Thomas Lehr: "42"
Ein Leseabenteuer voll sprachlicher Brillanz und bildhafter Faszinationskraft
Zugegeben, ganz zu Beginn dieses vergnüglichen Leseabenteuers werden
die Gedanken des Lesers wohl nur schwer Fuß fassen können auf dem
schwierigen Terrain des (nur anfänglich) etwas verwirrenden
Erzählteppichs, in den Thomas Lehr seine Geschichte eingewoben hat. Ein
surrealistischer, schwer zu durchdringender Wortdschungel stellt sich
da zunächst dem Verständnis entgegen und will vom Leser erobert, urbar
gemacht werden. Eine in jedem Fall lohnende Aufgabe, das zumindest kann
ich versichern, denn es ist ein fruchtbarer, faszinierender Dschungel;
ein Dschungel von unglaublicher Vielfalt und von bizarrer Schönheit.
Man könnte auch sagen - und hier sind wir schon mitten drin in der
Thematik des Buches - Lehrs Sätze wirken wie Gedankenbeschleuniger,
stürzen in einer Fülle und mit einer Rasanz ins Bewusstsein des
Rezipienten, dass einem zunächst der Kopf raucht, man glaubt sich
gleichsam in einem linguistischen CERN wiederzufinden. Die
informationsverarbeitenden Mechanismen des Gehirns finden kaum Zeit,
alles Gelesene zu verdauen, geschweige denn, jeden einzelnen Satz, jede
aufgenommene Idee sofort passend in das Sinngefüge eines Ganzen
einzuordnen.
Vielleicht wird auch deshalb auf der Umschlagseite des Buches (dieser Text
bezieht sich auf die anno 2005 im Aufbau Verlag erschienene Ausgabe) so viel
vom Inhalt vorweggenommen. Der Klappentext enthält tatsächlich die
gesamte Handlung in nuce, was ich persönlich bedauere, so wie ich es
auch stets als ärgerlich empfinde, wenn in zahlreichen Buchrezensionen
der Inhalt einfach mehr oder weniger nacherzählt wird, wenn also zu
viel von dem preisgegeben wird, was doch der Entdeckung durch den Leser
harren soll. Bei soviel Vorabinformation brauche ich aber als Leser,
der ich primär unterhalten werden möchte und nicht in erster Linie
unter sprachlichen oder literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten an
einen Text herangehe, das Buch erst gar nicht mehr zu lesen. Und dies
ist ein uneingeschränkt lesenswertes Buch!
Nur das Allerwichtigste zum Inhalt: Ein Ich-Erzähler berichtet von einem außerordentlichen,
beinahe apokalyptischen Zwischenfall, der einer Besuchergruppe des Kernforschungszentrums
CERN bei Genf widerfährt und der in seinen Auswirkungen ganz Europa überstrahlt:
Die
Zeit gerät aus den Fugen und bleibt einfach stehen. Ein Thema, das nicht
leicht zu behandeln ist, nicht vom erzählerischen und auch nicht vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus; ein Thema, das sowohl grundlegende physikalische Kenntnisse
beim Autor voraussetzt als auch eine souveräne Behandlung der Sprache. Über
beides verfügt Thomas Lehr augenscheinlich in hohem Maße, wobei ich als physikalischer
Laie unter einer rein technisch-physikalischen Betrachtungsweise kaum eine schlüssige
Bewertung des Textes vornehmen könnte. Nebenbei, detaillierte physikalische
Kenntnisse seitens des Lesers sind - um das vorwegzunehmen - für das Verständnis
des Textes auch nicht zwingend notwendig, ein sich an der Allgemeinbildung orientierendes
Basiswissen dürfte in jedem Fall ausreichend sein. Die im Roman beschriebenen
Ereignisse sind ohnedies von einer derart irrealen Beschaffenheit, dass sie
sich logischen Erklärungsversuchen von vornherein widersetzen. Der Leser lässt
sich mit der Lektüre dieses Buches auf einen intellektuell-wissenschaftlichen
Parforceritt quer durch das Gebiet der experimentellen Teilchenphysik ein, er
wird konfrontiert mit philosophischen und naturwissenschaftlichen Theorien des
Zeitbegriffs, aber Thomas Lehr versteht es, seine Leserschaft dabei nicht zu
überfordern. Auch wenn er sie zunächst ziemlich orientierungslos durch verschachtelte,
krude Gänge stolpern, durch sich überlappende Zeitebenen irren lässt, möglicherweise
eine bewusst herbeigeführte dramaturgische Inszenierung, als benötige der Leser
ebenso wie die Protagonisten des Romans Zeit, sich das Unglaubliche, das Unbegreifliche
begreifbar zu machen. Die Irritationen der Personen, denen im Roman das Unfassbare
widerfährt, werden also gleichsam auf den Leser übertragen. Aber immer wieder
bietet der Autor seinen Lesern den roten Faden, den diese dann dankbar aufgreifen
können, um nicht vollends die Orientierung zu verlieren. Ein Bravourstück der
Erzählkunst.
Denn was die sprachliche Komponente angeht, so muss ich Thomas Lehr
absolute Meisterschaft attestieren. Seine bislang errungenen Preise
sind ihm nicht wie Ostereier in den Schoß gelegt worden, er hat sie
sich erarbeitet und verdient. "42" war ja unter
Anderem auch für den "Deutschen Buchpreis" nominiert. Und die
Preiswürdigkeit dieses fantastischen Romans sei auch hier mit keiner
Zeile in Frage gestellt, trotz der später noch zu formulierenden
Kritik. In verschwenderischer Fülle sprudeln die Ideen aus seiner
Feder, die sprachlichen Bilder, der Leser wird förmlich mitgerissen vom
Katarakt seiner sprühenden Wortkaskaden, entsprungen einem scheinbar
nie versiegenden Quell der Originalität, der fast schon in einer
Überfülle über den Leser hereinschwappt. Ein Beispiel - stellvertretend
für viele -, das Thomas Lehrs Fabulierkunst veranschaulichen möge, sei
hier nur aufgeführt, eine bildhafte Umschreibung geschlechtlicher
Vereinigung.
"... während die Lokomotive unserer Vereinigung mir ihren kreisenden
Pleuelstangen, rosa und blau geäderten Wellen, haarigen Schwungrädern
in erhitzter weißer Schmiere auf den Gleisen der Bettstatt schuftet ..."
Wer so etwas formulieren kann, der muss schon über ein
außerordentliches Talent verfügen. Nun, bei so viel Licht ist immer die
Gefahr eines Schattenwurfes gegeben, denn ausgerechnet in diesem
Zusammenhang kann ich mir einige kritische Anmerkungen nicht
verkneifen. Trotz all der Leckerbissen für Sprach-Gourmets, die Thomas
Lehr uns in seinem Werk hier so kunstvoll kredenzt, manche von
ihnen stoßen mir doch ein bisschen unangenehm auf durch ihre
übertriebene Würze, oder dadurch, dass der Autor sich ganz einfach einmal
bei den Zutaten vergriffen hat. Das ist gewiss keine Schande und
passiert gelegentlich auch den größten Meistern, also müssen wir es ihm
nachsehen. Ich möchte an dieser Stelle ein paar verdeutlichende
Beispiele anführen, um nicht missverstanden zu werden.
Mit "Annas sehnigen und sahnigen Reizen" sowie "der wehrlosen, leicht fröstelnden
Mildtätigkeit ihrer Brüste" (das erinnert mich an den Schwulst d'Annunzios)
kann ich nicht viel anfangen, ebenso wenig mit dem "Asche-und-nasses-Laub-Geruch
einer Umarmung" oder mit dem oft inflationären Gebrauch von Fremdwörtern. Xenophobe
Internationalität lasse ich ja noch durchgehen, aber savonaroleske Strafpredigten?
(Abgeleitet von
Savonarola, einem italienischen Prediger, ich musste das nachschlagen.)
Diesen Spickspeck zum Spicken seines Textes hätte man sich ebenso gut aus den
reichhaltigen Vorratskammern der deutschen Sprache besorgen können. Bei einer
solchen Überladung der Sprache drängt sich unvermeidlich der Verdacht auf, dass
Originalität hier als reiner Selbstzweck erkoren wird, als Selbstdarstellung
eines egomanisch in seinen eigenen Stil verliebten, ehrgeizigen Literaten.
(Man zähle bitte nicht die vom Rezensenten benutzten Fremdwörter
zusammen, um sie ihm sodann vorwurfsvoll in die Waagschale zu legen,
ich weiß ja, kritisieren ist immer leichter als etwas besser zu machen,
und wer wollte sich anmaßen, einen Sprachkünstler wie Thomas Lehr zu
übertreffen?)
Aber bisweilen wäre ein bisschen weniger schon mehr gewesen, eine
Binsenweisheit, gewiss, doch auch die Tatsache, dass sie ständig
wiedergekäut wird, nimmt ihr nichts von ihrer Gültigkeit. Diese auf
funkelnden, goldschimmernden Krücken einherstelzenden Fremdwörter sind
nicht immer und überall erhebend, nicht für das Gros der Leser und
schon gar nicht für die in ihrer Ausdrucksmöglichkeit schier
unerschöpfliche deutsche Sprache.
Und noch eine Schwäche des Romans haben meine unmaßgeblichen Augen
ausgemacht. Bedenkt man, dass sich die Romanfiguren einer extremen
Stresssituation, einer existenziellen Lebenskrise gegenüber sehen, so
kommt das psychologische Moment, das Ausloten bewusster sowie
unbewusster Seelenareale im Roman zu kurz. Ja, dem Ganzen fehlt eine
gewisse Seelentiefe und psychologische Aussagekraft, um als wirklich
großes, zeitloses Werk der Weltliteratur gelten zu können. Die
blutleeren Abziehbilder von Menschen, die der Autor uns präsentiert,
zumeist reduziert auf die Funktionen ihrer Lenden und Verdauungsorgane,
eine rammelnde Versuchskaninchenhorde, gebannt vom im Regelfall
immer vorwärts schießenden Schlangenmonster Zeit, das sich aber nun
einmal eine Pause gegönnt hat und in einen Stupor hibernalen Gefrierens
gefallen ist (wie es Thomas Lehr in seinem manchmal überkandidelten
Stil vielleicht hätte formulieren können), das alles ist irgendwie ohne
Leben. Dies mag natürlich durchaus so gewollt sein als unterschwellige
Kritik eines kybernetischen Menschenbildes beispielsweise, als Technik-
oder Wissenschaftssatire, was auch immer.
Da stellt sich gleich die Frage: Mit welcher Literaturgattung haben wir
es hier überhaupt zu tun, beim "42er"-Schreibexperiment des Thomas
Lehr? Mit gesellschaftskritischer, wissenschaftskritischer Literatur,
mit Science Fiction, Satire oder experimenteller Literatur? Schwer zu
sagen. Das Werk sperrt sich gegen jede Etikettierung, lässt sich in
keine Schublade zwängen, vielleicht hat es von allem etwas, und Thomas
Lehr hat all dies zu einem großartigen sprachlichen Kunstwerk
zusammengefügt. Die von mir angebrachten Kritikpunkte können und wollen
daran auch nicht rütteln. Der Gesamteindruck bleibt in jeder Hinsicht
überzeugend, ein absolut lesenswertes Buch. Ich habe es in wenigen
Tagen zweimal gelesen. Die Fülle an sprachlichen Finessen erfordert
dies geradezu, aber auch dann hat man seinen ganzen Inhalt noch nicht
annähernd ausgeschöpft.
Ich wünsche dem Autor, dass die Ziffer "42" ebenso zu Weltruhm gelangen wird
wie die Ziffern
"08/15", obwohl es sich bei seinem Roman "42" natürlich keineswegs um ein 08/15-Produkt
handelt. Auf künftige Werke des Autors dürfen wir gespannt sein.
(Werner Fletcher)
Thomas Lehr: "42"
Carl Hanser Verlag, 2013. 368 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Thomas Lehr wurde 1957 in Speyer
geboren. Er lebt in Berlin. Für seine Bücher erhielt er zahlreiche
Literaturpreise, darunter den "Rauriser Literaturpreis", den "Förderpreis
Literatur zum Kunstpreis Berlin", den "Rheingau Literatur Preis" und den
"Wolfgang-Koeppen-Preis" der Hansestadt Greifswald.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"September. Fata Morgana"
Zwei Väter und zwei Töchter, zwei parallele Lebensgeschichten in den USA und
im Irak. Ihre Schauplätze sind weit entfernt, und doch verbinden sie zwei
politische Ereignisse: Sabrina stirbt am 11. September 2001 im New Yorker "World
Trade Center", während Muna 2004 in Bagdad bei einem Bombenattentat
ums Leben kommt. Thomas Lehr begibt sich in seinem grandiosen, vielschichtigen
Werk auf eine literarische Grenzwanderung zwischen zwei Kulturen. In einer
verdichteten, lyrischen Sprache erzählt "September" vom Islam, von Öl,
Terror und Krieg und von zwei Frauen, die stellvertretend für die Opfer dieses
Konflikts stehen. (Hanser)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Frühling"
Eine kühne Novelle über Wahrheit und Schuld.
Am Anfang der 39 Sekunden, die das Ende bedeuten, stehen Dunkelheit, Ungewissheit
und Vergessen. Wo ist Christian Rauch angekommen? Was für eine merkwürdige Stadt
umgibt ihn? In eigentümlichen, verschwimmenden Bildern gleitet die Umgebung
an ihm vorüber, Zeit und Raum scheinen aufgelöst. Eine Gestalt kommt ihm zu
Hilfe, die ebenso verlässlich wie bedrohlich wirkt. Auf der Irrfahrt durch eine
fantastische Stadtszenerie steigen Erinnerungen auf: Wieder läuft Christian
hinter Robert her, dem großen Bruder, wie immer als sein kleinerer
Schatten.
Der See liegt hinter ihnen, die geangelten
Fische zucken im Drahtkorb, die Kindersandalen
knirschen im Kies. In der Garteneinfahrt stehen drei Erwachsene, auf denen eine
bedrückende Stille lastet.
Die Mutter bleibt stumm, das Gesicht des Vaters ist erstarrt. An den Fremden
darf man, soviel ist sicher, keineswegs das Wort richten. Für die beiden Jungen
ist es der letzte Abend ihrer Kindheit, der Tag, an dem sie aus ihrem behüteten
Leben herausgerissen werden - Robert, weil er zu verstehen beginnt, Christian,
weil er ahnt, was er nicht wissen will. Vierzig Jahre später noch treffen Christian
diese Erinnerungen mit zerstörerischer Gewalt.
In 39 Kapiteln werden die letzten 39 Sekunden eines Mannes vor seinem Tod berichtet.
Es ist eine kühne Meditation über Schuld und Wahrheit. (Hanser)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Die Erhörung"
"Die Erhörung" ist ein Roman der Visionen, ein Roman voller Deutungsmöglichkeiten
zwischen skeptischer Vernunft und philosophischer Phantasmagorie. In das höchst
reale Berlin
der 1970er- und 1980er-Jahre schicken himmlische Boten ihre verrätselten Offenbarungen
über Leben, Tod, Erlösung, Verdammnis, Liebe und den inneren Zusammenhang aller
Menschengenerationen von Anbeginn an.
Buch
bei amazon.de bestellen
"Nabokovs Katze"
Ebenso zärtlich wie obszön, so sprach- wie bildversessen: ein ironischer und
cineastischer Roman über das Kopfkino einer erotischen Passion, über die
Projektionen von Leidenschaften und, nicht zuletzt, über die
Nach-68er-Generation, "die stets zu klug war, um an irgend etwas zu
glauben".
Buch
bei amazon.de bestellen
"Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade"
Nach einem mehr als dreitausendjährigen Schlaf erwachen die
Helden der Ilias zu neuem Leben. Sie sehen sich verwandelt in Autoren, Verleger
und Kritiker - und wieder befinden sie sich in einer Schlacht um Reichtum, Ruhm,
Macht und Liebe. Schauplatz ihres Kampfes sind der
Literatur- und Medienbetrieb, Literaturwettbewerbe, Feuilletonredaktionen
mächtiger Zeitungskonzerne und Verlage, und wie damals sind auf beiden Seiten
Opfer zu beklagen.
Erzählt wird die Geschichte des Schriftstellers Zweiwasser, dessen Weg zum Erfolg
von seltsamen Todesfällen gesäumt ist und dessen Bücher schließlich Eingang
finden in eine alles verschlingende "Bibliothek der Gnade". Lehrs Roman ist
ein Balanceakt zwischen einem Thriller und dessen Parodie, ein Buch der großen
Leidenschaften und der tausend
Morde.
Buch
bei amazon.de bestellen