Georg Christoph Lichtenberg: "Sudelbücher"

Aphorismen


Literarische Kleinode von rapierhafter Schärfe

So viel ist bereits über Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) und seine Sudelbücher geschrieben worden, dass einem als Buchrezensent kaum mehr etwas Neues hinzuzufügen bleibt. Obwohl die Quelle an Gedanken, die aus diesen Sudelbüchern sprudelt, in ihrem Gehalt schier unerschöpflich scheint. Ebenso weit und umfassend ist die Themenvielfalt, die Lichtenberg aus dieser Quelle bewässert hat. Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Staat und Gesellschaft, Religion und nicht zuletzt die Literatur seiner Zeitepoche versieht er mit kritischen, teilweise höhnischen Kommentaren, besudelt sie, so könnte man sagen, und so hat Lichtenberg es ja auch selbst ausgedrückt. Sudel- oder Schmierbücher nannte er seine ursprünglich nicht zur Veröffentlichung gedachten Aufzeichnungen, die einmal einen tagebuchartigen, flüchtigen Charakter tragen, einmal einem ausgefeilten, essayistischen Stil gehorchen. Und er lässt sich übrigens auch zynisch über die fadenscheinigen Mittel aus, wodurch Rezensenten ihrer Seichtigkeit den Anstrich des Durchdachten zu geben versuchen.

Mathematiker, Physiker, Naturforscher, Philosoph und Schriftsteller in Personalunion, dabei stets dem aufklärerischen Gedankengut verpflichtet, zeigte er in seinen satirischen Aphorismen menschliche Übel und Unzulänglichkeiten auf. Dabei bezog er seine eigenen Fehler und Schwächen mit ein und sah sich keinesfalls als den Übermenschen, der sich anmaßen konnte, von überlegener Warte aus über seine Mitmenschen zu urteilen. "Ich übergebe euch dieses Büchelchen als einen Spiegel, um hinein nach euch und nicht als eine Lorgnette um dadurch und nach anderen zu sehen." Das ist Lichtenbergs Anweisung an seine Leser. Und: "Man halte niemanden für moralisch besser, als man selbst ist, und niemand für einfältiger."

Obwohl Lichtenbergs Aphorismensammlung allgemein als zeitlos angesehen wird - menschliche Schwächen und Verhaltensweisen, die Lichtenberg anprangert, ändern sich eben nicht grundsätzlich - ist einiges davon doch nur aus dem damaligen Zeitgeist heraus zu verstehen. So stellt diese Sammlung an Aphorismen auch ein in vielerlei Hinsicht ungewöhnliches Zeitzeugnis der Aufklärungsepoche dar. Viele Bemerkungen Lichtenbergs sind Spitzen gegen Persönlichkeiten des damaligen öffentlichen Lebens, Namen, die sicher nicht jedem Leser geläufig sind. Deshalb wären also Anmerkungen und Erklärungen wünschenswert gewesen. Das Manko der vorliegenden Ausgabe scheint mir denn auch, dass der Leser keinerlei Hilfestellung erfährt. Es gibt weder ein Vor- noch ein Nachwort, keine Fußnoten, keine editorischen Kommentare, kein Namens- oder Sachregister, und auch die zahlreichen lateinischen, griechischen, französischen und englischen Sentenzen bleiben unkommentiert und ohne eine deutsche Übersetzung. Da Lichtenberg als eingefleischter Westfale das Hochdeutsche als eine orientalische Sprache verstand, trifft man in seinen Sudelbüchern gelegentlich sogar auf Plattdeutsches. "Wer nich verständlick spreckt, mot lyden, dat het dann de Leser nich verstaht, und düdet, als he kann." Der gänzlich unkommentiert belassene Text wäre also eventuell als ein kleines Manko zu sehen, doch zum Glück gibt es ja heutzutage das Internet, wo man sich schnell und umfassend informieren kann. Nun gut, dieser kleine Nachteil der vorliegenden Ausgabe wird natürlich mehr als aufgewogen durch den günstigen Preis!

Viele dieser Gedanken haben fragmentarischen Charakter, wirken manchmal wie aus dem Zusammenhang gerissen. Lichtenberg schreibt denn auch an einer Stelle: "Ordnung müsst ihr im Büchelchen nicht suchen." Dies stimmt indes nicht ganz. Bei genauerem Studium der Sudelbücher offenbart sich dem Leser doch immer wieder eine gewisse Ordnung, die dahinter steckt. Inwieweit diese Ordnung das Verdienst der frühen Herausgeber ist, oder ob man sie Lichtenberg selbst zuschreiben kann, scheint von der literarischen Forschung bis heute noch nicht ganz geklärt. Neben satirischen und zynischen Gedanken findet sich auch Besinnliches: "Ich will dir keinen Schatten machen kleines Tierchen (es war eine Spinne), die Sonne gehört dir so gut als mir." Oder: "Der Herbst, der der Erde die Blätter wieder zuzählt, die sie dem Sommer geliehen hat." Des Weiteren findet man auf Reisen Aufgelesenes, Gedanken, die aus Lichtenbergs Naturbeobachtungen erwuchsen, Munition für des Lesers persönliches Arsenal an Schimpfworten: "Sauwedel, Lausewenzel, Schnauzhahn, Scheißmatz" und vieles mehr, oder reine Nonsens-Poesie, Wortspiele wie "Polizei, Polzei, Plotzei, Platzei, Platzerei, Plackei, Plackerei." Sinnsprüche und Aphorismen für jede Stimmungslage eben. Einige Kerngedanken kehren immer wieder, so die Aufforderung, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen, seine Gedanken auch aus eigenen inneren Quellen zu schürfen und sie nicht nur aus fremden Quellen herauszulesen. "Leute, die sehr viel gelesen haben, machen selten große Entdeckungen. Ich sage dieses nicht zur Entschuldigung der Faulheit, denn Erfinden setzt eine weitläufige Selbstbetrachtung der Dinge voraus, man muss mehr sehen, als sich sagen lassen."

Zum Abschluss meiner Betrachtungen möchte ich nochmals Lichtenbergs eigene Worte anführen: "Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an."

(Werner Fletcher)


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Noch ein Buchtipp:

Ulrich Joost: "Ihre Hand, Ihren Mund, nächstens mehr. Lichtenbergs Briefe 1765 bis 1799"

"Ich kriege posttagtäglich einen herrlichen Brief von Lichtenberg, der mir eine recht delicieuse Nahrung gibt", hat Georg Forster geschrieben. Noch der Leser des 21. Jahrhunderts wird das Urteil Forsters nachvollziehen können. Etwa 1750 Briefe sind von Lichtenberg im Wortlaut ganz oder wenigstens fragmentarisch erhalten geblieben und liegen seit einigen Jahren in vier umfangreichen Bänden bei C.H. Beck vor. Daraus hat Ulrich Joost, einer der besten Kenner des Lichtenbergschen Werkes, eine Auswahl der schönsten und wichtigsten Texte getroffen. (C.H. Beck)
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