Konrad Paul Liessmann: "Spähtrupp im Niemandsland"

Kulturphilosophische Schonkost - flott zubereitet


Die Ausgangsposition eines Philosophierenden ist komfortabel: aus prinzipiellen Gründen ist er befugt, zu allem, was ihn interessiert, philosophierend-nachdenkend Stellung zu nehmen. Konrad Paul Liessmann nützt diese Lizenz weidlich aus: ob es die Harmonielehre ist oder das Phänomen des Sammelns, die angewandte Ethik oder das Phänomen der Jagd als "Daseinsmetapher", die Psychologie von "Geld, Gott und Gesetz" oder die "Aporien" der modernen Kommunikationsgesellschaft - womit erst ein kleiner Teil des immensen Themenspektrums genannt wäre, das Liessmann in seiner jüngst vorgelegten Essaysammlung abdeckt: es gibt so gut wie nichts, zu dem Liessmann nicht irgend etwas einfallen würde.

Aus der prinzipiellen Freiheit des Nachdenkens erwächst freilich die prinzipielle Verpflichtung, sich mindestens auf der fachlichen Höhe des reflektierten Gegenstands zu bewegen, will heißen: das fachwissenschaftlich erreichte Niveau nicht philosophisch-nachdenkend zu unterbieten. In diesem Punkt nun macht sich Liessmann der groben Pflichtverletzung schuldig. Ob es seine engagierte, zugleich jedoch alle Erkenntnisse der modernen Pädagogik ignorierende - abgesehen davon auch argumentativ kaum überzeugende - Lobrede auf die universitäre "Vorlesung" ist [S. 242ff], seine hemdsärmelige Kritik der staatlichen Förderung avantgardistischer Kunst [S. 23ff] oder seine die Einsichten der empirischen Sozialforschung grob vernachlässigende Beschreibung der "heutigen Jugend" und ihrer Motive ("Schönheit, rascher Erfolg, Spaßhaben, Unterhaltung, materielle Werte"; [S. 227f]). Liessmanns "kulturphilosophische Diagnosen" siedeln im günstigsten Fall auf der intellektuellen Höhe des anspruchsvolleren Feuilletons, an vielen Stellen freilich unterschreiten sie dieses Niveau anstandslos.

Vielleicht war seriöse Reflexion aber gar nicht das oberste Anliegen des Autors. Auf Seite 215 seines Buches gibt Liessmann selbst einen Hinweis auf ein möglicherweise tieferliegendes Motiv, nämlich: "zu schockieren. Der Leser möge verzeihen, wenn ich ein wenig von diesem Recht [...] in Anspruch nehme". Tatsächlich macht Liessmann von diesem Recht sehr ausgiebig Gebrauch. Ein Hang zum Sensationellen lässt sich schon an den Essayüberschriften (die "Harmonie" in der Musik wird so als "Tochter der Schande" [S. 79ff] tituliert) oder an den abschließenden letzten Sätzen der Aufsätze festmachen (so würde die langsam verblassende "Vater-Imago" "ihren letzten Triumph" dort "feiern", wo die Nachkommen die Schuld ihrer Väter auf sich nehmen [S. 239]). Man gewinnt den Eindruck, dass der Autor weniger mit interessierten oder gar informierten Lesern denn mit leicht begriffsstützigen, vor allem aber unterhaltungssüchtigen Hörern als seinem Publikum rechnet, Hörern, die nur durch ständiges Erregen und Echauffieren bei der Stange zu halten sind. Nicht von ungefähr zählen Wörter wie "Pikanterie", "dramatisch", "gespenstisch", "Paradoxie", "Ambivalenz", "atemberaubend", "ungeahnt"; "rätselhaft", "der Witz der Sache" und ähnliche zu den Lieblingsvokabeln Liessmanns. Der Leser wird von solchen verbalen Aufmerksamkeitsheischern auf geradezu enervierende Weise verfolgt.

Liessmanns Texten eignet etwas Marktschreierisches. Das ist der Sache zwar in vielen Fällen nicht angemessen, ja, Liessmann lässt sich in seinem Bemühen, die Hörer seines Wortes zu mobilisieren, bisweilen sogar auf "Stammtischniveau" herab. Ich denke hier beispielsweise an die befremdliche Abwertung sozial engagierter Künstler ("Daß mancher Künstler [...] in allerlei sozialen und politischen Fragen seine warnende [...] Stimme erhebt, ist wohl nur aus der Angst vor ästhetischer Impotenz erklärbar." [S. 31]) oder die nicht weniger befremdliche Invektive gegen die eigenen Kollegen von der Fachdisziplin der Angewandten Ethik, denen Liessmann "bigotten Voyeurismus" [S. 178] vorwirft: "Unter dem Deckmantel der Sorge um das werdende oder vergehende Leben verbirgt sich die Lust [...] an Monstrositäten, am Morbiden und Moribunden." [S. 178].

Die Ausrichtung auf ein breites - vom Autor tendenziell unterschätztes - Publikum zeigt sich jedoch auch in einer unbestreitbaren Qualität: Liessmann formuliert pointiert und außerordentlich gut lesbar. Es ist bedauerlich, dass der Autor diese Qualitäten weniger in den Dienst der Sache, als in den Dienst eines - wie ich es nennen würde - "philosophischen Populismus" gestellt hat.

Welche Möglichkeiten ein sowohl sprachlich als auch sachlich anspruchsvolles Konzept von "Kulturphilosophie" hätte, wird schließlich an jenen Stellen in Liessmanns Essays greifbar, wo der Autor zitierend und kommentierend auf andere Philosophen - etwa seine Lieblingsphilosophen Günther Anders oder Sören Kierkegaard - Bezug nimmt. Diese Passagen zählen zu den überzeugendsten und lesenswertesten in Liessmanns Buch. Dort erst befindet sich der Autor auf vertrautem Terrain, dort erst bewegt er sich souverän und vor allem dort, über den Umweg des direkten Zitats, blitzt jene intellektuelle Brillanz auf, die ohne seriöse philosophische Anstrengung nicht zu haben ist.

(alexart; 05/2004)


Konrad Paul Liessmann: "Spähtrupp im Niemandsland"
Zsolnay, 2004. 256 Seiten.
ISBN 3-552-05303-4.
ca. EUR 21,50. Buch bestellen

Leseprobe:

VORWORT

Gerne spricht der Zeitgeist von Kulturlandschaften, und längst sind damit nicht mehr kultivierte, also landwirtschaftlich genutzte Flächen gemeint, sondern das Ineinander von Institutionen und Ereignissen, von Angeboten und Premieren, von Debatten und Sensationen, durch die jene Areale ausgezeichnet sind, in denen Kultur stattfinden soll. Die Kulturlandschaft ist ein imaginärer Raum, in dem vor Zeiten die erbitterten Kämpfe der künstlerischen Avantgarde mit der bürgerlichen Reaktion stattfanden und in dem heute schlechterdings alles seinen Platz finden kann: vom Medienspektakel bis zur Mode, von radikaler Kunst bis zu populärem Kitsch, von der Bildungsdebatte bis zur Weinverkostung.

Die Grenzenlosigkeit des Kulturbegriffs und der damit einhergehende Verlust von Bedeutsamkeit machen die Erkundungen in diesem Raum zu einer seltsamen Form von geistigem Abenteuer. Es gibt schlechterdings nichts, auf das man im Zusammenhang mit Kultur nicht stoßen könnte. Man muß in der Tat mit allem rechnen. Hinter Krieg und Küche, hinter Terror und Tanz, hinter Sport und Spiel, hinter Fundamentalismus und Festspielen, hinter Mord und Mode: überall lauert die Kultur. Aber indem sich alles als Kultur entpuppt, wird auch alles seltsam leer. Wer heute antritt, die Areale der Kultur zu erkunden, erlebt eine Mischung von Überraschung und Gleichgültigkeit. Weil alles Kultur und Kultur alles ist, ist die Kulturlandschaft zu einem Niemandsland geworden, von allen beansprucht und keinem gehörig, grenzenlos und dennoch in höchstem Maße beschränkt.

Was gibt es in diesem Areal noch zu beobachten? Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel konnte für die durchdringende Tätigkeit des Geistes noch den Begriff der Spekulation in seinem ursprünglichen Sinn verwenden: umherspähen. Der forschende Intellekt blickt sich neugierig um, und versucht die Konturen einer geistigen Topographie zu erfassen, die dem unmittelbaren Anblick ebenso undurchsichtig bleiben müssen wie einer einfache Teilhabe an den Ereignissen. Wer späht, bewegt sich in einer bestimmten Weise immer zwischen Distanz und Nähe. Nah genug an den Phänomenen, um sie auch im Detail zu erkennen, weit genug davon entfernt, um größere Konturen und Verflechtungen wahrnehmen zu können. In diesem, aber auch nur in diesem Sinne wäre der Autor der vorliegenden Texte manchmal gerne ein Spekulant.

Die in diesem Band versammelten Aufsätze und Essays möchten spekulative Erkundungen darstellen, Ausspähungen im weiten Felde der Kultur, vorrangig am imaginären Schnittpunkt zwischen Bildungsdiskursen und den Debatten der Ästhetik. Sie gehorchen keiner strengen Systematik, denn sie sind selbst Produkt einer ganz spezifischen Kultur des Zufalls. Viele der Texte entstanden aus scheinbar äußerlichen, oft ephemeren Anlässen, die nicht mehr intendierten, als eine Stellungnahme des Autors zu einer Debatte, einen Beitrag für eine Zeitschrift, einen Vortrag zu einem Thema, das längst schon feststand, einen Essay zum Katalog einer Ausstellung. Solch eine Auseinandersetzung mit dem, was Kollegen, Redakteure, Herausgeber, Ausstellungsmacher und Tagungsverantwortliche
an jemanden herantragen können, spiegelt dann trotz aller Kontingenz einige Facetten des Zeitgeists wider. Die Lust, mit der der Autor solchen Einladungen und Aufforderungen mitunter Folge leistet, resultiert auch aus der Neugier, sich mit dem, was angeblich in der Luft liegt, etwas näher zu befassen, um dann, je nach Lage der Dinge, enthusiasmiert oder desillusioniert von dannen zu ziehen.

Eine Tendenz mag allerdings hinter den unterschiedlichen Themen und Vorgaben sichtbar sein: das Bestreben des Autors, den Ausuferungen nicht nur des Kulturbegriffs durch mitunter radikale Vorschläge der Einengung zu begegnen. Wo heute von Kultur oder Humanität, von Ethik oder Ästhetik, von Medien oder Information, von Bildung oder Jugend die Rede ist, kann und darf immer alles mögliche verstanden werden. Eine mitunter polemische Besinnung auf ursprüngliche Bedeutungen, scharfe Begriffsbestimmungen und rekonstruierte Begriffsgeschichten, auf tatsächlich Grenzen ziehenden Definitionen waren manchmal unerläßlich, um Fragestellungen in einer Weise zuzuspitzen, die sie dem allgemeinen Diskurs der Unverbindlichkeit entreißen sollten.

Bei aller Heterogenität durchzieht vielleicht ein Grundgedanke diese philosophischen Streifzüge, Erkundungen und Diagnosen: daß der eigentliche Gegenbegriff zur Kultur immer noch der der Barbarei ist, einer Barbarei allerdings, die sich nicht selten die Maske der Kultur aufgesetzt hat. Die eigentlichen Überraschungen erlebte der Autor bei seinen Beobachtungen und Analysen immer dann, wenn sich die Dinge als das Gegenteil von dem entpuppten, was sie lautstark zu sein vorgaben.

Wien, im Herbst 2003 Konrad Paul Liessmann

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