Sven Lindqvist: "Wüstentaucher"

Auf den Spuren von Dichtern, Träumern und Generälen 
- ein Reisebericht der besonderen Art, der Erinnerungen, Literatur- und Zeitgeschichte zu einem eigenen literarischen Genre verbindet


Lindqvists Route zu folgen ist leicht: auf der Karte im Buch sind fast nur die Orte eingezeichnet, um die es auch geht: Tarfaya, Smara, Agadir, Laghouat, Bou Saâda, Biskra, Touggourt, Ouargla.

Als Kind plante Sven Lindqvist eine große Reise durch die Sahara. Selten hat der Gemeinplatz, dass man, wohin man auch reist, immer nur sich selber findet, so gestimmt wie bei diesem Reisebericht. Der Hauptzweck der Reise scheint es zu sein, die Kindheit und die Träume wieder zu finden. "Jetzt zu tun, was ich mir am allermeisten wünschte, ist eine Art, sich der Kindheit zu nähern, die ich mehrmals ausprobiert habe." (S. 10)

Was mir am meisten gefallen hat, sind die vielen Ähnlichkeiten, die es zwischen Schweden und der Sahara zu geben scheint: die roten Häuser in Schweden, die knallrosa Häuser in Marokko, Sandwehen und Schneehaufen, "Mülleimer werden in den offenen Karren geleert, wie in Älvsjö, als ich ein Kind war" (S. 36), den Sand vom Auto zu kratzen ist "wie man den Schnee von einem schwedischen Winterauto kratzt, und als ich in den weißen Nebel hineinfahre, ist es, wie in einen Schneesturm zu fahren. Erst nach und nach wird mir klar, dass dies, da ich mich ja in der Wüste befinde, ein Sandsturm sein muss." (S. 40) Aber "der Geruch ist mineralisch scharf, ganz anders als der euphorisierende Schneeduft." (S. 41)

Der Unterschied wird dem schwedischen Autor klar, als er von Algir aus mit einem Mietauto in die Wüste fährt und jeden Tag aufs Dach seines Quartieres steigt, um die Umgebung zu betrachten: "Der Kontrast zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen dem, was das Auge hier oben sieht, und den tatsächlichen Verhältnissen dort unten, das ist die fundamentale Wüstenerfahrung." (S. 71)

Auf den Spuren von französischen Dichtern, die sich ihrer Identität in der Wüste entledigen wollten, dringt Lindqvist tiefer ein in das Geheimnis. Die Wüste ist es nicht, "die Kolonien waren für sie alle eine Arena, in der sie all das ausleben durften, was in ihrem Heimatland sozial nicht akzeptabel war. Es ist fraglich, ob Kolonien jemals die Macht oder die Einkünfte brachten, auf die ihre Fürsprecher hofften und womit sie sie motivierten. Aber in Europas Seelenleben bekamen die Kolonien eine wichtige Funktion - als Sicherheitsventil, als 'escape', als 'place to misbehave'." (S. 141)

Dass es niemanden gab, der diesen Komplex künstlerisch gestalten wollte, der in den Brunnen taucht, um ihn zu säubern, wie die 'Ghattasins', die Lindqvist so bewundert, weil sie eine lebensgefährliche Arbeit mit geringem sozialen Status verrichten, würde ich nicht sagen. Schon Ingeborg Bachmann hat, Rimbaud zitierend, (den Lindqvist in seiner Genealogie seltsamerweise ignoriert), ausgerufen: "Die Weißen kommen. Die Weißen gehen an Land. Und wenn sie wieder zurückgeworfen werden, dann werden sie noch einmal kommen, da hilft keine Revolution und keine Resolution und kein Devisengesetz, sie werden mit ihrem Geist wiederkommen, wenn sie anders nicht mehr kommen können. Und auferstehen in einem braunen oder schwarzen Gehirn, es werden noch immer die Weißen sein, auch dann noch. Sie werden die Welt weiter besitzen, auf diesem Umweg." ("Das Buch Franza", S. 109)

(Barbara Zanotti; 01/2003)


Sven Lindqvist: "Wüstentaucher"
Originaltitel: "Ökendykarna"
Aus dem Schwedischen von Sandra Nalepka.
Haymon, 2002. 160 Seiten. 25 Bilder.
ISBN 3-85218-398-7.
ca. EUR 17,90.
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Ergänzender Buchtipp:

Ein Europäer fährt, seinen Laptop im Gepäck, mit dem Bus durch die Sahara. Seine Reise ist zugleich eine Zeitreise ins 19. Jahrhundert: In kleinen, sandigen Wüstenhotels beschäftigt er sich mit den Geschehnissen der Kolonialzeit, die Zeugnisse von Literaten, Philosophen, Politikern und Historikern der letzten zweihundert Jahre erscheinen ihm in neuem Licht.
Dabei entsteht nicht nur ein Reisebericht, sondern auch ein Bericht über ein dunkles, gern vergessenes Kapitel europäischer Geschichte. Lindqvist schlägt einen Bogen von der Selbstherrlichkeit europäischer Kolonialherren in Afrika bis hin zum Holocaust und zum Rassismus heute.

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