Lisa Fischer: "Lina Loos oder Wenn die Muse sich selbst küsst"

Eine Biografie


Wie man wird was man ist: Lina Loos

Wenn sie nicht Lina Loos geheißen und nicht den Namen ihres Ex-Mannes aus einer kurzen Ehe beibehalten hätte, wäre sie vermutlich vergessen und es ist unwahrscheinlich, dass jemand die Spurensuche aufgenommen hätte. Ihr nachgelassenes Werk als Journalistin und Schriftstellerin ist dünn, ihre Arbeit als Schauspielerin Vergangenheit. Dabei gehörte Lina Loos im Wien des Fin de Siècle bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung zu den Berühmtheiten der Kunstszene. Umschwärmt und begehrt von der männlichen Boheme war sie über viele Jahrzehnte strahlender Mittelpunkt der künstlerischen Kaffeehausszene. Ihren Namen verdankte sie einer kurzen Ehe mit Adolf Loos, dem Architekten und Architekturtheoretiker, der als Pionier der mitteleuropäischen Moderne in die Architekturgeschichte eingegangen ist, ihren Ruf als Tochter, Ehefrau, Geliebte, Freundin und Muse einiger berühmter Männer. Um die Jahrhundertwende, als sie in die Welt der in den Kaffeehäusern residierenden Literaten und Künstler Eingang fand, galt sie als die schönste Frau Wiens. Adolf Loos machte ihr noch am gleichen Tag, als er sie kennenlernte, einen Heiratsantrag.

Wer war Lina Loos? Die Wiener Historikerin Lisa Fischer hat sich auf Spurensuche begeben. In einer Biografie stellt sie eine Frau vor, die nicht nur als "Frau von jemandem" gelebt, sondern auch ein eigenständiges kreatives Profil vorzuweisen hat. Geboren wurde sie 1882 als Caroline Obertimpfler. Ihre Eltern betrieben das Kaffeehaus "Casa Piccola" in Wien-Mariahilf, das seit 1900 Treffpunkt der vorwiegend männlichen Wiener Boheme war. Im ersten Stock des Hauses befand sich außerdem der Modesalon der Schwestern Flöge, die hier ihre Kreationen der Wiener Werkstätte entwarfen. Als sie 1902 Adolf Loos heiratete war sie kaum zwanzigjährig, ihr Mann zwölf Jahre älter.

Sie war nicht nur eine Schönheit, sondern sie entsprach genau dem Idealbild der männlichen Künstlerszene jener Zeit: die Kindfrau, unerfahren, "rein" und - formbar. Loos betete seine junge Frau an: "Du bist die Welt, du bist der Kosmos, das Universum, eingezwängt in einen kleinen Frauenleib! Beschämt habe ich mich von dem Throne geschlichen auf dem ich zu sitzen die Vermessenheit hatte und knie, knie, knie vor dir im Staube: Gebenedeiteste!" Es war eine irreale Liebe, die nichts mit der wirklichen Frau an seiner Seite, und eine Glorifizierung, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Drei Jahre später wurde die Ehe geschieden. Lina Loos verarbeitete diese Erfahrung in einem Theaterstück, das erst in ihrem Nachlass gefunden wurde. In diesem autobiografischen Stück - "Wie man wird was man ist" - lässt sie den Ehemann, der die Züge von Loos trägt, über seine junge Frau sagen: "Ali ist noch nicht mehr als reines Material. Ich werde sie formen. Ich werde Gutes herausholen. Schlechtes brach liegen lassen. Es soll ein Kunstwerk werden."

Lina Loos wollte jedenfalls kein von ihrem oder einem anderen Mann geschaffenes Kunstwerk sein. Sie heiratete nie wieder. Sie hatte Liebschaften, wurde weiterhin von berühmten Männern bewundert und verehrt, war Geliebte und Vertraute, Lebensfreundin, aber sie zog es vor, ein Leben als selbstständige, unabhängige Frau zu führen. Als Single würde man heute sagen. Einen Heiratsantrag des Kulturphilosophen und Publizisten Egon Friedell lehnte sie ab. In einem Brief schreibt sie: "Ich suche einen Mann, der mich liebt als - Lina Loos. Ich will kein überirdisches Wesen sein, ich will nicht angebetet werden, der Mann, dem ich bereits eine Gottheit bin - der ist mir viel zu arm." Als eigenständige Frau blieb Lina Loos jedoch sowohl mit Friedell als auch mit dem Dramaturgen und Schriftsteller Franz Theodor Csokor lebenslang in einer Dreiecksbeziehung verbunden.

Lisa Fischer zeichnet das Bild einer Frau, die Traditionen ignoriert. Sie lässt sich scheiden, verabscheut fortan die Ehe, lebt das Leben ihrer männlichen Bewunderer. Sie schauspielert, singt, schreibt, hat Liebhaber und Liebschaften, ist nichts und niemandem verpflichtet. Als eine Repräsentantin des Fin de Siècle, als eine von Männern verehrte Muse und auf das verherrlichte Kind-Weib reduzierte Frau verließ sie die Grenzen der sie imaginierenden Bilder und beschritt kompromisslos den Weg zu einem selbstständigen Leben und zu ihrer eigenen Kreativität. Als Schauspielerin und Schriftstellerin finanzierte sie, wenn auch oft mehr schlecht als recht, ihr Leben. Als Mitglied des Deutschen Volkstheaters und Feuilletonistin des "Neuen Wiener Tagblattes" war sie im Wien der Zwischenkriegszeit eine lokale Berühmtheit. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung verlor sie jedoch weitgehend ihre Verdienstmöglichkeiten. Ihre Beziehungen wurden mit einem Schlag vernichtet: Friedell verübte Selbstmord, Csokor emigrierte. Zurückgezogen überlebte sie mit Hilfe einer Freundin den Krieg. Nach Kriegsende erschien ihr einziges Buch, "Das Buch ohne Titel", eine Sammlung von Erinnerungen und Essays. Geprägt von den Erfahrungen des Nazi-Regimes fand sie erstmals eine politische Heimat im kommunistischen Bund Demokratischer Frauen und im Österreichischen Friedensrat. "Fünfundsechzig Jahre habe ich nicht gewusst, warum ich lebe, jetzt weiß ich es, und jetzt muss ich sterben", sagte sie kurz vor ihrem Tod im Jahre 1950.

Die Biografie von Lina Loos ist spannend zu lesen, auch wenn sie teilweise mit feministischer Ideologie und Theorie überfrachtet ist. Was sich allerdings daraus erklären lässt, dass die erste Ausgabe im Jahr 1992 erschien, zu einem Zeitpunkt als die feministische Frauenforschung nicht nur einen Höhepunkt hatte, sondern erstmals Frauen in der Geschichte sichtbar machte, ihre Spuren verfolgte und neue Erkenntnisse und neues Wissen hervorbrachte. So gelingt es Lisa Fischer auch, über die äußere Lebensgeschichte hinaus Lina Loos als komplexe, kreative und vor allem selbstständige Persönlichkeit zu zeigen. Indem sie den Begriff der weiblichen Kreativität vom männlichen Geniekult und von der Vorstellung löst, die sie allein an der Produktion und am Erfolg von (Kunst-)Werken misst. Hier wird weibliche Kreativität im Bezugsfeld eines bürgerlichen Wiens zwischen der Jahrhundertwende und der Zweiten Republik dargestellt, wobei die reproduzierende und inspirierende Seite als ein wesentlicher Teil davon betrachtet wird. Somit wird für die Autorin die Gastgeberin künstlerischer Salons, die die Rahmenbedingungen kreativen Schaffens bietet, genauso wie die Muse, die den Schaffensprozess entfacht, selbst zu einer Künstlerin.
Lina Loos wird mit ihrer Geschichte als ein Beispiel für die vielfältigen Formen weiblicher Kreativität dargestellt. Fischer übersieht dabei allerdings, dass soziale Kompetenzen gerade im traditionellen Frauenbild eine bestimmende Rolle spielen, die eben nicht in die Selbstständigkeit führten.

Trotzdem. Lina Loos steht exemplarisch für viele andere Frauen, die neue Wege abseits der Traditionen suchen und gehen. Es ist das Verdienst der Autorin, uns daran zu erinnern und eben diese Frauen exemplarisch aus der Vergessenheit zu holen. Es ist aber auch das Verdienst des Verlages, dieses Buch wiederum aufzulegen, und zwar als Jubiläumsband anlässlich des sechzigjährigen Bestandes des Böhlau Verlages.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 07/2007)


Lisa Fischer: "Lina Loos oder Wenn die Muse sich selbst küsst"
Böhlau Verlag Wien, 2007. 213 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Dr. phil. Lisa FischerJahrgang 1959, Historikerin, Soziologin, Journalistin, Ausstellungskuratorin. Arbeitsschwerpunkte: Lebensweltanalysen, Biografieforschung 18. bis 20. Jahrhundert. Zahlreiche Publikationen.