Ernst von Glasersfeld: "Radikaler Konstruktivismus"

Ideen, Ergebnisse, Probleme


Wissen existiert nur in den Köpfen der Menschen

Was ist Konstruktivismus? Eine wissenschaftlich orientierte Modephilosophie? Ernst von Glasersfeld beschreibt den Konstruktivismus als eine unkonventionelle Methode, die Probleme des Wissens und des Erkennens zu betrachten. Der Konstruktivismus erhebt die Subjektivität aller Erfahrung und allen Wissens zum Leitsatz. Das Attribut "Radikal" stammt von Ernst von Glasersfeld, der seine Lehre von anderen Versionen des Konstruktivismus abheben will. Er beruft sich im Wesentlichen auf die wissenschaftlichen Arbeiten des Franzosen Jean Piaget, die er in seinem Buch zum Teil aufgearbeitet hat. Gegner kritisieren am Radikalen Konstruktivismus, dass er keine Weltanschauung ist, die ein endgültiges Bild der Welt beschreibt, sondern lediglich für sich beansprucht, eine kohärente Denkweise zu sein.

Autor von Glasersfeld beschreibt anhand seiner Lebensgeschichte ausführlich, wie er den Weg zur konstruktivistischen Denkweise gefunden hat. Er ist mehrsprachig aufgewachsen und interdisziplinär erzogen worden. Diese Erfahrungen haben maßgeblich seine Wahrnehmung geprägt. Mit jeder Sprache ist eine andere begriffliche Welt verbunden, und Wörter können nicht immer eins zu eins übersetzt werden. Wenn bestimmte Begriffe in einer Sprache fehlen, fehlt in aller Regel auch die Differenziertheit im Denken, um diese Begriffe verstehen zu können. Diese Erfahrungen haben ihn soweit beeinflusst, dass er sich auch beruflich mit der Sprachanalyse beschäftigt hat.

Ernst von Glasersfeld betont, dass viele seiner Ideen von Denkern vor ihm entwickelt worden sind. Sein Abriss der Philosophiegeschichte ist daher subjektiv geprägt und dient dazu, seine Sicht zu untermauern. Von besonderer Bedeutung sind für ihn die Schriften von Piaget, auf die er sich beruft.

Piagets Werk über die konstruktivistische Theorie des Wissens ist umfangreich und nicht leicht zu verstehen. Die französischen Originaltexte wurden teilweise schlecht übersetzt. Zwei wichtige Schlüsselwörter aus seinem Werk sind die Begriffe "Akkomodation" (neue Denkstrukturen schaffen) und "Assimilation" (vorhandene Denkstrukturen anpassen). Treffend finde ich das Beispiel mit der Lochkarte und der Sortiermaschine, um den Begriff Assimilation zu erklären.

Im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus verwendet Ernst von Glasersfeld häufig das Wort "Viabilität". Dieser Begriff stammt aus der Biologie und bedeutet ursprünglich "Gangbarkeit" eines Weges. Er wird für die Überlebensfähigkeit von Arten und Mutationen verwendet. Von Glasersfeld möchte den philosophischen Wahrheitsbegriff vermeiden, da sich der Konstruktivismus ausschließlich auf Erfahrungswelten bezieht.

Dem Einfluss des Konstruktivismus auf die Pädagogik ist ein eigene Kapitel gewidmet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Radikale Konstruktivismus den Pädagogen nahe legt, nicht Wissen auf die Schüler zu übertragen, sondern die Kunst des Lernens auszubilden. Dies setzt voraus, dass sich Lehrende mit der Art des Denkens der Schüler auseinandersetzen.

Im letzten Teil des Buches sind Gespräche wiedergegeben, die Ernst von Glasersfeld mit Mitgliedern des Siegener Forschungsinstitutes für empirische Literatur- und Medienforschung geführt hat. Wem die bisherigen Kapitel des Buches zu theoretisch waren, der findet spätestens hier den gewünschten Überblick zum Radikalen Konstruktivismus. Die wichtigste Schlussfolgerung aus dieser Lehre ist meines Erachtens: Der Mensch ist verantwortlich für seine eigene Wirklichkeit.

(Klemens Taplan)


Ernst von Glasersfeld: "Radikaler Konstruktivismus.
Ideen, Ergebnisse, Probleme"

Suhrkamp, 2000. 375 Seiten.
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