Leseprobe
aus
"Wisst ihr
noch, wie das damals war? Eine Großfamilie erlebt das 20.
Jahrhundert"
von Regina Károlyi
(aus verschiedenen Abschnitten des Buchs)
Aus
dem Kapitel
"Kinderstreiche und -abenteuer" im themenbezogenen Teil
Am
Faschingsdienstag gab es für die Kinder als kleine und
heiß geliebte
Aufmerksamkeit köstliche Laugenbrezeln, die die Mutter, wie
damals üblich, für
die erforderliche Menge Mehl und einen Backlohn von zwei Pfennigen pro
Stück
beim Bäcker kaufte.
Dieses Geschäft
lief folgendermaßen ab: Jede Hausfrau besaß ein
sogenanntes Backbuch, mit dem
sie zum Bäcker ging. Dort wurde eingetragen, wie viel
Stück Gebäck von
welcher Sorte sie kaufte, und der Bäcker quittierte darin den
Empfang des
entsprechenden Backlohns. Außerdem vermerkte er, wie viel
Mehl für das Gebäck
gebraucht wurde. Diese Mehlmenge brachte die Hausfrau dann beim
nächsten Mal
mit.
Die
Laugenbrezeln machten den Faschingsdienstag für die Kinder zum
Festtag.
Herbert gelüstete
es indessen auch nach und vor dem Faschingsdienstag nach den leckeren
Erzeugnissen der Dorfbäckerei. Er erhielt zehn Pfennige
Ministrierlohn pro
Messe (wie alle Messdiener), und es erschien ihm unangemessen, dass er
dafür
nicht einmal zwei Brezeln kaufen konnte, denn diese kosteten im
gewöhnlichen
Verkauf pro Stück sechs Pfennige.
Auf den Kopf
gefallen war (und ist) er allerdings nicht, und so hatte er einen
glänzenden
Einfall. Er "lieh" sich heimlich das Backbuch seiner Mutter und nahm
es mit zur Bäckerei. Nun konnte er sich für seinen
Ministrierlohn jeweils fünf
Brezeln kaufen, weil der Backlohn pro Brezel ja nur zwei Pfennige
betrug. Das
Mehl brachte die Mutter dann wie üblich beim nächsten
Einkauf zum Bäcker.
Trotz des großen
Haushaltes fand die ebenfalls nicht dumme Mutter nach einer Weile
heraus, dass
im Backbuch Brezeln vermerkt worden waren, die niemals durch ihre
Hände
gegangen waren, und so versiegte Herberts Brezelquelle so
plötzlich, wie sie
sich aufgetan hatte.
Herberts Liebe
in Sachen Genussmittel galt nicht nur den Brezeln. Eines Tages hatte er
seinem
Vater heimlich eine Zigarre gemopst. Zusammen mit einem Freund
hütete er Kühe,
und da das liebe Vieh sich ruhig verhielt, hockten sich die Jungen auf
einen
kleinen Hügel und rauchten abwechselnd.
Kaum ein
Viertel der Zigarre war abgeraucht, als plötzlich jemand die
beiden Jungen von
hinten packte und ihre Köpfe gegeneinander schlug. Es handelte
sich um einen
Mann aus dem Dorf.
"Ja, dürfts
ihr denn schon rauchen? Wo habts ihr die Zigarr'n her?", fragte der
Mann
sichtlich empört. Die Buben waren recht kleinlaut.
"Soll
ich's bei euch daheim sagen?", fuhr der Verfechter von Recht und
Ordnung
grimmig fort.
"Nein!",
baten die Kinder.
Daraufhin nahm
er ihnen die Zigarre ab, drückte die Glut aus und steckte das
gesundheitsschädliche
Spielzeug ein, höchstwahrscheinlich, um es zu Hause in Ruhe
selbst zu genießen.
Denunziert hat er die Jungen jedenfalls nicht.
Es war durchaus
üblich, dass Dorfbewohner, die ein Kind bei einer "unrechten"
Tat
erwischten, diesem umgehend eine Watsch'n gaben oder den Hosenboden
versohlten,
auch wenn es sich nicht um den eigenen Nachwuchs handelte. Damit hatte
sich die
Sache erledigt; zu Anzeigen wie heute kam es nicht. Die Kinder kannten
die
Regeln und hielten sich auf ihre Weise daran, indem sie danach
trachteten, sich
nicht erwischen zu lassen. Denn allzu viel Nachsicht war nicht zu
erwarten.
Den Spaß am
verbotenen Rauchen ließ Herbert sich dadurch nicht verderben.
Er und seine
Freunde schwänzten den Werkunterricht und gingen stattdessen
in den Wald, um zu
rauchen. Ein Klassenkamerad hatte nämlich zufällig
genug Geld, um die Runde zu
versorgen. Unterwegs bedienten sie sich großzügig
bei des Lehrers Erdbeeren
und den Johannis- und Stachelbeeren anderer Mitbürger.
Nachdem sie
eine Weile in den Bäumen gesessen und geraucht hatten, wurde
ihnen etwas
unwohl. Auf Trampelpfaden gingen sie ins Dorf zurück, und
unterwegs begegnete
ihnen unvermittelt der Lehrer. Er nahm die Sünder mit und
legte sie übers
Knie. Das Ausmaß der Strafe staffelte er
altersabhängig. Natürlich setzte er
auch die Väter der Jungen von deren Vergehen in Kenntnis,
sodass die Kinder zu
Hause eine weitere Tracht Prügel kassierten.
Als Wendelin
und Heinrich im Internat waren, mussten sie
regelmäßig mit frischer Wäsche
versorgt werden. Herberts Berufsschule befand sich wie auch das
"Seminar" in Neumarkt, daher fiel ihm die Aufgabe zu,
wöchentlich
einen großen Koffer mit sauberer Wäsche ins Seminar
zu bringen und die
gebrauchte Wäsche nach Hause zu schaffen.
Oftmals gab ihm
die Mutter auch Brat-, Leber- und Blutwürste für ihre
"externen"
Kinder mit. Die Bratwurstrationen trafen allerdings stets stark
dezimiert ein,
weil Herbert sie als Wegzehrung einsetzte. Die ganze Familie kannte
Herberts
intensive Liebe zu den selbstgemachten geräucherten
Bratwürsten (die anderen
Kinder verachteten sie ebenfalls nicht). Wenn auch die Anzahl der
Würste
meistens noch stimmte, so waren sie doch wesentlich schmaler geworden
und
sonderbar deformiert. Nicht anders erging es den Würsten in
der heimischen Räucherkammer.
Eines Tages entdeckte Herbert dort fünf Bratwürste,
die schon ziemlich stark
eingetrocknet waren. Begehrlich beobachtete er sie einige Tage lang,
dann fragte
er die Mutter: "Ja, willst du denn die Bratwürste gar nicht
mehr
'runterholen?"
"Du bist
doch ein ganz Dummer", erwiderte Maria Abt, "für dich hab' ich
sie ja
hängen lassen!"
Im Grunde ist
diese kleine Anekdote ein schöner Beweis dafür, dass
die Mutter es verstand,
trotz der riesigen Kinderschar ein wenig auf jeden einzeln einzugehen.
Als Herbert
wieder einmal mittags nach der Berufsschule den schweren Koffer zum
Seminar
schleppte, begegnete ihm der kräftige Direktor der
Berufsschule und meinte:
"Ja, Buabala [Bübchen], wo willst du denn jede Woche mit dem
großen
Koffer hin?" Herbert erklärte es ihm. Der Direktor, der
eigentlich nur ein
paar Meter weiter zu gehen hatte, erwiderte daraufhin
großzügig: "Ach,
Buabala, den trag i dir."
Beim nächsten
Mal passte Herbert unauffällig den Direktor ab und richtete es
so ein, dass
dieser ihm wieder den Koffer trug. Von da an wusste er, wie er das
Schleppen
vermeiden konnte.
Die oben
geschilderte Liebe zu den Bratwürsten bewies Herbert
übrigens noch als junger
Erwachsener. Bernhard, sein jüngster Bruder, half Herbert oft
in der väterlichen
Schmiede. Dieser musste gelegentlich nach Nürnberg oder
Neumarkt zum Arbeiten
oder Einkaufen fahren. Vor dem Start passte er einen günstigen
Moment ab und
sagte zu Bernhard: "Geh schnell in die Räucherkammer und hol
zwei Paar
Bratwürste!" Kam Bernhard mit dem Gewünschten
zurück, sprang Herbert
rasch ins Auto, wo er die Beute glücklich lächelnd
ohne Brot oder eine andere
Beilage verzehrte.
Unter den
Jungen ging es oftmals rau zu. Engelbert und Hartmann bildeten jedoch
eine
starke Allianz. Zusammen waren sie so gut wie unbesiegbar, sogar
für ältere
und stärkere Burschen.
Eines Tages
wetteten sie mit solch einem Jungen, dass es ihnen gelingen werde, ihm
die Hose
herunterzuziehen und ihm anschließend einen edlen
Körperteil mit Eisenlack zu
beschmieren. Trotz aller Widrigkeiten - einer der beiden musste die
Hose
herunterziehen und lackieren, der andere, körperlich dem
Gegner weit
Unterlegene, diesen festhalten - glückte die Wette. Die beiden
prahlten mit
ihrer Heldentat vor einem noch älteren Jungen, Felix [Name
geändert]. Dieser
lachte und erwiderte: "Bei mir schafft ihr gar nix!"
Engelbert und
Hartmann hielten sportlich, wie sie nun einmal waren, dagegen, und so
kam es zum
Abschluss einer neuerlichen Wette. Die drei Burschen beschlossen, dass
man sich
hinterher wieder gut sei, wie auch immer die Sache ausgehe. In der
Schmiede
wurde die Wette durchgeführt.
Nun gelang es
den beiden kleinen Abts erstaunlicherweise, auch Felix zwischen den
Beinen
ordentlich mit dem aggressiven Eisenlack zu bepinseln. Felix hielt sich
jedoch
nicht an die Friedensabmachung, da er in Jähzorn geriet. Er
griff sich vom
Schleifbock eine Hacke und warf sie dem flüchtenden Engelbert
nach. Dieser hörte
sie an seinem Kopf vorbeirauschen. Doch er hatte Glück, sie
traf nicht.
Noch wütender
wurde Felix, als er später bemerken musste, dass ihm die
beiden Lausbuben, die
ihm so übel mitgespielt hatten, durchs Fenster bei der
Reinigung zusahen. Da
stand Felix nun, je einen Spiegel in Beckenhöhe vor und hinter
sich, und säuberte
die betroffenen Stellen mit einem Herdputzmittel. Das muss
höllisch wehgetan
haben, denn solche Reiniger waren damals sehr aggressiv und enthielten
zudem
Sand.
Felix wurde von
den kleineren Buben des Dorfes auch oft wegen seiner abstehenden Ohren
geneckt.
Sie fragten ihn frech: "Felix, fliegen wir nach Berlin?" Das
ließ ihn
fuchsteufelswild werden. Wenn er jedoch auf Engelbert losging, der
nicht so
flink und wendig war wie sein Lieblingsbruder, half ihm Hartmann.
Solchermaßen
zwischen zwei Fronten gezwungen, konnte sich der große Junge
der Plagegeister
nie recht erwehren.
Kinder können
grausam sein, und wehe dem, der in irgendeiner Weise anders ist und
sich dann
auch noch provozieren lässt!
Ein beliebtes
Ziel verletzenden Kinderspottes waren der damalige Bäcker und
seine Frau,
genannt "Beck" und "Beckin". Für sie gab es das in sicherer
Deckung vorgetragene Spottlied:
"Beck,
verreck
hinter der
Heck!
Reck dein' A…
[llerwertesten] zum Fenster 'raus,
dann moant
[meint] ma, es is' a Weck [Semmel]!"
Die Opfer des
Verses reagierten entsprechend wütend, was die
darüber höchst erfreuten
Dorfkinder natürlich nur noch mehr anstachelte.
Auch
Geschwister waren vor bösartigen Reden nicht sicher. Jahrelang
litt Adelgunde
unter den Sprüchen der Brüder, die ihr
erklärten, dass sie ihrem einen Tag
nach der Geburt verstorbenen Zwillingsbruder im Mutterleib die Lunge
eingedrückt
habe.
Aus
dem Kapitel
"Nachkriegszeit und Währungsreform" im chronologischen Teil
Das Ehrenamt
des Bürgermeisters, um bei dem oben angeschnittenen Thema
wieder anzuknüpfen,
brachte für den Vater einen ungeheuren Arbeitsaufwand mit
sich, und das
Familienleben litt sehr darunter. Der Bürgermeister war am
sichersten zur
Essenszeit daheim anzutreffen, sodass zu den Mahlzeiten
grundsätzlich die
verschiedensten Leute in der Stube auftauchten, um ihre Angelegenheiten
mit dem
Bürgermeister zu regeln. Für Gregor Abt bedeutete das
Ehrenamt zudem,
Anfeindungen und geschäftliche Einbußen hinnehmen zu
müssen.
Auch nach dem
Krieg gab es Lebensmittelmarken und Bezugsscheine für Waren
wie Kleidung,
Schuhe, Eisenwaren, Kochgeschirr und so weiter. Das änderte
sich erst nach der
Währungsreform. Am 1.5.1950 wurde die Rationierung von Zucker
beendet, und
damit entfielen die letzten Lebensmittelmarken.
Die Bauern
waren verpflichtet, entsprechend der Größe ihres
Anwesens und der Qualität,
das heißt der zu erwartenden Erträge, ihrer Felder
Getreide, Kartoffeln und
Fleisch abzuliefern, die dann der auf diese Nahrungsmittel angewiesenen
Bevölkerung
zugeteilt werden konnten. Zur Bestimmung dieser Mengen gab es
gesetzlich
vorgeschriebene Kommissionen von drei oder vier Personen, denen auch
der Bürgermeister
angehörte.
Vater Abt als Bürgermeister
verkörperte zugleich die Ortspolizeibehörde. Mit den
Kommissionsmitgliedern,
oftmals von einem Gendarmen (so wurden die Polizisten damals
bezeichnet)
begleitet, ging er von Hof zu Hof und legte fest, wie viel die
einzelnen Bauern
abzugeben hatten. Gregor Abt kannte natürlich die
Anbauflächen der einzelnen
Bauern und wusste, wie in jedem Jahr die Ernte ausgefallen war. Es kam
vor, dass
Bauern bestritten, die angegebene Menge überhaupt geerntet zu
haben, und eine
wesentlich geringere "Gesamternte" vorzeigten. Der Vater fragte dann
sehr eindringlich nach und redete diesen Bauern ins Gewissen, damit sie
schließlich
doch aufrichtige Angaben machten. Fruchtete dies nicht, musste der Hof
von den
Kommissionsmitgliedern nach eventuell verstecktem Getreide und
Kartoffeln
durchsucht werden. Manche sahen nicht ein, dass der
Bürgermeister und die
anderen Kommissionsmitglieder nur ihre Pflicht taten und keineswegs
willkürliche
Absprachen trafen. In einigen Fällen wurden solche
Einsätze seitens der
Uneinsichtigen von Beschimpfungen, Drohungen und gelegentlichen
Handgreiflichkeiten begleitet, sodass sogar Polizeieinsätze
nötig wurden.
Geschäftsboykotte durch diese Bauern und andere, die sich
ungerecht behandelt fühlten,
waren die mittelfristige Folge.
Verstecke gab
es viele. Scheinbar mit Stroh oder Heu gefüllte Schober
ließen sich "aushöhlen",
man konnte Zwischenwände einziehen, die unterschlagenen
Vorräte in Gärten,
auf Feldern oder gar im Wald vergraben und
Hühnerställe oder Taubenschläge
damit füllen. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.
Besondere
Schwierigkeiten brachte das Amt mit sich, als die Flüchtlinge
eintrafen. Die Dörfer,
besonders jene in Bayern, wurden regelrecht mit Flüchtlingen
überflutet, die
vorwiegend aus dem ehemaligen Sudetengau, insbesondere der Gegend um
Eger, zu
einem geringeren Teil aus Schlesien,
Böhmen,
Ungarn, der
Slowakei und
Ostpreußen
stammten. Ebenrieds Einwohnerzahl verdoppelte sich innerhalb
kürzester Zeit
beinahe. Die Vertriebenen gelangten vom Sammellager Hilpoltstein aus
auf
Lastwagen nach Ebenried und wurden dort vor dem Haus des
Bürgermeisters
abgeladen. Dieser hatte nun die undankbare Aufgabe, die
Zwangseinquartierungen
bei den Hausbesitzern, vorwiegend Bauern, vorzunehmen. Manchen
Gehöften mussten
mehrere Parteien zugewiesen werden. Diese Einquartierungen stellten
eine
schwierige Angelegenheit dar; es galt, den vorhandenen Platz und die
Möglichkeiten
der Familien zur Versorgung der Flüchtlinge zu
erwägen. Denn bis die Flüchtlinge
eigene Arbeit gefunden hatten, mussten ihre unfreiwilligen Gastgeber
sie
versorgen. Und kaum jemand war damals auf Rosen in Form
überflüssigen Besitzes
gebettet.
Es spielten
sich häufig dramatische und mitunter auch beschämende
Szenen ab. Nicht anders
als im übrigen "Restdeutschland" wollte kaum jemand
wildfremden
Menschen, deren Sprache zudem sehr schwer verständlich war,
Unterkunft gewähren.
Es kam vor, dass der Vater mit Härte, Strafandrohungen und
sogar Polizeigeleit
vorgehen musste, zumal, wenn der Abend hereinbrach. Er konnte wohl kaum
eine
Lastwagenladung Menschen in seinem Hof übernachten lassen.
Nicht nur bei
den Abts fehlte es nun an allem: Betten, Tischen, Stühlen,
Geschirr, Koch- und
Waschmöglichkeiten, Brennmaterialien,
Gefäßen für Wasser, Kleidung,
Schuhwerk, Windeln für Babys, ja selbst
Streichhölzern und Kerzen fürs Licht,
denn nicht jeder belegte Raum war mit Licht ausgestattet, geschweige
denn
beheizbar; oft handelte es sich lediglich um Bretterverschläge.
Bei den Flüchtlingen
handelte es sich vor allem um alte Menschen und Frauen mit Kindern
jeden Alters,
die oftmals nicht wussten, ob ihre Männer noch lebten, sich in
Gefangenschaft
befanden oder gefallen beziehungsweise in Lagern gestorben waren.
Damit die
Grundbedürfnisse der Flüchtlinge gestillt werden
konnten, musste ständig
improvisiert und organisiert werden. Die Menschen führten
Ofenrohre durchs
Fenster, wenn ein Kaminanschluss fehlte. Dazu baute man eine
Glasscheibe aus und
setzte stattdessen ein Stück Blech mit einer
Durchführung für das Rohr ein.
Das herabtropfende Kondensat wurde in alten rostigen Büchsen
aufgefangen. Alte
Büchsen nahm man auch als Wasserschüsseln - und so
weiter.
Eines Abends,
als die Familie beim Abendbrot zusammensaß, traf ein neuer
Flüchtlingstransport
ein. Unter den Flüchtlingen war eine junge Mutter mit vier
Kindern, die
verzweifelt weinte. Sie hatte den ganzen Tag nichts zu essen bekommen
und konnte
aufgrund ihrer Entbehrungen ihren Säugling nicht mehr stillen.
Ruhig und
bestimmt, wie es ihre Art war, sagte Maria Abt daraufhin zu ihrem
Nachwuchs:
"Kinder, steht auf, ihr könnt getrost auf eine Mahlzeit
verzichten."
Die Bürgermeisterfamilie
bekam auf diese Weise das Flüchtlingselend hautnah zu
spüren. Maria Abt konnte
sich dem gegenüber nicht gleichgültig verhalten. Oft
verschenkte sie Federn für
Bettzeug, Brot, Teller mit Suppe und was sonst noch benötigt
wurde, obwohl ihre
eigene Familie im Grunde nichts übrig hatte. Den
Müttern von Säuglingen
schenkte sie Babyfläschchen, die sie anschließend
nachkaufen musste.
Das Elend der
Flüchtlinge war unvorstellbar. Fahrmöglichkeiten in
andere Orte, etwa zum Arzt
oder zur Apotheke, gab es nicht. Das Vorhandensein von
Lebensmittelmarken und
Bezugsscheinen bedeutete noch lange keine Einkaufsmöglichkeit.
Darunter litten
selbstverständlich auch die Alteingesessenen. Der Mangel
selbst an den
notwendigsten Ersatzteilen lässt sich nicht beschreiben.
Bezugsscheine für
Schuhe und Kleider, Glühbirnen, Kochgeschirr, Haushalts- und
Eisenwaren, schier
alles musste der Bürgermeister von dem vorhandenen Kontingent
ausstellen. Dies
fand meist in der Abtschen Stube statt, in der sich zudem noch die
Familie
aufhielt. Nicht selten warteten die Menschen in einer Schlange, bis sie
an die
Reihe kamen. Um einen Bezugsschein zu erhalten, mussten sie
beispielsweise ihre
Schuhe oder nicht mehr flickbare Kleidung vorzeigen. Manche wurden
zwangsläufig
abgewiesen, hatten sie doch erst vor kurzem einen Schein erhalten, oder
ihre
alten Stücke konnten noch ein wenig getragen werden. Die
Kinder wurden zu
Zeugen Mitleid erregender Szenen mit Tränen und Heulen.
Drohungen wurden dem
Vater, aber auch den Kindern entgegengeschleudert, und Unzufriedene
blieben der
Schmiede fern. Doch welche Wahl hätte der Vater gehabt
angesichts der so streng
begrenzten Kontingente?
Hier und da kam
es zu nächtlichen Krawallszenen rund um das Abtsche Haus, die
an Psychoterror
grenzten. Leute schlugen unter lautem Gebrüll Stecken an die
Fensterläden und
versetzten damit die aus dem Schlaf schreckenden Hausbewohner in Angst.
Abends
vor dem Zubettgehen fürchteten sich die Kinder schon vor der
Nacht, in der sich
der Spuk vielleicht wiederholen würde. Diese Vorfälle
gab es über längere
Zeit. Dass sie auch die Nerven der Eltern belasteten, muss sicher nicht
besonders hervorgehoben werden.
Zwei oder drei
erbitterte Feinde des Vaters verabredeten sich im Wirtshaus, den
verhassten Bürgermeister
auf dem Rückweg von einer im Nachbarort stattfindenden
Hochzeit abzupassen und
"aufzuarbeiten". Es war frostiger Winter, und er wäre mit
Sicherheit
gestorben, wenn sie ihn zusammengeschlagen und liegengelassen
hätten. Der
Schmiedegeselle der Abts hörte die Unterhaltung jedoch mit und
warnte seinen
Chef. Dieser blieb daraufhin über Nacht im Nachbarort und
entging so dem
Anschlag.
1947 war ein
ausgesprochenes Dürrejahr; dies führte zu Missernten.
Im Sommer war eine
Vertriebene mit ihren Kindern in einen zur Gemeinde gehörenden
Ort
zwangseingewiesen worden. Am nächsten Morgen erschien sie mit
ihren Kindern
beim Bürgermeister, verheult und schluchzend. Dieser konnte
sie wegen der Tränen
und ihres ostpreußischen Dialekts zunächst nicht
einmal verstehen. Nachdem sie
sich etwas beruhigt hatte, stellte sich heraus, dass der Bauer, sonst
ein
Vorzeigechrist, ihr nicht einmal Wasser, geschweige denn Milch
für die Kinder
gegeben hatte mit der Begründung, das wenige Wasser brauche er
in dieser
Trockenzeit für seine Kühe. Der Vater sprang sofort
auf und fuhr zu dem
Bauern. Was er diesem sagte, ist nicht bekannt, doch
anschließend hatte Gregor
Abt wieder einmal einen Kunden weniger.
Immer wieder
musste er zwischen den Vertriebenen beziehungsweise
Flüchtlingen oder auch den
Ausgebombten aus Nürnberg, die im Dorf untergebracht waren,
und den
Einheimischen schlichten. Dabei handelte er stets
uneigennützig.
Verstehen kann
man, wie bereits angedeutet, auch die Einheimischen. Die meisten
besaßen nicht
mehr als das unbedingt Notwendige, und davon sollten sie wildfremden
Menschen
vieles abgeben. Die wir heute gemütlich in unseren Wohnungen
und Häusern
sitzen, sind kaum in der Lage, uns vorzustellen, was es
heißt, urplötzlich den
Wohnraum mit fremden Familien zu teilen, mit denen man sich nicht
einmal richtig
verständigen kann.
Jede deutsche
Familie hatte Angehörige zu beklagen, bangte um Vermisste und
Kriegsgefangene
aus dem engsten Kreis und litt unter den Entbehrungen und den
verschiedenartigen
Wirren der Nachkriegszeit; vielfach empfand man ein Gefühl der
Ausweglosigkeit
Wie sollte man in dieser Situation noch die Kraft zum tätigen
Mitleid mit
anderen aufbringen, die zusätzlich zu diesen Erfahrungen den
unverständlichen
Verlust der Heimat erfahren hatten?
Der
Bürgermeister wurde mit vielen Einzelschicksalen konfrontiert,
weil auch die
durch das Rote Kreuz oder anderweitig übermittelten
Todesnachrichten durch
seine Hände gingen. Amtlich zu machende
Todeserklärungen mussten über den
Bürgermeister
abgegeben werden, damit Hinterbliebene eine Kriegs-, Witwen- oder
Waisenrente
erhielten. Für die Betroffenen stellte dies eine deprimierende
und beschämende
Handlung dar, zusätzlich zu dem Leidensdruck, dem sie ohnehin
ausgesetzt waren;
Angehörige feindeten sie oftmals an, und die Gesellschaft sah
sie nicht selten
als Schmarotzer. All diese inneren Konflikte, all das Leid mussten ohne
psychologischen Beistand überwunden werden. Die Abt-Kinder
wurden mit den erschütternden
Geschichten Betroffener konfrontiert, der Mutter unter Tränen
vorgetragen, wenn
ihr Mann nicht anwesend war. Still hörte sie den Verzweifelten
zu, ohne helfen
zu können, doch oftmals brachte wenigstens ihr offenes Ohr ein
wenig Linderung.
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Zwischen 1935 und 1956 brachte die Frau eines
mittelfränkischen Dorfschmieds und Landwirts 18 Kinder auf die
Welt. Ihre Kindheit und Jugend erlebten sie in relativer Armut vor der
Kulisse ständig wechselnder politischer und wirtschaftlicher
Gegebenheiten: Weltkrieg, Nachkriegszeit, Wirtschaftswunder, Kalter
Krieg, 68er Bewegung. |