Imre Kertész: "Dossier K."
Eine Ermittlung
Autobiografie in Interviewform
Wie er selbst am Ende seines neuen Buchs anmerkt, liebt der ungarische
Nobelpreisträger Imre Kertész
Widersprüche. Angesichts dieser Vorliebe verwundert es nicht,
dass der Autor unschlüssig ist, ob das Buch als Autobiografie
oder als Roman zu bezeichnen sei.
Sein ereignisreiches und außergewöhnliches Leben hat
Kertész in mehreren Romanen verarbeitet, unter denen "Roman
eines Schicksallosen" der bekannteste ist; in ihm finden sich
Kertész' Erfahrungen aus seiner Internierung im KZ
Buchenwald.
"Dossier K." basiert auf einem ausführlichen Interview, das
Kertész' Freund und Lektor Zoltán Hafner mit dem
Autor führte. Hafner versucht, das Leben des Autors von der
Kindheit an zu rekonstruieren: ein schwieriges Unterfangen, wenn ein
Mensch den Holocaust überlebt, die Repressalien des
Kommunismus durchgestanden und die Wende mit ihren
trügerischen Hoffnungen beobachtet hat. Der Junge, der
zwischen den Welten seiner geschiedenen Eltern hin und her wechselt,
wird vierzehnjährig nach Buchenwald verschleppt und entgeht
mehrmals nur durch Zufall - oder Glück? - dem Tod. Er
schließt nach dem Krieg das Gymnasium ab, arbeitet als
Journalist, wird zum Militärdienst verpflichtet und verfasst
anschließend seine Romane, dies jedoch zunächst
heimlich, um nicht mit dem System zu kollidieren, dessen Ideologie er
sich anfangs angenähert hat, bis ihn der totalitäre
Charakter des Kommunismus abstieß. Seinen Lebensunterhalt
verdient er mit dem Schreiben von Boulevardstücken
für das Musiktheater, was ihn beschämt, aber nicht
ins Gefängnis bringen kann - eine Art von lebensnotwendiger
Kollaboration. Als der "Roman eines Schicksallosen"
schließlich veröffentlicht wird, findet er relativ
wenig Beachtung. Dabei bleibt es, bis der internationale Durchbruch den
Autor auch im eigenen Land bekannt macht, aber seine
außergewöhnliche Art, den Holocaust darzustellen,
stößt dort nach wie vor auf viel Kritik.
Hafner und Kertész haben jedoch viel mehr als eine
Autobiografie erarbeitet. Es gelingt Hafner, den Schriftsteller
zwischen dem Ich, das in seinen Romanen auftritt, und der "wahren"
Person Imre Kertész differenzieren zu lassen, was nicht
leicht ist, weil Kertész' Romane einen ungewöhnlich
engen autobiografischen Bezug aufweisen. Zudem
äußert sich Kertész unter anderem
über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den
totalitären Regimes, deren Zeuge und Opfer er wurde. Hafner,
deutlich jünger als Kertész, fordert immer wieder
detaillierte Erklärungen und Beschreibungen jener nur
scheinbar untergegangenen Welten ein. Dies gilt auch für die
Entwicklung des Schriftstellers, die von der schicksalhaften
Konfrontation mit Werken bedeutsamer Philosophen und anderer
Geistesgrößen geprägt wurde, wenn man von
seinen eigenen Lebenserfahrungen absieht - und für
Kertész' Beziehung zum
Judentum, die für einen in
diese Glaubensgemeinschaft hineingeborenen Atheisten
naturgemäß nicht unkompliziert sein kann.
Nach und nach entwickelt sich so ein Überblick über
ein Leben, das mit Ereignissen angefüllt ist, denen man sich
vielleicht tatsächlich nur über das Schreiben stellen
kann - und mehr als das, diese Autobiografie, dieser Roman, wie man es
nimmt, lässt vor dem Leser auch in aufrüttelnder,
verstörender Weise das gesamte 20. Jahrhundert in Ungarn aus
der Sicht eines jüdischen Bürgers
vorüberziehen.
Die Freundschaft zwischen Kertész und Hafner tut diesem Buch
sehr gut; vermutlich wäre es ohne die tiefe Vertrautheit und
das Klima von gegenseitigem Respekt zwischen Fragesteller und Autor
niemals gelungen. Wenn es um Fragen am Rand der Schmerz- und
Schamgrenze geht, drängt Hafner nach, ohne je zu
bedrängen. So kommt der harmonische, lebendige Dialog an
keiner Stelle zum Erliegen, und von ihm lebt das Buch. Hafner verwendet
die Chronologie als roten Faden, zu dem die Gesprächspartner
bei ihren häufigen, abwechslungsreichen und spannungsgeladenen
Exkursen immer wieder zurückfinden.
Diese Autobiografie bestätigt zwar, dass man
Kertész in seinen Romanen sehr unmittelbar begegnet, doch
sie ermöglicht einen kompakteren und dennoch weiter gefassten
Einblick in seine außergewöhnliche
Persönlichkeit. Der Untertitel "Eine Ermittlung"
enthält zwar die unterschwellig spürbare
Selbstverpflichtung des Autors, sich für sein Leben, seine
Einstellungen zu rechtfertigen, aber es handelt sich letztlich vor
allem um Vermittlung, und als solche ist das Buch vorzüglich
dazu angetan, den Leser auf Kertész' Romane vorzubereiten
oder deren Lektüre zu ergänzen.
Die Übersetzung orientiert sich sehr eng am Originalstil. Auch
die gesamte Aufmachung des Bandes lässt nichts zu
wünschen übrig - ein in jeder Hinsicht
empfehlenswertes Buch!
(Regina Károlyi; 10/2006)
Imre
Kertész: "Dossier K. Eine Ermittlung"
Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm.
Gebundene Ausgabe:
Rowohlt, 2006. 238 Seiten, mit 80 s/w-Abbildungen.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2008.
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Weitere Buchtipps:
László F. Földényi: "Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch"
Imre Kertész ist längst ein Klassiker der europäischen Literatur nach 1945.
In seinen Romanen, Essays und Tagebüchern beschäftigt sich der
Literaturnobelpreisträger auf ungewöhnliche und bisweilen provozierende Weise
mit der Conditio humana nach Auschwitz. Meist wird Kertész' Werk autobiografisch
gelesen, doch das eigene Leben dient ihm eher als Nährboden, auf dem er seinen
facettenreichen poetischen Kosmos entfaltet.
Mit dem "Kertész-Wörterbuch" liegt erstmals ein Hilfsmittel vor, das
die komplexen Zusammenhänge in seinem OEuvre erhellt und Orientierung bietet.
Die mehr als 100 Einträge stellen charakteristische, interessante oder
merkwürdige Begriffe vor, die bei Kertész immer wieder auftauchen: von A wie
"Anführungszeichen" und F wie "Fußballplatz" über G wie
"Glück" und N wie "Natürlich" bis hin zu W wie "Wolkengrab".
Jeder einzelne dieser Artikel, die der ungarische Literaturwissenschaftler
László Földényi verfasst hat, ist ein brillanter Essay - und regt dazu an,
sich wieder in Kertész’ Bücher zu vertiefen. (Rowohlt)
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Imre Kertész: "Letzte Einkehr"
zur Rezension ...
Tagebücher 2001-2009. Mit einem Prosafragment
Imre Kertész: "Der Betrachter" zur Rezension ...
Aufzeichnungen 1991 - 2001
Imre Kertész: "Briefe an Eva Haldimann"
In einem Budapester Schwimmbad erfuhr
Imre Kertész 1977 zufällig, dass in der "Neuen Zürcher Zeitung"
eine Rezension seines in Ungarn kaum beachteten Erstlings "Roman eines
Schicksallosen" erschienen war. Die Verfasserin war Eva Haldimann, die,
selbst ungarischer Abstammung, das Literaturgeschehen in ihrer ehemaligen Heimat
mit ihren hochgeschätzten Buchbesprechungen in der "NZZ" über
Jahrzehnte zuverlässig begleitete, um den Autoren "ein kleines Fenster
nach dem Westen zu öffnen". Zwischen der Rezensentin und dem Autor
entwickelte sich ein Briefwechsel, der seine höchste Intensität erst nach der
anderen großen Öffnung, der europäischen Wende, erreichte und damit zu einem
sehr persönlichen und einem Zeitdokument über das Jahrzehnt zwischen Kertész’
erstem Erfolg in Deutschland und dem Nobelpreis 2002 geworden ist - seinen
einzigartigen Aufstieg vom verkannten ungarischen Schriftsteller zum Weltautor.
(Rowohlt)
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