Ute Harbusch und Gregor Wittkop (Hrsg.): "Kurzer Aufenthalt"
Streifzüge durch literarische Orte
Pilgerstätten
der Literatur
Die hier vorgelegten 'Streifzüge durch literarische Orte'
haben über 60 Schriftsteller und Wissenschaftler,
Künstler und Publizisten unternommen. Wohnbereiche
von Schriftstellern scheinen eine besondere Aura zu besitzen,
die sie fast zu einer Art Pilgerstätte haben werden lassen.
Mit gebotener Sensibilität sind die Aufenthaltsorte der Poeten
nach ihrer Charakteristik zugeordnet, etwa: 'Metropole', 'Insel und
Garten', 'Arbeitszimmer', 'Exil' oder 'Im poetischen Raum'. Das Buch
ist übrigens gewidmet dem langjährigen Leiter der
Marbacher 'Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und
Gedenkstätten in Baden Württemberg' Thomas
Scheuffelen zum 65. Geburtstag. Zur Einstimmung zitiert uns Gerhard
Kurz eine Heidegger-Sentenz: "Mensch sein heißt: als
Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen." Heidegger
hatte ja auch in seinem Vortrag 'Dichterisch wohnet der Mensch' den
Zusammenhang von Dichten und Wohnen ausgehend von Hölderlin
untersucht. Gegenpolig zum Wohnen wissen wir ja auch um die
Ortlosigkeit oder die Reiselust der Dichter. Der vorliegende Band gibt
uns also eigentlich auch Einblicke in die psychisch-existenzielle
Verfassung der Poeten.
Da berichtet uns etwa Dirk Heißerer zu
Thomas Mann: "Im
Münchner Herzogpark, wo er insgesamt 23 Jahre wohnte, fand
Thomas Mann eine Literaturwelt, die sich in mehrfacher Hinsicht mit
Goethes Weimar vergleichen lässt." Ganz anders die
Gegebenheit im umgebauten Bauernhaus in Berzona inmitten der Tessiner
Alpen: ein Haus "schlicht und zweckmäßig
eingerichtet, entsprach der Lebenshaltung seiner Bewohner." Wir
erfahren von Rainer Moritz, dass Paris Marcel Prousts "Urort" war, u.a.
"weil sein Werk auf der Kenntnis von
Paris fußt und zahlreiche Bezüge
innerhalb des Romanzyklus mit den Boulevards, Plätzen und
Hotels der Fin-de-siècle-Metropole zu tun haben."
Da bekommen wir längere oder kürzere Aufenthalte
gewährt - Lebensabschnitte oder Stippvisiten: wir besuchen
Wieland in Oßmannstedt oder
Ernst Jünger in Wilfingen,
Rilke auf Schloss
Janowitz oder Hans Henny Jahn in Eckel bei Klecken. Heideggers
Hütte in Todtnauberg wird uns von Günter Figal
vorgestellt: "Die Hütte duckt sich an den Hang; es ist, als
führe sie in ihn hinein und sei der Eingang eines Tunnels oder
Bergwerks." Cornelia Blasberg versucht eine definitorische Ortung: "So
lässt sich behaupten, dass allen literarischen Orten ein
Koordinatenkreuz eingezeichnet ist, dessen Waagerechte auf
Außersprachliches zeigt, dessen Senkrechte aber die
mnemotechnische und intertextuelle Dimension poetischer Texte
offenlegt." Egal wie kompliziert man das ausdrückt:
Aufenthaltsorte berühmter Leute werden generell
überhöht interpretiert und mit einem gewissen Respekt
wie ein Museum aufgesucht. Es ist nun einmal Anliegen des
Bildungsbürgertums, das Erbe seiner großen
Künstler und Dichter zu verwalten, ihnen Monumente,
Gedenkstätten und Museen zu er- bzw. einzurichten.
Die Autoren suchen die Metropole oder die Abgeschiedenheit - ein
typisches Beispiel ist hier
Hermann Hesses Aufenthalt in Gaienhofen auf
der Bodensee-Halbinsel Höri, wo er nach dem Vorbild seiner
Romanfigur Peter Cemnzind das Ideal des ländlichen Lebens
sucht, obwohl das Haus für dortige Verhältnisse recht
groß und komfortabel war. Oft vermengen sich Fiktion und
Realität der Lebensumstände eines Autors und seiner
Figuren, was bei
Proust idealtypisch der Fall zu sein scheint - so liegt etwa
der Ort Combray sowohl in unserer Vorstellung als auch auf der
Landkarte Frankreichs. Das vorliegende Buch lässt jedenfalls
alle Arten von Örtlichkeiten Revue passieren, in oder an denen
Autoren länger oder kürzer verweilten - eigentlich
nie ist ein Poet lebenslang an einem einzigen Ort ansässig.
Jochen Greven macht in seinem Beitrag zu
Robert
Walser auf einen fundamentalen Widerspruch aufmerksam: "Geht
es nicht allen Autoren ... um Befreiung, Erlösung, wenn sie
schreiben? Und da binden wir sie mit viel Fleiß und
Genauigkeit zurück an die Kontingenzen einer Biografie, an
Ortschaften, Dinge und Verhältnisse, denen sie doch in der
Imagination oft genug gerade glücklich zu entkommen
trachteten. Aber wir können wohl nicht anders: wir suchen ihre
Nähe, wollen sie menschlich-allzumenschlich verstehen und
haben das unabweisbare Bedürfnis nach Räumen und
Gegenständen, an denen wir unsere Andacht festmachen
können." Genau darum geht es hier, denn dabei hilft uns das
vorliegende Buch durchaus, unsere Haltung zwischen Andacht und
kritischer Distanz auszubalancieren.
(KS; 07/2007)
Ute
Harbusch und Gregor Wittkop (Hrsg.):
"Kurzer Aufenthalt. Streifzüge durch literarische Orte"
Wallstein Verlag, 2007. 350 Seiten.
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Die
Herausgeber:
Ute Harbusch, geboren 1967, lebt als Literaturwissenschaftlerin in
Stuttgart.
Veröffentlichungen zu deutschen und französischen
Autoren, zu literarischen
Reisen und Spaziergängen sowie Literaturausstellungen.
Im Wallstein Verlag veröffentlichte sie:
"Gegenübersetzungen. Paul Celans
Übertragungen französischer Symbolisten".
Gregor Wittkop, geboren 1961, lebt als Autor in Tübingen.
Zahlreiche Arbeiten für
Rundfunk und Presse, literaturwissenschaftliche
Veröffentlichungen v. a. zu
Leben und Werk Friedrich Hölderlins.
Noch ein Buchtipp:
Ute Harbusch: "Gegenübersetzungen. Paul Celans
Übertragungen französischer
Symbolisten"
In Paul Celans Übertragungen französischer Lyrik
erweist sich seine Übersetzungspraxis
zugleich als kritische poetologische Reflexion.
Der Königsweg zum Verständnis von Paul Celans Poetik
liegt in der Untersuchung
seines umfangreichen Übersetzungswerkes. Neben seinem
dichterischen Oeuvre hat
Celan im Laufe seines Lebens Übertragungen aus insgesamt
sieben Sprachen
angefertigt. Ute Harbusch unternimmt eine Lektüre seiner
übersetzerischen
Auseinandersetzung mit den französischen Symbolisten, wie zum
Beispiel Charles
Baudelaire, Stéphane Mallarmé,
Arthur
Rimbaud, Paul Valéry und Anderen. Dabei
macht sie erstmalig die poetologische Dimension von Celans
Beschäftigung mit
diesen kanonischen Vertretern der modernen Lyrik sichtbar.
Einerseits unternimmt Celan übersetzend den Nachvollzug einer
lyrischen Sprache
der Vergangenheit, der er sich selbst verpflichtet weiß.
Andererseits gehorcht
er einem Bedürfnis nach Abgrenzung, ist doch diese lyrische
Sprache der
Vergangenheit mit ihrer Lebensabgewandtheit und Artifizialität
eine Sprache,
derer er sich nach der "Zeitenschrunde" des Holocaust nicht
länger
bedienen kann. Daher sind seine Übertragungen
"Gegenübersetzungen"
in des Wortes doppelter Bedeutung, nämlich
"Gegenüber-Setzungen" und
"Gegen-Übersetzungen" zugleich: Sie setzen sich in Beziehung
zum
Gegenüber des Ausgangstextes, und sie setzen diesem einen
anderen, eigenen
sprachlichen Gestus entgegen. (Wallstein Verlag)
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