Dezsö Kosztolányi: "Ein Held seiner Zeit"
Die Bekenntnisse des Kornél Esti
Von der Wirklichkeit schwärmen, mit
Wörtern malen ...
Dezsö Kosztolányi, 1885 in Szabadka, (damals zu
Ungarn gehörig, heute liegt Subotica in Serbien), geboren, studierte nach der
Matura in Budapest Literaturwissenschaft. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern
der ungarischen Literatur nach dem Ersten Weltkrieg. Der Vielschreiber
Kosztolányi verfasste Lyrik, Romane, Novellen,
Essays sowie zahlreiche Zeitungsartikel. Außerdem übersetzte er u.a.
Shakespeare, Oscar Wilde, Heine, Hölderlin und Rilke ins Ungarische.
1931 wurde Dezsö Kosztolányi erster Präsident des
ungarischen P.E.N.-Clubs. Er starb 1936 in Budapest.
Seine Werke erfreuen sich in Ungarn großer Beliebtheit, und es ist allemal zu
hoffen, dass Dezsö Kosztolányis Bücher auch zunehmend
im deutschen Sprachraum entdeckt werden.
Einen wertvollen Beitrag hierzu leistet
die 2004 bei Rowohlt erschienene Übersetzung des Episodenromans "Esti Kornél",
erstmals in den 1930er-Jahren in Ungarn publiziert. Einmal abgesehen vom etwas
bemüht-konstruiert wirkenden Titel dieser deutschen Version, (welcher, nebenbei
bemerkt, dem köstlichen Buchinhalt nicht gerecht wird), ist der Übersetzerin
Christina Viragh, ihr verdanken wir u.a. die
deutschen Fassungen von
Sándor Márais Romanen,
ein Kompliment für die ebenso nuancenreiche wie feinfühlige Sprache zu machen,
die uns den Zugang zu Dezsö Kosztolányis
vergnüglichen "Esti-Novellen" ermöglicht, von denen, wie der Schriftsteller
Péter
Esterházy in seinem launigen Nachwort anmerkt, noch etwa 20 weitere
existieren. Somit darf der auf den Geschmack gekommene Leser ungarischer
Klassiker, nach Entdeckung Sándor Márais und
Antal Szerbs, auf
mehr hoffen.
Leichten Schrittes, von manchen Stilelementen durchaus an
Schelmenromane erinnert, unternimmt man mit dem gekonnt eingefügten verspielten
alter ego des mit den Jahren bieder gewordenen Erzählers der angedeuteten
Rahmenhandlung eine voller Fabulierlust vorangetriebene Reise durch Teile
Europas zur Zeit der Jahrhundertwende (19./20. Jhdt.) und schmunzelt über
köstliche Details. Freilich ist Kornél Esti kein Vertreter der Unterschicht, wie
es für die Hauptfigur eines klassischen Schelmenromans aus
literaturtheoretischer Sicht gefordert wäre, vielmehr gehört er infolge einer
nicht unbeträchtlichen Erbschaft, (deren Großteil übrigens in zeitraubender,
mühevoller Kleinarbeit, weil unauffällig, unter die Leute gebracht werden will -
aber das ist eine eigene Geschichte ...), dem gehobenen Bürgerstand an und kann
sich darob, finanzieller Existenzsorgen enthoben, mit ganzem Herzen, also
ungeteilter Aufmerksamkeit, seiner ureigensten Berufung, dem Sammeln und
Erzählen kurioser Begebenheiten, hingeben, wodurch sich die Entwicklung auf eine
andere, eben leichtfüßig zu beschreitende Ebene abseits des materiellen
Existenzkampfes verlagert.
Sein Dasein als zunächst reisender Student und
in weiterer Folge Literat macht Esti in gewisser Hinsicht zum Außenseiter, zum
fremden, scharfsichtigen Beobachter und hellhörigen Chronisten seiner jeweiligen
Umgebung, vergleichbar dem "Simplicissimus" oder auch dem "Till
Eulenspiegel". Nicht von ungefähr wird jedes der achtzehn Kapitel mit
markanten Sätzen wie beispielsweise "Dreizehntes Kapitel in welchem er als
Wohltäter auftritt und die vom Schicksal verfolgte Witwe unterstützt, aber am
Ende gezwungen ist, sie zu verprügeln, weil sie ihm so leid tut"
eingeleitet.
Der Novellenzyklus "Kornél Esti" kann natürlich auch als
Entwicklungs- und Bildungsroman gelesen werden, er bietet mit großer
Kunstfertigkeit verfasste Schilderungen von Erlebnissen und Erfahrungen der
Zentralfigur, ausgehend vom Ende der Schulzeit, (der gegenständlich ein eigener
Abschnitt, "Zweites Kapitel in welchem er am 1. September 1891 in den 'Roten
Ochsen' geht und die menschliche Gesellschaft kennen lernt", gewidmet ist ), als
Esti das Elternhaus verlässt, um im Ausland zu studieren.
Viele Jahre später
mit reichem Erfahrungsschatz im Gepäck nach Budapest heimgekehrt, ist er gern
gesehener Mittelpunkt abendlicher Treffen mit anderen Schriftstellern und
Journalisten, ein begnadeter Geschichtenerzähler, der stets mit Anekdoten von
seinen Auslandsreisen und -aufenthalten zu unterhalten weiß und sich auch nicht
lange bitten lässt, oder an seinen werten Budapester Mitbürgern Erstaunliches
bemerkt; ein wahrer Kenner der menschlichen Seele. Bisweilen werden auch
Bittsteller mit mehr oder minder sonderbaren Anliegen bei ihm vorstellig, wobei
Estis Aufmerksamkeit sich tendenziell danach richtet, ob das jeweilige Begehr
"Rohmaterial" für Geschichten ("Wörter wirkten auf Esti magisch."), oder eben
"nur Leid" ist, und es kann schon vorkommen, dass er dem verzweifelten Vater
eines kranken Kindes unter Aufbietung sämtlicher rednerischer Finessen sein
neuestes Gedicht vorträgt, bevor er sich den Sorgen des Besuchers
zuwendet.
Ob er, wie der allseits bekannte, gleichermaßen weit herumgekommene
Freiherr
von Münchhausen nach Lust und Laune schillernde Einzelheiten dazuerfindet
oder hier und da gehörig übertreibt? Aber nicht doch; wer wird derlei
Haarspaltereien anstellen!
Es ist stets die Anmut gelungener, intensiver
Augenblicke, Leidenschaft für die Ausgewogenheit von Geben und Nehmen, durchaus
auch auf abstrakter Ebene, von der Estis Geschichten handeln. Der wahre Künstler
sucht und findet das Absurde quasi im Vorübergehen. Sei es, dass er seinen
ersten Kuss ausgerechnet während einer Bahnfahrt gen Italien von einer
hässlichen Irren bekommt, dass er den Erzähler in der "Ehrlichen Stadt" mit
üblichen Alltagslügen konfrontiert, dass er - wie bereits erwähnt - allerlei
Taschenspielertricks anwenden muss, um den Großteil seiner Erbschaft zu
verteilen, dass er einem türkischen Mädchen dreihundertdreißig Küsse gibt, einen
für jedes türkische Wort, das Eingang ins Ungarische gefunden hat, um die
sprachgeschichtliche Schuld abzuzahlen.
Einmal wird er beinahe zum Mittäter,
als ein durchgedrehter Journalist nach einer ausgedehnten Zechtour ins Irrenhaus
gesperrt wird, ein Andermal "plaudert" er unter Aufbietung all seiner
schauspielerischen Qualitäten mit einem redseligen bulgarischen Schaffner, der
keine Ahnung hat, dass ihn sein Gesprächspartner nicht versteht. Eine Geschichte
handelt von Zsuzsika, der Tochter eines Geizhalses, die in einen Brunnen sprang,
um ihren Herzallerliebsten heiraten zu dürfen, und deren Glück nicht von langer
Dauer sein sollte, eine weitere vom vornehmsten Hotel der Welt, das schier
unglaublichen Komfort bietet und Heerscharen von Doppelgängern berühmter
Persönlichkeiten als Angestellte beschäftigt, die peinlich berührt schweigen, so
die Rede auf Geld kommt; natürlich reist Esti ab, ohne die Rechnung beglichen zu
haben.
Von der Weisheit, Würde und Bedeutung des öffentlichen Schlafens des
Präsidenten Baron Wilhelm Eduard von Wüstenfeld berichtet das zwölfte Kapitel,
das unverblümt, nichtsdestoweniger charmant, die charakterlichen Besonderheiten
der Deutschen thematisiert. Beispielsweise findet Esti, als er in einem
deutschen Badeort den Zug verlässt, alle zehn Meter ein Schild mit der
Aufschrift "Zum Meer". Er folgt den Wegweisern, bis er schließlich bei einer
Tafel "Das Meer" ankommt ...
Was dabei herauskommt, wenn man einen
Kleptomanen mit der Übersetzung eines englischen Kriminalromans betraut, darüber
gibt das vierzehnte Kapitel Auskunft ...
Von ausgleichender Gerechtigkeit im
höheren Sinn war ja bereits die Rede. Im sechzehnten Kapitel erweist sich der
Lebensretter als lästige Klette, und Kornél Esti zahlt die Schuld mit gleicher
Münze heim.
Wie eine zunächst erfreuliche, bald jedoch unerträgliche, auf
wenige Minuten anberaumte Unterhaltung Stunden dauert und dabei in nervtötendes
Gefasel ausartet, schildert das siebzehnte Kapitel, "in welchem Dani Ürögi auf
ein Wort vorbeikommt" ...
Im letzten Abschnitt besteigen wir mit Esti eine
zum Bersten mit Menschen vollgestopfte Straßenbahngarnitur und erleben sozusagen
gleichnishaft den Daseinskampf in kleinem Maßstab.
Dezsö Kosztolányis
"Kornél Esti"-Geschichten bieten charmante Milieuschilderungen,
Gesellschaftskritik und nicht zuletzt ein aufregendes Feuerwerk an witzigen
Einfällen, bestechend ausgefeilt. Was für ein Buch!
(kre; 07/2004)
Dezsö Kosztolányi: "Ein Held seiner Zeit"Kosztolanyi
(Originaltitel "Esti Kornél")
Deutsch von Christina Viragh.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2004. 303 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
rororo, 2005.
Buch
bei amazon.de bestellen
Noch ein Buchtipp:
Szilárd Rubin: "Die Wolfsgrube"
Sechs alte Schulfreunde kommen mit ihren Frauen zum ersten Mal nach fünfzehn
Jahren zu einem gemeinsamen Wochenende in einem Landhaus zusammen. Die
Wiedersehensfreude ist groß, aber schon bald stellt man fest, dass man sich
voneinander entfernt hat. Es kommt zu Verstimmungen, bis schließlich bei "Mörder
und Detektiv", einem harmlosen Gesellschaftsspiel, das die Lage entspannen soll,
das Unfassbare passiert: Nachdem für kurze Zeit das Licht ausgegangen war, liegt
eine der Mitspielerinnen erdrosselt im Wohnzimmer. Beke, Agent des ungarischen
Geheimdienstes, macht sich umgehend daran, den Fall aufzuklären. Im Folgenden
spielen verstecktes Geld, ein
Selbstmord mittels Zyankalikapsel, ein möglicher
Doppelgänger und englischer Spion, giftige
Pilze und ein dubioses
Wildschweingulasch eine Rolle - ein wahnwitziger Reigen von Ereignissen, in dem
sich alle vermeintlichen Wahrheiten verflüchtigen ...
Der ungarische Autor Szilárd Rubin, geboren 1927 in Budapest, gestorben im April
2010, veröffentlichte bereits seit den 1950er-Jahren Romane. Würdigung als
Schriftsteller von Weltrang erfuhr der geistreiche Melancholiker aber erst in
den letzten Jahren seines Lebens. (Rowohlt Berlin)
Buch
bei amazon.de bestellen