Wolfgang Jeschke: "Das Cusanus-Spiel"
Science Fiction vom Besten
Rom im Jahr 2052: Die EU ist in mehrere Teile zerbrochen, Italiens Süden durch die globale Erwärmung zur Steppe geworden.
Afrikaner und Süditaliener drängen nach Norden, wo faschistische und mafiöse Organisationen Terror gegen sie und die
restliche Bevölkerung ausüben.
In dieser Umgebung hat die Ich-Erzählerin Domenica Ligrina gerade ihr Botanik-Studium beendet. Sie ist froh, als sie von
einer mysteriösen vatikanischen Organisation ein Stellenangebot erhält, denn nach einer atomaren Katastrophe in Mitteleuropa ist
die Artenvielfalt und damit das Betätigungsfeld für Botaniker stark zurückgegangen. Während der rätselhaft anmutenden
Eignungstests wird sie gefragt, für welchen Abschnitt der Geschichte sie sich am meisten interessiere; sie wählt die
Mitte des 15. Jahrhunderts: Um diese Zeit lebte Nicolaus Cusanus, ein den Naturwissenschaften offen gegenüberstehender
Kardinal; Domenicas Interesse hat er geweckt, weil sie öfters die Kirche mit seinem Grabmal besucht hat.
Gelegentlich erfolgen nun Einschübe mit immer ein und derselben Szene
aus einer Reise des Nicolaus Cusanus in seine deutsche Heimat; Cusanus
erhält Informationen über eine geheimnisvolle, gelehrte Frau, die der
Hexerei angeklagt wurde, und die ihm Briefe geschrieben haben soll. Die
Einschübe enden jeweils ganz unterschiedlich. Es zeichnet sich ab, dass
diese Hexe Domenica sein muss.
Mittlerweile wird Domenica auf ihre Aufgabe vorbereitet: Sie soll in die Vergangenheit, in Cusanus' Zeit zurückreisen,
um möglichst viele Proben der damaligen Flora in die Jetztzeit (2052) zu bringen. Man hofft, die zerstörte Flora damit
wiederbeleben zu können.
Domenica lernt sehr viel über das Zeitreisen, vor allem aber, dass unser Universum einem Evolutionsprozess unterliegt;
es entstehen immer wieder Paralleluniversen, von denen aber nur die tauglichsten überleben. (Folglich spiegeln die
verschiedenen Versionen der Cusanus-Episode Entwicklungen in verschiedenen Universen wider.)
Und dennoch versagt sie bei ihrer bedeutsamen Zeitreise: Als sie bereits rund tausend Pflanzenarten gesammelt und
geordnet hat, wird sie der Hexerei bezichtigt und zum Tode verurteilt. Eine Freundin, die irrtümlicherweise schon 20 Jahre
im späten Mittelalter verbracht und ebenfalls eine Vielzahl von botanischen Proben genommen hat, kann sie retten.
Dennoch erhält Domenica die Chance, ihren Herzenswunsch zu erfüllen: ihren heißgeliebten Vater nachträglich vor einem
Terrorattentat zu retten, dem er in ihrer Kindheit zum Opfer fiel.
Das offene Ende ist ein wenig unbefriedigend: Wer hält seine Hand über Domenica, sodass sie nach dem aufwändigen, aber
verpatzten Einsatz noch eine weitere, für die Organisation "Istituto pontificale della Rinascita della Creazione di
Dio" völlig nutzlose Zeitreise unternehmen kann? Inwiefern haben die beiden Zeitreisen Domenica verändert? Das riecht
förmlich nach einer Fortsetzung.
Insgesamt aber ist der Roman in sich schlüssig und logisch aufgebaut. Das Szenario
wirkt trotz der Fülle von modischen Grusel-Zukunfts-Klischees (fatale Klimaänderung
und Umweltkatastrophen, gentechnisch erzeugte Horrorwesen, ein atomarer Super-GAU
mit daraus resultierenden Mutanten aller Art, riesiges Ozonloch, extremer Rassismus
und so weiter - nichts fehlt) glaubwürdig, abgesehen davon, dass man im Jahr
2052 wohl vom
Erdöl als Hauptenergieträger
losgekommen sein sollte.
Ganz faszinierend und voller authentisch wirkender,
anschaulicher Details hat Wolfgang Jeschke die Situation und den Lokalkolorit
der wichtigsten Städte des Romans, Rom, Venedig und Amsterdam, für das Jahr
2052 ausgemalt. Ebenso bilderreich schildert er
das
Köln des ausgehenden Mittelalters.
Die Handlung ist stets spannend und bietet
viele unerwartete und skurrile, manchmal wie eine Persiflage auf Douglas Adams
wirkende Wendungen, die Charaktere werden individuell und interessant dargestellt.
Alle technischen und physikalischen Hintergründe erklärt Jeschke gründlich und
nachvollziehbar, wobei er etliche zur Entstehungszeit des Romans aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einflicht. Dank dieser durchdachten Ausgestaltung wird die Geschichte
um Domenica ausgesprochen gut fassbar; der Leser lässt sich unversehens mitreißen
und fiebert mit Domenica um das Gelingen ihrer lebensgefährlichen und auch psychisch
und physisch belastenden Missionen.
Wolfgang Jeschkes "Cusanus-Spiel" verpasst dem Science Fiction-Roman einige neue Facetten und hat nicht zuletzt
wegen der im Mittelalter angesiedelten Komponente das Potenzial, das Genre einem weiteren Leserkreis zugänglich zu machen.
(Regina Károlyi)
Wolfgang Jeschke: "Das Cusanus-Spiel"
Knaur, 2008. 703 Seiten.
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Wolfgang Jeschke, 1936 geboren,
war der Großmeister der deutschen Science Fiction. Bis 2001 war er Lektor der
Science Fiction-Reihe im Heyne-Verlag. Als Herausgeber von mehr als
einhundert 100 Anthologien und Autor von Romanen, Erzählungen und Hörspielen wurde er mehrmals mit dem
renommierten "Kurd-Lasswitz-Preis" ausgezeichnet.
Wolfgang Jeschke starb am 10. Juni 2015 im Alter von 78 Jahren in München.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
Wolfgang Jeschke, Rainer Eisfeld: "Marsfieber"
Rainer Eisfeld und Wolfgang Jeschke zeigen in diesem opulent illustrierten Buch,
wie die Wissenschaft im Lauf der Zeit die Fantasiewelten aus Literatur und Kino
überholt hat - und wie wir immer noch unsere Wunschträume und Schreckensbilder
auf den roten
Planeten projizieren. (Droemer)
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"Dschiheads"
Auf einem weit abgelegenen Planeten, dessen Klima für eine Besiedlung denkbar
ungeeignet ist, leben die Dschiheads, eine rätselhafte Sekte, die einst von der
Erde geflohen ist und auf dieser neuen Welt eine bizarre Gesellschaftsform
errichtet hat. Jahrzehntelang hat sie niemand in ihrem religiösen Wahn gestört -
doch als ein Forschungsteam die Ökologie des Planeten untersuchen will, kommt es
zur Katastrophe. (Heyne)
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"Der
letzte Tag der Schöpfung"
Wolfgang Jeschkes großer Klassiker der deutschen Science Fiction, ein Roman
nur vergleichbar mit
Andreas Eschbachs "Das Jesus-Video": Eine atemberaubende Zeitreise Millionen
Jahre in die Vergangenheit. (Heyne)
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Ergänzende
Buchtipps:
William J. Hoye: "Die mystische Theologie des Nicolaus Cusanus"
Als Nikolaus von Kues von den Benediktinermönchen am Tegernsee gebeten wurde,
in einer aktuellen Kontroverse zur Rolle der Vernunft in der mystischen Theologie
Stellung zu nehmen, arbeitete er seine eigene mystische Theologie sorgfältig
heraus und eröffnete damit einen Zugang zu seinem faszinierenden Denken insgesamt.
Dieses Denken vereint Mystik und Philosophie, Glaubensoffenbarung und Vernunft,
Bibel und
Platon.
Hoyes Darstellung präsentiert den Denkweg des Cusaners historisch nachvollziehbar
und in seiner gegenwärtigen Aktualität. Zugleich setzt sich Hoye mit neueren
Cusanus-Deutungen auseinander, z. B. mit der antitheologischen Cusanus-Interpretation
von Kurt Flasch. (Herder)
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Nicolaus Cusanus: "Philosophische
und theologische Schriften"
Herausgegeben und eingeleitet von Eberhard Döring.
Nicolaus von Cues (1401-1464), Kardinal und Jurist, Politiker und Astronom sowie
ein Meilenstein in der Philosophie, war der Universalgelehrte des 15. Jahrhunderts.
Von ihm gingen maßgebliche Impulse aus, und wir hätten heute eine andere Philosophie,
wäre dem
Deutschen Idealismus Cusanus bekannt gewesen. (Marixverlag)
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Kurt Flasch: "Nicolaus Cusanus"
Kurt Flasch führt in diesem Buch in knapper Form in das Leben und Werk des
vielleicht bedeutendsten Philosophen des 15. Jahrhunderts ein. Er folgt seinen
Denk-Experimenten und arbeitet die Theorien und ihren argumentativen Ort heraus,
die Cusanus (1401-1464) selbst wichtig waren. Der Leser wird zum Mitdenken
angeregt und lernt Cusanus aus seinen Werken kennen. (C.H. Beck)
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