte
Phänomene und Wortmeldungen des nachträglichen
Umgangs mit einer Schreckensherrschaft hören wir aus den
Stimmen in Dan Lungus Roman: Angeber, die von persönlichen
Begegnungen und der Verbrüderung mit dem "meistgeliebten Sohn
des Volkes" berichten, Miesmacher, die es ohnehin schon immer gewusst
haben, wie die Geschichte enden wird, und ehemals Hochgeehrte, die sich
einbunkern und deren Lebensweise ein steter Anlass zum Anzweifeln und
Stänkern ist. Doch auch die postkommunistische Phase mit allen
Verlierern der wirtschaftlichen Liberalisierung kommt nicht ungeschoren
davon.
Und trotzdem fragt man sich als Westler immer wieder: Wie ist es
möglich, dass viele, sogar sehr viele Leute, die unter einem
unmenschlichen, totalitären Regime gelebt und keine
Privilegien genossen haben, nostalgisch werden können?
Viele Szenen, die häufig in und um die Schnapsbar spielen,
könnten auch in
Josef Schwejks Wirtshaus zum Kelch oder bei
Herrn Karl im Lager eines Wiener Feinkostgeschäftes vorkommen.
Antihelden sind keine rumänische Erfindung, und den Nachwehen
- nicht den Opfern! - einer Diktatur begegnet man scheinbar am besten
mit weinseligem Schmäh.
Zwischen den politischen Szenen, viel mehr: vor dem stets politischen
Hintergrund leben Menschen mit täglichen Sorgen und
Wünschen, mit Streit und in Liebe. Doch ihr Leben
hätte sich in einem anderen Land, unter einem anderen Regime
anders entwickelt, sie hätten - vielleicht - andere Menschen
kennen gelernt und geheiratet, würden nicht Abend für
Abend in dieser Spelunke sitzen und selbstgebrannten Schnaps saufen und
würden bei einer Regenwurmplage zu anderen
Lösungsmitteln greifen, als ihnen im Rumänien der
90er-Jahre zur Verfügung standen. Wohl würden
Mindestrentner woanders nicht versuchen, die Regenwürmer
möglichst profitabel zu verkaufen ...
Trotz möglicher Übertragung auf viele
ähnliche politische Situationen kommt das spezifisch
Rumänische in Dan Lungus Roman nicht zu kurz. Im Original
wimmelt es wahrscheinlich von Wortwitz und Anspielungen, die man als
Nichtlandsmann kaum verstehen kann; die ausgezeichnete
Übersetzung von Aranca Munteanu bietet ein Glossar an, in dem
die wichtigsten Namen, aber auch Ausdrücke wie "der
Durchsiebte", "der Verblichene" (für
Ceauşescu) erklärt werden.
(Wolfgang Moser; 10/2007)
Dan
Lungu: "Das Hühnerparadies. Ein
falscher Roman aus Gerüchten und Geheimnissen"
Aus dem Rumänischen von Aranca Munteanu.
Residenz Verlag, 2007. 208 Seiten.
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Dan
Lungu, 1969 in Botoşani,
Rumänien geboren, ist
Soziologiedozent in Iaşi. Mit der Gründung der literarischen
Gruppe "Club
8" sorgte er für Bewegung in dem rumänischen
Kulturbetrieb. Zwölf
Schriftsteller stellten sich gegen die Medienvormacht Bukarests und
hatten
Erfolg. Lungus Erzählungen wurden in mehreren Sprachen
übersetzt.
Die Texte zu "Klasse Typen" entstanden vorwiegend in Wien, wo der
Autor 2004 am "Writer in Residence"-Programm von
"KulturKontakt Austria"
teilnahm.
Weitere Bücher des Autors:
"Die rote Babuschka"
Die Geschichte einer Mitläuferin: amüsant,
schräg und faszinierend.
Zehn Jahre nach dem Sturz der Ceauşescu-Diktatur stehen Neuwahlen an.
Die Rentnerin Emilia Apostoae, die den größten Teil
ihres Lebens unter dem
Regime der "Volksmacht" verbracht hat, erhält einen Anruf von
ihrer
nach Kanada emigrierten Tochter Alice: "Wähle ja
nicht die
Kommunisten." Dieses Telefonat und die folgenden Diskussionen
stürzen
Emilia in eine Identitäts- und Nostalgiekrise, und sie
erinnert sich wehmütig
an eine Zeit, in der alles perfekt schien (aber gar nichts stimmte).
Nach und
nach verwebt die "Rote Babuschka" den problematischen Alltag des
heutigen Rumänien mit dem Alltag der Vergangenheit und geht
sich dabei selbst
auf den Leim.
Mit Bauernschläue und Mutterwitz schlagen Dan Lungus Figuren
den absurden Auswüchsen
des Lebens ein Schnippchen. Und wie schon das international
erfolgreiche "Hühnerparadies",
ist "Die rote Babuschka" von großer Fabulierlust und feiner,
hinterlistiger Ironie geprägt. Doch es ist mehr als die
Geschichte einer
einfachen, energischen, alten Frau. Es ist das Museum des
täglichen Lebens in
einem totalitären Regime, eine Sammlung politischen Humors und
eine Geschichte
mit einem überraschenden Endes. (Residenz Verlag)
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"Klasse
Typen"
Vor zehn Jahren trat unter dem Namen "Club 8" eine Gruppe
junger
Autoren aus der moldawischen Stadt Iaşi mit dem Vorsatz an, einen
frischen
Ton in die rumänische Literatur hineinzutragen und gegen den
von Bukarest
dominierten Literaturbetrieb aufzubegehren. Einer ihrer
Wortführer, dessen
Schreiben auch außerhalb des Landes auf immer
größeres Interesse stößt, ist
Dan Lungu.
In seiner Kurzprosa-Sammlung "Klasse Typen" treten uns meist
Männer
und Frauen mittleren Alters entgegen. Den wilden Jugendjahren, in denen
sie der
Trostlosigkeit
des Ceauşescu-Sozialismus mit anarchischem Nonsens und
Alkoholexzessen
getrotzt haben, sind sie entwachsen, aller
Wende-Illusionen
beraubt. Vom Leben versehrt, plagen sie sich mit den Auswirkungen eines
Protokapitalismus ab, der nur zwei Sorten von Menschen unterscheidet:
Gewinner
und Versager. Ihre Referenzen beziehen diese Kumpanen von
einst aus der
Welt der
Comics und Telenovelas, was sie von sich geben, ist trivial, witzig,
großmäulig,
vulgär. Sie reden unentwegt, einer mit dem anderen, mit sich
selbst oder gegen
eine Wand. Als könnten sie, indem sie den Redestrom nicht
abreißen lassen, die
Kälte und Leere bannen, die sie umgibt und von innen
auszuhöhlen droht. Und
auf einmal werden sie uns fast sympathisch, diese launischen Antihelden
des
Alltags. (Drava Verlag)
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