Tamás Jónás: "Als ich noch Zigeuner war"
Band 1 der Reihe "Literaturwunderland Ungarn"
Entzauberte Zigeunerromantik
Deutschsprachigen Lesern ist die Situation der
Zigeuner (ich verwende im Folgenden diesen auch vom Autor, der diesem Volk
selbst entstammt, stets gebrauchten Ausdruck - ungarisch: cigány - und hege
keinerlei diskriminierende Absichten!) in Ungarn vermutlich wenig vertraut. Sie
verbessert sich seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems allmählich,
ist aber nach wie vor überwiegend von bitterer Armut, mangelnder Bildung und
früher Elternschaft geprägt; auch die distanzierte Haltung der
Bevölkerungsmehrheit schwindet nur langsam. Die meisten Zigeuner leben unter
sich in ihren Dorfgemeinschaften.
Dies ist das soziale Umfeld, in dem sich
Tamás Jónás' Geschichten abspielen, sowohl der autobiografische erste Teil des
Buchs als auch der fiktive zweite.
Im autobiografischen Abschnitt reihen sich
Episoden aneinander, nicht chronologisch, sondern in der scheinbar diffusen
Anordnung, wie sie aus der Erinnerung auftauchen mögen. In schonungsloser
Offenheit erzählt Tamás Jonás von seinem gewalttätigen Vater, der Mutter, die
den Großteil des Lebensunterhalts erbettelt oder ihn sich zusammenleiht - und
nie zurückzahlen kann -, dem kriminellen großen Bruder und den koketten
Schwestern. Die ganze Familie wird wegen ihrer Schulden eingesperrt, die Eltern
im Gefängnis, die Kinder in Heimen, und Tamás erlebt sexuelle Übergriffe durch
ältere Jungen und sadistische Quälereien durch eine Pflegemutter. Zurück in der
Familie, in feuchten, schimmeligen Räumlichkeiten mit einem Plumpsklo außerhalb
des Hauses, ist es auch nicht viel besser, denn die bittere Armut bringt ständig
Erniedrigung und Scham mit sich. Die erste Liebe, und nicht nur sie, endet
unglücklich. Dennoch gelingt es Tamás - dies wird nur andeutungsweise erfasst -,
sich der Spirale aus Armut, Unwissen und Gewalt zu entwinden, denn er entwickelt
seine Begabung weiter: Tamás ist ein Dichter.
Die fiktiven Erzählungen
befassen sich mit ähnlichen Themen, mit den Auswirkungen der Armut, dem
dörflichen Zigeunerleben, den körperlichen und seelischen Erfahrungen der Liebe;
Verzweiflung, Eifersucht, Gewalt, Konflikten mit den "Gadschos" (den
Nicht-Zigeunern), verlassenen Kindern. Aus scheinbar nichtigen Anlässen
entwickeln sich wirkliche Dramen.
"Literaturwunderland
Ungarn": Seit einigen Jahren werden etliche ungarische Klassiker von
deutschsprachigen Verlagen erfolgreich neu übersetzt und aufgelegt (ein Auslöser
dafür war der Nobelpreis für
Imre Kertész), und auch
der junge Autorennachwuchs findet zunehmend Beachtung. Tamás Jónás, mit mehreren
nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, verdient diese
Aufmerksamkeit. Seine Erzählungen mit ihrer Authentizität, der Dramatik des
Alltäglichen, berühren den Leser tief und machen
eine ganz eigene Welt zugänglich, eine in sich abgeschlossene Welt am Rand Ostmitteleuropas, fremd
anmutend und tragisch. Jónás' Stil ist ohne Aufdringlichkeit, schlicht wie die
dargestellten Szenen, dabei geprägt vom Bilderreichtum der ungarischen Sprache,
den die Übersetzung übrigens hervorragend vermittelt. Und der junge Autor vermag
wunderbar zu erzählen, drängend und forsch in den Handlungen und Dialogen, dann
wieder verweilend, um eine Szene farbig und detailliert auszumalen. Zwar findet
der mitteleuropäische Leser in Jónás' Darstellung zuweilen die gewohnte
Operetten-Folklore des Zigeunerlebens wieder, erkennt jedoch, dass es sich dabei
nur um eine dünne bunte Lackschicht handelt; das wahre Leben darunter ist selten
von tänzerischer Leichtigkeit, sondern meistens unerbittlich und
beschämend.
Vielleicht gelingt es Tamás Jónás dank diesem auch von der
Aufmachung her gelungenen Buch, über Ungarns Grenzen hinaus eine interessierte
Leserschaft zu finden; zu wünschen wäre es ihm.
(Regina Károlyi; 03/2006)
Tamás Jónás: "Als ich noch Zigeuner war"
Aus dem Ungarischen von Clemens Prinz.
Kortina Verlag, 2006. 213 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Ein Buchtipp:
Klaus-Michael Bogdal: "Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von
Faszination und Verachtung"
Geborene Diebe und Lügner, Gefährten des Satans, Waldmenschen, unzähmbare Wilde,
eine Bande von Asozialen ... Dies sind nur einige der Zuschreibungen, mit denen
die Romvölker Europas in den letzten 600 Jahren ausgegrenzt wurden. Wie es
möglich wurde, dass sich jahrhundertealter Hass in einem Spannungsverhältnis von
Faszination und Verachtung bis heute halten konnte, zeigt in seinem brillant
recherchierten Buch nun Klaus-Michael Bogdal zum ersten Mal im europäischen
Vergleich. Der Autor weist in dieser spannend und anschaulich erzählten
Geschichte nach, wie die Europäer zum verachteten Volk am unteren Ende der
Gesellschaftsskala stets die größtmögliche Distanz suchten. Keine der
unterschiedlichen Gesellschafts- und Machtordnungen, in denen sie lebten, ließ
und lässt eine endgültige Ankunft in Europa zu. Ohne einen schützenden Ort sind
sie seit ihrer Einwanderung vor 600 Jahren ständigen Verfolgungen und
Ausgrenzungen ausgesetzt: in den Imaginationen der Kunst und in der politischen
Realität. Das Buch umfasst die Geschichte der Darstellung der "Zigeuner" in der
europäischen Literatur und Kunst vom Spätmittelalter bis heute - von Norwegen
bis Spanien, von England bis Russland. Die Dokumente, die Bogdal heranzieht,
reichen von den frühen Chroniken und Rechtsdokumenten über ethnografische Werke
und künstlerische Darstellungen bis hin zu den Holocausterinnerungen von Sinti
und Roma. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen