Leseprobe aus 
"Wisst ihr noch, wie das damals war? Eine Großfamilie erlebt das 20. Jahrhundert"
von Regina Károlyi

(aus verschiedenen Abschnitten des Buchs)


Aus dem Kapitel "Kinderstreiche und -abenteuer" im themenbezogenen Teil

Am Faschingsdienstag gab es für die Kinder als kleine und heiß geliebte Aufmerksamkeit köstliche Laugenbrezeln, die die Mutter, wie damals üblich, für die erforderliche Menge Mehl und einen Backlohn von zwei Pfennigen pro Stück beim Bäcker kaufte.

Dieses Geschäft lief folgendermaßen ab: Jede Hausfrau besaß ein sogenanntes Backbuch, mit dem sie zum Bäcker ging. Dort wurde eingetragen, wie viel Stück Gebäck von welcher Sorte sie kaufte, und der Bäcker quittierte darin den Empfang des entsprechenden Backlohns. Außerdem vermerkte er, wie viel Mehl für das Gebäck gebraucht wurde. Diese Mehlmenge brachte die Hausfrau dann beim nächsten Mal mit.

Die Laugenbrezeln machten den Faschingsdienstag für die Kinder zum Festtag.

Herbert gelüstete es indessen auch nach und vor dem Faschingsdienstag nach den leckeren Erzeugnissen der Dorfbäckerei. Er erhielt zehn Pfennige Ministrierlohn pro Messe (wie alle Messdiener), und es erschien ihm unangemessen, dass er dafür nicht einmal zwei Brezeln kaufen konnte, denn diese kosteten im gewöhnlichen Verkauf pro Stück sechs Pfennige.

Auf den Kopf gefallen war (und ist) er allerdings nicht, und so hatte er einen glänzenden Einfall. Er "lieh" sich heimlich das Backbuch seiner Mutter und nahm es mit zur Bäckerei. Nun konnte er sich für seinen Ministrierlohn jeweils fünf Brezeln kaufen, weil der Backlohn pro Brezel ja nur zwei Pfennige betrug. Das Mehl brachte die Mutter dann wie üblich beim nächsten Einkauf zum Bäcker.

Trotz des großen Haushaltes fand die ebenfalls nicht dumme Mutter nach einer Weile heraus, dass im Backbuch Brezeln vermerkt worden waren, die niemals durch ihre Hände gegangen waren, und so versiegte Herberts Brezelquelle so plötzlich, wie sie sich aufgetan hatte.



Herberts Liebe in Sachen Genussmittel galt nicht nur den Brezeln. Eines Tages hatte er seinem Vater heimlich eine Zigarre gemopst. Zusammen mit einem Freund hütete er Kühe, und da das liebe Vieh sich ruhig verhielt, hockten sich die Jungen auf einen kleinen Hügel und rauchten abwechselnd.

Kaum ein Viertel der Zigarre war abgeraucht, als plötzlich jemand die beiden Jungen von hinten packte und ihre Köpfe gegeneinander schlug. Es handelte sich um einen Mann aus dem Dorf.

"Ja, dürfts ihr denn schon rauchen? Wo habts ihr die Zigarr'n her?", fragte der Mann sichtlich empört. Die Buben waren recht kleinlaut.

"Soll ich's bei euch daheim sagen?", fuhr der Verfechter von Recht und Ordnung grimmig fort.

"Nein!", baten die Kinder.

Daraufhin nahm er ihnen die Zigarre ab, drückte die Glut aus und steckte das gesundheitsschädliche Spielzeug ein, höchstwahrscheinlich, um es zu Hause in Ruhe selbst zu genießen. Denunziert hat er die Jungen jedenfalls nicht.

Es war durchaus üblich, dass Dorfbewohner, die ein Kind bei einer "unrechten" Tat erwischten, diesem umgehend eine Watsch'n gaben oder den Hosenboden versohlten, auch wenn es sich nicht um den eigenen Nachwuchs handelte. Damit hatte sich die Sache erledigt; zu Anzeigen wie heute kam es nicht. Die Kinder kannten die Regeln und hielten sich auf ihre Weise daran, indem sie danach trachteten, sich nicht erwischen zu lassen. Denn allzu viel Nachsicht war nicht zu erwarten.



Den Spaß am verbotenen Rauchen ließ Herbert sich dadurch nicht verderben. Er und seine Freunde schwänzten den Werkunterricht und gingen stattdessen in den Wald, um zu rauchen. Ein Klassenkamerad hatte nämlich zufällig genug Geld, um die Runde zu versorgen. Unterwegs bedienten sie sich großzügig bei des Lehrers Erdbeeren und den Johannis- und Stachelbeeren anderer Mitbürger.

Nachdem sie eine Weile in den Bäumen gesessen und geraucht hatten, wurde ihnen etwas unwohl. Auf Trampelpfaden gingen sie ins Dorf zurück, und unterwegs begegnete ihnen unvermittelt der Lehrer. Er nahm die Sünder mit und legte sie übers Knie. Das Ausmaß der Strafe staffelte er altersabhängig. Natürlich setzte er auch die Väter der Jungen von deren Vergehen in Kenntnis, sodass die Kinder zu Hause eine weitere Tracht Prügel kassierten.


Als Wendelin und Heinrich im Internat waren, mussten sie regelmäßig mit frischer Wäsche versorgt werden. Herberts Berufsschule befand sich wie auch das "Seminar" in Neumarkt, daher fiel ihm die Aufgabe zu, wöchentlich einen großen Koffer mit sauberer Wäsche ins Seminar zu bringen und die gebrauchte Wäsche nach Hause zu schaffen.

Oftmals gab ihm die Mutter auch Brat-, Leber- und Blutwürste für ihre "externen" Kinder mit. Die Bratwurstrationen trafen allerdings stets stark dezimiert ein, weil Herbert sie als Wegzehrung einsetzte. Die ganze Familie kannte Herberts intensive Liebe zu den selbstgemachten geräucherten Bratwürsten (die anderen Kinder verachteten sie ebenfalls nicht). Wenn auch die Anzahl der Würste meistens noch stimmte, so waren sie doch wesentlich schmaler geworden und sonderbar deformiert. Nicht anders erging es den Würsten in der heimischen Räucherkammer. Eines Tages entdeckte Herbert dort fünf Bratwürste, die schon ziemlich stark eingetrocknet waren. Begehrlich beobachtete er sie einige Tage lang, dann fragte er die Mutter: "Ja, willst du denn die Bratwürste gar nicht mehr 'runterholen?"

"Du bist doch ein ganz Dummer", erwiderte Maria Abt, "für dich hab' ich sie ja hängen lassen!"

Im Grunde ist diese kleine Anekdote ein schöner Beweis dafür, dass die Mutter es verstand, trotz der riesigen Kinderschar ein wenig auf jeden einzeln einzugehen.



Als Herbert wieder einmal mittags nach der Berufsschule den schweren Koffer zum Seminar schleppte, begegnete ihm der kräftige Direktor der Berufsschule und meinte: "Ja, Buabala [Bübchen], wo willst du denn jede Woche mit dem großen Koffer hin?" Herbert erklärte es ihm. Der Direktor, der eigentlich nur ein paar Meter weiter zu gehen hatte, erwiderte daraufhin großzügig: "Ach, Buabala, den trag i dir."

Beim nächsten Mal passte Herbert unauffällig den Direktor ab und richtete es so ein, dass dieser ihm wieder den Koffer trug. Von da an wusste er, wie er das Schleppen vermeiden konnte.



Die oben geschilderte Liebe zu den Bratwürsten bewies Herbert übrigens noch als junger Erwachsener. Bernhard, sein jüngster Bruder, half Herbert oft in der väterlichen Schmiede. Dieser musste gelegentlich nach Nürnberg oder Neumarkt zum Arbeiten oder Einkaufen fahren. Vor dem Start passte er einen günstigen Moment ab und sagte zu Bernhard: "Geh schnell in die Räucherkammer und hol zwei Paar Bratwürste!" Kam Bernhard mit dem Gewünschten zurück, sprang Herbert rasch ins Auto, wo er die Beute glücklich lächelnd ohne Brot oder eine andere Beilage verzehrte.



Unter den Jungen ging es oftmals rau zu. Engelbert und Hartmann bildeten jedoch eine starke Allianz. Zusammen waren sie so gut wie unbesiegbar, sogar für ältere und stärkere Burschen.

Eines Tages wetteten sie mit solch einem Jungen, dass es ihnen gelingen werde, ihm die Hose herunterzuziehen und ihm anschließend einen edlen Körperteil mit Eisenlack zu beschmieren. Trotz aller Widrigkeiten - einer der beiden musste die Hose herunterziehen und lackieren, der andere, körperlich dem Gegner weit Unterlegene, diesen festhalten - glückte die Wette. Die beiden prahlten mit ihrer Heldentat vor einem noch älteren Jungen, Felix [Name geändert]. Dieser lachte und erwiderte: "Bei mir schafft ihr gar nix!"

Engelbert und Hartmann hielten sportlich, wie sie nun einmal waren, dagegen, und so kam es zum Abschluss einer neuerlichen Wette. Die drei Burschen beschlossen, dass man sich hinterher wieder gut sei, wie auch immer die Sache ausgehe. In der Schmiede wurde die Wette durchgeführt.

Nun gelang es den beiden kleinen Abts erstaunlicherweise, auch Felix zwischen den Beinen ordentlich mit dem aggressiven Eisenlack zu bepinseln. Felix hielt sich jedoch nicht an die Friedensabmachung, da er in Jähzorn geriet. Er griff sich vom Schleifbock eine Hacke und warf sie dem flüchtenden Engelbert nach. Dieser hörte sie an seinem Kopf vorbeirauschen. Doch er hatte Glück, sie traf nicht.

Noch wütender wurde Felix, als er später bemerken musste, dass ihm die beiden Lausbuben, die ihm so übel mitgespielt hatten, durchs Fenster bei der Reinigung zusahen. Da stand Felix nun, je einen Spiegel in Beckenhöhe vor und hinter sich, und säuberte die betroffenen Stellen mit einem Herdputzmittel. Das muss höllisch wehgetan haben, denn solche Reiniger waren damals sehr aggressiv und enthielten zudem Sand.



Felix wurde von den kleineren Buben des Dorfes auch oft wegen seiner abstehenden Ohren geneckt. Sie fragten ihn frech: "Felix, fliegen wir nach Berlin?" Das ließ ihn fuchsteufelswild werden. Wenn er jedoch auf Engelbert losging, der nicht so flink und wendig war wie sein Lieblingsbruder, half ihm Hartmann. Solchermaßen zwischen zwei Fronten gezwungen, konnte sich der große Junge der Plagegeister nie recht erwehren.

Kinder können grausam sein, und wehe dem, der in irgendeiner Weise anders ist und sich dann auch noch provozieren lässt!



Ein beliebtes Ziel verletzenden Kinderspottes waren der damalige Bäcker und seine Frau, genannt "Beck" und "Beckin". Für sie gab es das in sicherer Deckung vorgetragene Spottlied:

"Beck, verreck
hinter der Heck!
Reck dein' A… [llerwertesten] zum Fenster 'raus,
dann moant [meint] ma, es is' a Weck [Semmel]!"

Die Opfer des Verses reagierten entsprechend wütend, was die darüber höchst erfreuten Dorfkinder natürlich nur noch mehr anstachelte.

Auch Geschwister waren vor bösartigen Reden nicht sicher. Jahrelang litt Adelgunde unter den Sprüchen der Brüder, die ihr erklärten, dass sie ihrem einen Tag nach der Geburt verstorbenen Zwillingsbruder im Mutterleib die Lunge eingedrückt habe.


Aus dem Kapitel "Nachkriegszeit und Währungsreform" im chronologischen Teil

Das Ehrenamt des Bürgermeisters, um bei dem oben angeschnittenen Thema wieder anzuknüpfen, brachte für den Vater einen ungeheuren Arbeitsaufwand mit sich, und das Familienleben litt sehr darunter. Der Bürgermeister war am sichersten zur Essenszeit daheim anzutreffen, sodass zu den Mahlzeiten grundsätzlich die verschiedensten Leute in der Stube auftauchten, um ihre Angelegenheiten mit dem Bürgermeister zu regeln. Für Gregor Abt bedeutete das Ehrenamt zudem, Anfeindungen und geschäftliche Einbußen hinnehmen zu müssen.

Auch nach dem Krieg gab es Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Waren wie Kleidung, Schuhe, Eisenwaren, Kochgeschirr und so weiter. Das änderte sich erst nach der Währungsreform. Am 1.5.1950 wurde die Rationierung von Zucker beendet, und damit entfielen die letzten Lebensmittelmarken.

Die Bauern waren verpflichtet, entsprechend der Größe ihres Anwesens und der Qualität, das heißt der zu erwartenden Erträge, ihrer Felder Getreide, Kartoffeln und Fleisch abzuliefern, die dann der auf diese Nahrungsmittel angewiesenen Bevölkerung zugeteilt werden konnten. Zur Bestimmung dieser Mengen gab es gesetzlich vorgeschriebene Kommissionen von drei oder vier Personen, denen auch der Bürgermeister angehörte.

Vater Abt als Bürgermeister verkörperte zugleich die Ortspolizeibehörde. Mit den Kommissionsmitgliedern, oftmals von einem Gendarmen (so wurden die Polizisten damals bezeichnet) begleitet, ging er von Hof zu Hof und legte fest, wie viel die einzelnen Bauern abzugeben hatten. Gregor Abt kannte natürlich die Anbauflächen der einzelnen Bauern und wusste, wie in jedem Jahr die Ernte ausgefallen war. Es kam vor, dass Bauern bestritten, die angegebene Menge überhaupt geerntet zu haben, und eine wesentlich geringere "Gesamternte" vorzeigten. Der Vater fragte dann sehr eindringlich nach und redete diesen Bauern ins Gewissen, damit sie schließlich doch aufrichtige Angaben machten. Fruchtete dies nicht, musste der Hof von den Kommissionsmitgliedern nach eventuell verstecktem Getreide und Kartoffeln durchsucht werden. Manche sahen nicht ein, dass der Bürgermeister und die anderen Kommissionsmitglieder nur ihre Pflicht taten und keineswegs willkürliche Absprachen trafen. In einigen Fällen wurden solche Einsätze seitens der Uneinsichtigen von Beschimpfungen, Drohungen und gelegentlichen Handgreiflichkeiten begleitet, sodass sogar Polizeieinsätze nötig wurden. Geschäftsboykotte durch diese Bauern und andere, die sich ungerecht behandelt fühlten, waren die mittelfristige Folge.

Verstecke gab es viele. Scheinbar mit Stroh oder Heu gefüllte Schober ließen sich "aushöhlen", man konnte Zwischenwände einziehen, die unterschlagenen Vorräte in Gärten, auf Feldern oder gar im Wald vergraben und Hühnerställe oder Taubenschläge damit füllen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.



Besondere Schwierigkeiten brachte das Amt mit sich, als die Flüchtlinge eintrafen. Die Dörfer, besonders jene in Bayern, wurden regelrecht mit Flüchtlingen überflutet, die vorwiegend aus dem ehemaligen Sudetengau, insbesondere der Gegend um Eger, zu einem geringeren Teil aus Schlesien, Böhmen, Ungarn, der Slowakei und Ostpreußen stammten. Ebenrieds Einwohnerzahl verdoppelte sich innerhalb kürzester Zeit beinahe. Die Vertriebenen gelangten vom Sammellager Hilpoltstein aus auf Lastwagen nach Ebenried und wurden dort vor dem Haus des Bürgermeisters abgeladen. Dieser hatte nun die undankbare Aufgabe, die Zwangseinquartierungen bei den Hausbesitzern, vorwiegend Bauern, vorzunehmen. Manchen Gehöften mussten mehrere Parteien zugewiesen werden. Diese Einquartierungen stellten eine schwierige Angelegenheit dar; es galt, den vorhandenen Platz und die Möglichkeiten der Familien zur Versorgung der Flüchtlinge zu erwägen. Denn bis die Flüchtlinge eigene Arbeit gefunden hatten, mussten ihre unfreiwilligen Gastgeber sie versorgen. Und kaum jemand war damals auf Rosen in Form überflüssigen Besitzes gebettet.

Es spielten sich häufig dramatische und mitunter auch beschämende Szenen ab. Nicht anders als im übrigen "Restdeutschland" wollte kaum jemand wildfremden Menschen, deren Sprache zudem sehr schwer verständlich war, Unterkunft gewähren. Es kam vor, dass der Vater mit Härte, Strafandrohungen und sogar Polizeigeleit vorgehen musste, zumal, wenn der Abend hereinbrach. Er konnte wohl kaum eine Lastwagenladung Menschen in seinem Hof übernachten lassen.



Nicht nur bei den Abts fehlte es nun an allem: Betten, Tischen, Stühlen, Geschirr, Koch- und Waschmöglichkeiten, Brennmaterialien, Gefäßen für Wasser, Kleidung, Schuhwerk, Windeln für Babys, ja selbst Streichhölzern und Kerzen fürs Licht, denn nicht jeder belegte Raum war mit Licht ausgestattet, geschweige denn beheizbar; oft handelte es sich lediglich um Bretterverschläge.

Bei den Flüchtlingen handelte es sich vor allem um alte Menschen und Frauen mit Kindern jeden Alters, die oftmals nicht wussten, ob ihre Männer noch lebten, sich in Gefangenschaft befanden oder gefallen beziehungsweise in Lagern gestorben waren.

Damit die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge gestillt werden konnten, musste ständig improvisiert und organisiert werden. Die Menschen führten Ofenrohre durchs Fenster, wenn ein Kaminanschluss fehlte. Dazu baute man eine Glasscheibe aus und setzte stattdessen ein Stück Blech mit einer Durchführung für das Rohr ein. Das herabtropfende Kondensat wurde in alten rostigen Büchsen aufgefangen. Alte Büchsen nahm man auch als Wasserschüsseln - und so weiter.



Eines Abends, als die Familie beim Abendbrot zusammensaß, traf ein neuer Flüchtlingstransport ein. Unter den Flüchtlingen war eine junge Mutter mit vier Kindern, die verzweifelt weinte. Sie hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen und konnte aufgrund ihrer Entbehrungen ihren Säugling nicht mehr stillen.

Ruhig und bestimmt, wie es ihre Art war, sagte Maria Abt daraufhin zu ihrem Nachwuchs: "Kinder, steht auf, ihr könnt getrost auf eine Mahlzeit verzichten."

Die Bürgermeisterfamilie bekam auf diese Weise das Flüchtlingselend hautnah zu spüren. Maria Abt konnte sich dem gegenüber nicht gleichgültig verhalten. Oft verschenkte sie Federn für Bettzeug, Brot, Teller mit Suppe und was sonst noch benötigt wurde, obwohl ihre eigene Familie im Grunde nichts übrig hatte. Den Müttern von Säuglingen schenkte sie Babyfläschchen, die sie anschließend nachkaufen musste.



Das Elend der Flüchtlinge war unvorstellbar. Fahrmöglichkeiten in andere Orte, etwa zum Arzt oder zur Apotheke, gab es nicht. Das Vorhandensein von Lebensmittelmarken und Bezugsscheinen bedeutete noch lange keine Einkaufsmöglichkeit. Darunter litten selbstverständlich auch die Alteingesessenen. Der Mangel selbst an den notwendigsten Ersatzteilen lässt sich nicht beschreiben. Bezugsscheine für Schuhe und Kleider, Glühbirnen, Kochgeschirr, Haushalts- und Eisenwaren, schier alles musste der Bürgermeister von dem vorhandenen Kontingent ausstellen. Dies fand meist in der Abtschen Stube statt, in der sich zudem noch die Familie aufhielt. Nicht selten warteten die Menschen in einer Schlange, bis sie an die Reihe kamen. Um einen Bezugsschein zu erhalten, mussten sie beispielsweise ihre Schuhe oder nicht mehr flickbare Kleidung vorzeigen. Manche wurden zwangsläufig abgewiesen, hatten sie doch erst vor kurzem einen Schein erhalten, oder ihre alten Stücke konnten noch ein wenig getragen werden. Die Kinder wurden zu Zeugen Mitleid erregender Szenen mit Tränen und Heulen. Drohungen wurden dem Vater, aber auch den Kindern entgegengeschleudert, und Unzufriedene blieben der Schmiede fern. Doch welche Wahl hätte der Vater gehabt angesichts der so streng begrenzten Kontingente?

Hier und da kam es zu nächtlichen Krawallszenen rund um das Abtsche Haus, die an Psychoterror grenzten. Leute schlugen unter lautem Gebrüll Stecken an die Fensterläden und versetzten damit die aus dem Schlaf schreckenden Hausbewohner in Angst. Abends vor dem Zubettgehen fürchteten sich die Kinder schon vor der Nacht, in der sich der Spuk vielleicht wiederholen würde. Diese Vorfälle gab es über längere Zeit. Dass sie auch die Nerven der Eltern belasteten, muss sicher nicht besonders hervorgehoben werden.

Zwei oder drei erbitterte Feinde des Vaters verabredeten sich im Wirtshaus, den verhassten Bürgermeister auf dem Rückweg von einer im Nachbarort stattfindenden Hochzeit abzupassen und "aufzuarbeiten". Es war frostiger Winter, und er wäre mit Sicherheit gestorben, wenn sie ihn zusammengeschlagen und liegengelassen hätten. Der Schmiedegeselle der Abts hörte die Unterhaltung jedoch mit und warnte seinen Chef. Dieser blieb daraufhin über Nacht im Nachbarort und entging so dem Anschlag.



1947 war ein ausgesprochenes Dürrejahr; dies führte zu Missernten. Im Sommer war eine Vertriebene mit ihren Kindern in einen zur Gemeinde gehörenden Ort zwangseingewiesen worden. Am nächsten Morgen erschien sie mit ihren Kindern beim Bürgermeister, verheult und schluchzend. Dieser konnte sie wegen der Tränen und ihres ostpreußischen Dialekts zunächst nicht einmal verstehen. Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, stellte sich heraus, dass der Bauer, sonst ein Vorzeigechrist, ihr nicht einmal Wasser, geschweige denn Milch für die Kinder gegeben hatte mit der Begründung, das wenige Wasser brauche er in dieser Trockenzeit für seine Kühe. Der Vater sprang sofort auf und fuhr zu dem Bauern. Was er diesem sagte, ist nicht bekannt, doch anschließend hatte Gregor Abt wieder einmal einen Kunden weniger.

Immer wieder musste er zwischen den Vertriebenen beziehungsweise Flüchtlingen oder auch den Ausgebombten aus Nürnberg, die im Dorf untergebracht waren, und den Einheimischen schlichten. Dabei handelte er stets uneigennützig.

Verstehen kann man, wie bereits angedeutet, auch die Einheimischen. Die meisten besaßen nicht mehr als das unbedingt Notwendige, und davon sollten sie wildfremden Menschen vieles abgeben. Die wir heute gemütlich in unseren Wohnungen und Häusern sitzen, sind kaum in der Lage, uns vorzustellen, was es heißt, urplötzlich den Wohnraum mit fremden Familien zu teilen, mit denen man sich nicht einmal richtig verständigen kann.

Jede deutsche Familie hatte Angehörige zu beklagen, bangte um Vermisste und Kriegsgefangene aus dem engsten Kreis und litt unter den Entbehrungen und den verschiedenartigen Wirren der Nachkriegszeit; vielfach empfand man ein Gefühl der Ausweglosigkeit Wie sollte man in dieser Situation noch die Kraft zum tätigen Mitleid mit anderen aufbringen, die zusätzlich zu diesen Erfahrungen den unverständlichen Verlust der Heimat erfahren hatten?

Der Bürgermeister wurde mit vielen Einzelschicksalen konfrontiert, weil auch die durch das Rote Kreuz oder anderweitig übermittelten Todesnachrichten durch seine Hände gingen. Amtlich zu machende Todeserklärungen mussten über den Bürgermeister abgegeben werden, damit Hinterbliebene eine Kriegs-, Witwen- oder Waisenrente erhielten. Für die Betroffenen stellte dies eine deprimierende und beschämende Handlung dar, zusätzlich zu dem Leidensdruck, dem sie ohnehin ausgesetzt waren; Angehörige feindeten sie oftmals an, und die Gesellschaft sah sie nicht selten als Schmarotzer. All diese inneren Konflikte, all das Leid mussten ohne psychologischen Beistand überwunden werden. Die Abt-Kinder wurden mit den erschütternden Geschichten Betroffener konfrontiert, der Mutter unter Tränen vorgetragen, wenn ihr Mann nicht anwesend war. Still hörte sie den Verzweifelten zu, ohne helfen zu können, doch oftmals brachte wenigstens ihr offenes Ohr ein wenig Linderung.


Zwischen 1935 und 1956 brachte die Frau eines mittelfränkischen Dorfschmieds und Landwirts 18 Kinder auf die Welt. Ihre Kindheit und Jugend erlebten sie in relativer Armut vor der Kulisse ständig wechselnder politischer und wirtschaftlicher Gegebenheiten: Weltkrieg, Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, Kalter Krieg, 68er Bewegung.
Die 16 noch lebenden Geschwister geben in diesem Buch Antwort auf die Frage: "Wisst ihr noch, wie das damals war?" Sie erzählten der Autorin in privaten Gesprächen von ihren eigenen Erfahrungen und denen ihrer Eltern und Großeltern. Daraus wurde schließlich eine ganz individuelle Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist in einen themenbezogenen und einen chronologischen Teil gegliedert. Subjektive Erlebnisse und sachliche Schilderungen der typischen Lebensumstände im Umfeld der Großfamilie wechseln sich ab, sodass Information und Unterhaltung einander die Waage halten. Das Buch hat einen Umfang von 268 Seiten. Es gibt eine inhaltlich identische, preisgünstigere Kleindruck-Ausgabe mit 168 Seiten. (BeJot)

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