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Es begann in Kristins
Küche, als ich ungefähr fünf Jahre alt war.
Bis dahin war ich ein kleines Tier gewesen, das mit Augen, Ohren und
allen Sinnen nur das in sich eingesogen hatte, was Natur
war. Dass es auch Kultur gab, erfuhr ich erst, als
ich auf Kinderbeinen in Kristins Küche stiefelte, wo mich
überraschend ein Hauch davon streifte.
Kristin war mit unserem Kuhknecht verheiratet, und was wichtiger war, sie war Edits Mama. Diese Edit - gesegnet sei sie jetzt und allezeit - las mir das Märchen vom Riesen-Bam-Bam und der Fee Viribunda vor und versetzte meine Kinderseele dadurch in Schwingungen, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sind. In einer seit langen verschwundenen, armseligen kleinen Häuslerküche geschah dieses Wunder, und seit jenem Tage gibt es für mich in der Welt keine andere Küche. Lese ich von einer Küche oder schreibe ich selber etwas, das sich in einer Küche ereignet, so spielt sich dies ewig und unveränderlich bei Kristin ab ... dort steht die Küchenbank, dort der Tisch, dort der eiserne Herd, und dort ist die Tür zur Stube.
Ja, gesegnet sei Kristins Küche und gesegnet sei Edit! Sie las mir auch weiterhin ab und zu etwas vor. Die Bücher kann sie sich nur in der Schule geliehen haben, denn zu damaliger Zeit hatten Häuslerkinder keine Bücher. Auch Bauernkinder nicht, zumindest ich nicht. Allmählich lernte ich selber lesen und ging auf die Jagd, um meinen wilden Lesehunger zu stillen. Anfangs war die Ausbeute nur mager. Aber die Lehrerin in der Vorschule hatte immerhin einen glänzenden Einfall - alljährlich brachte sie uns vor Weihnachten wunderbar bunte Prospekte über Weihnachtszeitungen und Märchenbücher mit, so dass man sich ein Buch als Weihnachtsgeschenk bestellen konnte. Schneewittchen mit einer von Jenny Nyström gezeichneten, drallen, schwarzlockigen Prinzessin auf dem Umschlag war mein erstes eigenes Buch, danach kaufte ich mir auch "Unter Wichteln und Trollen" mit John Bauers unvergesslichen Illustrationen. Ein Buch ganz für sich allein zu besitzen - dass man vor Glück nicht ohnmächtig wurde! Noch heute weiß ich, wie diese Bücher rochen, wenn sie funkelnagelneu und frisch gedruckt ankamen, ja denn zunächst einmal schnupperte man daran, und von allen Düften dieser Welt gab es keinen lieblicheren. Er war voller Vorgeschmack und Erwartungen.
Dann war man plötzlich zehn Jahre alt und ging in die Oberschule. Im Lehrerzimmer gab es eine Schulbibliothek, und darauf stürzte ich mich wie eine Besessene und verschlang alles, was es dort gab. In diesen Jahren zwischen zehn und dreizehn verschlingt man ja Bücher, und auch ich futterte alles Erreichbare, gleichgültig ob ich es mir aus der Schulbibliothek holte oder von Mitschülern lieh, die mit Büchern besser ausgestattet waren als ich. Ich las die ganze lange Reihe von Sagen und Geschichten, vom Trojanischen Krieg bis zu "Robinson Crusoe" und "Onkel Toms Hütte", dazu alles, was ich von Jules Verne ergattern konnte, ferner "Die Erzählungen des Feldschers" und Ingermanns historische Romane, "Der Graf von Monte Christo" und "Die drei Musketiere", "Der letzte Mohikaner", "Das Dschungelbuch", "Die Schweden und ihre Häuptlinge", "Die Schatzinsel", "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" - schau an, welch stattliche Liste alter Klassiker! Und dann alle die wunderbaren Mädchenbücher. Dass es überhaupt so viele nette und lustige Mädchen in der Welt gab, die einem plötzlich ebenso nahe standen wie Geschöpfe aus Fleisch und Blut! Da war Hetty, der irische Wildfang, und Polly, die Krone alles Mädchen aus New England, ferner Pollyanna und Katy, ganz zu schweigen von Sarah, dem Mädchen mit den Diamantengruben, die so unsäglich arm wurde und frierend in ihrer Bodenkammer hockte, bis Ram Dass mit Suppe und warmen Decken zu ihr über das Dach geklettert kam. Und dann natürlich Anne auf Avonlea, o du Unvergessliche, auf ewig fährst du im Einspänner neben Matthew Cuthbert unter Avonleas blühenden Apfelbäumen! Wie ich mit diesem Mädchen gelebt habe! Einen ganzen Sommer lang spielte ich mit meiner Schwester in dem großen Sägemehlhaufen oben bei der Sägemühle Anne auf Avonlea: ich war Diana Barry, und die Dunggrube hinter dem Kuhstall war die dunkel spiegelnde Woge.
Dass es eine Zeit im Leben des Menschen gibt, wo man mit solcher Inbrunst und Hingabe liest!
(Aus "Das
entschwundene Land" von Astrid Lindgren)