Marcus Jensen: "Oberland"
Nach einem siebenjährigen Marathon durch Schule und Zivildienst trabte ich gewissermaßen ins Stadion, in die Station, ich drehte die finalen Runden der gesamten Strecke unter ausbleibendem Jubel, ich lief ein in die leere, eisig stumme Arena, ... und plötzlich war mir ein wenig einsam zumute.
(Auszug aus "Oberland")
Eine Trilogie
In seinem Roman "Oberland" beschreibt Marcus Jensen Szenen einer deutschen Kindheit
und Jugend. Beleuchtet werden drei Lebensabschnitte aus dem Leben des 1967 geborenen
Jens Behse. Aus den Fragmenten entsteht das Bild des nachdenklichen Außenseiters
Behse, der Grenzerfahrungen sucht und stark suizidgefährdet ist. Im Alter von
zweiundzwanzig Jahren begeht Jens Behse tatsächlich Selbstmord. Die Erzählungen
erfolgen aus jenseitiger Perspektive.
Der erste Teil des
Romans handelt von einer Urlaubsreise der Familie Behse in den Herbstferien 1973
nach Helgoland. Jens, der sechsjährige Sohn, gerät auf der stürmischen Überfahrt
in Lebensgefahr. Er begibt sich aufs Deck und wird fast über Bord gespült.
Bereits hier sind, seltsam für einen Jungen seines Alters, erste Spuren einer
Todessehnsucht erkennbar.
Das Schiff erreicht die Insel Helgoland, die aus
dem Unterland, einer schmalen, spitz zulaufenden Sandbank und dem Oberland
besteht. Hier liegt das Fischer- und Feriendorf, in dem die Behses die Pension
von Frau Kerber, einer ehemaligen Krankenschwester, aufsuchen. Jens hört
Geschichten über den Piraten Störtebeker und die Bombardierung des Oberlandes im
2. Weltkrieg.
Er setzt sich mit existenziellen Fragen auseinander. Die
Überbetonung derartiger Fragen fällt auf.
Der zweite Teil der Trilogie
beschreibt die Jugendzeit des Protagonisten in Pinneberg Anfang der 1980er
Jahre. Schulzeit, Jugendclique und erste Kontakte mit Mädchen sind die zentralen
Themen. Der Autor streut in seine Erzählungen zahlreiche Begriffe ein, die
typisch für die 1980er Jahre sind. Die Stimmung dieser Ära wird lebendig, ebenso
wie die
Musik
der "Neuen deutschen Welle".
Jens Behses Todessehnsucht zieht sich wie
ein roter Faden durch die Erzählung. Besonders deutlich wird sie, als er sich in
der Silvesternacht von dem Balkon eines Hochhauses hängt - eine Mutprobe ohne
Zeugen.
In dieser Zeit lernt Jens ein Mädchen kennen, welches sich, ohne dass
er das ahnt, im Schnittpunkt der drei Teile der Trilogie bewegt. Der zweite Teil
der Erzählung endet tragisch.
Der dritte Abschnitt der Trilogie beginnt
und endet im Jahre 1989. Nach den bisherigen Ereignissen ist es nicht
verwunderlich, dass Jens seinen Zivildienst in der Abteilung der Todkranken in
einem Hamburger Krankenhaus verbringt. Er ist unangepasst, schwer zugänglich und
befindet sich in Opposition zu den Menschen seiner Umgebung.
Im Krankenhaus
trifft er Frau Kerber wieder, die schwer krank ist. Er erkennt sie nicht. Frau
Kerber leistet ihren Beitrag zur Aufklärung der Verhältnisse. Die Verbindungen
zu Helgoland werden klarer und der Kreis schließt sich.
"Oberland" ist
keine leichte Lektüre. Die Abläufe und Zusammenhänge sind, vielleicht verursacht
durch die jenseitige Perspektive, schwer nachvollziehbar.
Handelt es sich um
einen Schelmenroman? Ich halte den Roman eher für eine düstere, mit einer guten
Portion Zynismus angereicherte Geschichte, in der der Zeitgeist der 1980er Jahre
lebendig wird. Die partiell vorhandene Untergangsstimmung der 1980er Jahre wird
instrumentalisiert, um Jens Behses Todessehnsucht zu erklären. Oder ist es eher
umgekehrt?
Ging es Marcus Jensen darum, die sinnentleerte Neuzeit
aufzuarbeiten, in der Vereinsamung zum gesellschaftlichen Problem wird? Unter
diesem Blickwinkel wird der destruktive Pfad, auf dem sich der Protagonist
bewegt und den er niemals verlässt, verständlich. Die Tiefe des Werkes lässt
vielfältige Interpretationsspielräume zu.
Marcus Jensen, 1967 in Hamburg
geboren, ist in Pinneberg aufgewachsen. Er lebt heute in Berlin. 1999
veröffentlichte er in der Frankfurter Verlagsanstalt seinen von der Kritik hoch
gelobten Erstling "Red Rain". Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. für
"Oberland" den Kulturförderpreis des Kreises Pinneberg und verschiedene
Stipendien, z. B. vom Künstlerdorf Schöppingen.
(Klemens Taplan; 03/2004)
Marcus Jensen: "Oberland"
Frankfurter Verlagsanstalt, 2004. 506 Seiten.
ISBN 3-627-00104-4.
ca. EUR 24,90.
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Zu einem Interview mit Marcus Jensen
Lien:
https://www.marcusjensen.de/
Ergänzender Buchtipp:
"Red
Rain":
Silvester 1999: Fünf Stunden vor dem großen Moment sitzt der
namenlose Erzähler, eine verkrachte Existenz Anfang vierzig, der seine besten
Tage in den 1970ern hatte, auf dem Bordklo der letzten Inlandsmaschine mit Ziel
Berlin-Tegel. Indianische Gesänge aus dem Walkman und Wodka der Marke Sibirskaya
helfen ihm bei der mentalen Vorbereitung auf die bevorstehende Aufgabe: Auf der
großen Silvesterparty für die politische Prominenz der Hauptstadt soll er den
Indianer Red Rain spielen und die sinnsuchende Gesellschaft mit Zukunftsvisionen
beglücken. Da der Bedarf an Gurus zu diesem so ungeheuer wichtigen Termin extrem
groß ist, konnte sie keinen echten Schamanen anheuern. Also muss ihr Ex
herhalten, mit dem sie vor Jahren eine esoterische Reise zu einem Indianerstamm
nach Arizona unternommen hatte. Das Flugzeug landet
in Berlin, das in
dieser Nacht völlig außer Rand und Band ist. Nicht nur steht die
Jahrtausendwende bevor, eine Terrorgruppe droht außerdem, um Mitternacht auf dem
Fernsehturm des Alex eine
Atombombe zu zünden. Mittlerweile auch äußerlich zum
Indianer verwandelt, wird Red Rain von drei Bodyguards wie ein Staatsgast
empfangen. Es folgt eine wahnwitzige Irrfahrt durch die Stadt, behindert durch
Straßensperren und eine Star-Wars- und
Star-Trek-Fanparty,
bis der Spuk kurz vor Mitternacht in den Katakomben unter dem Alex mit einem
Showdown endet.
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