Roland Girtler: "Irrweg Jakobsweg"

Die Narbe in den Seelen von Muslimen, Juden und Ketzern


Erinnerungskultur von hoher Güte

Nachdem Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt wurde, musste er sich ein Papstwappen wählen. Dieses wies unter anderem die Jakobsmuschel auf, die schon in seinem Wappen als Erzbischof von München und Freising enthalten war. Es heißt, damit wolle er ausdrücken, dass das Leben ein Pilgerweg zu Gott sei, und er erweise seiner Regensburger Stammkirche St. Jakob die Reverenz. Damit hat Papst Benedikt den heiligen Jakob ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.

Dieser heilige Jakob der Ältere war der Lieblingsjünger von Jesus Christus. Er starb 45 n. Chr. den Märtyrertod, als ihm das Haupt abgeschlagen wurde. Dieser martialische Tod mag der Anlass dazu gewesen sein, dass man im 9. Jahrhundert für die christlichen Eroberungsfeldzüge in Spanien gegen die Mauren den heiligen Jakob als Leitfigur, als Inspiration für den Kampf gegen die Heiden wählte. Man tötete Menschen für den heiligen Jakob. Der Ruf "Für Jakob!" war übrigens zu Beginn der Neuzeit noch der Schlachtruf spanischer Eroberer in Amerika, wenn sie den dortigen Ureinwohnern den Garaus machten.

Nun gibt es in Spanien einen Ort, von dem behauptet wird, dort ruhten die Gebeine des heiligen Jakob, Santiago di Compostela am Ende der "Sternenstraße". Im Hochmittelalter war Santiago der wichtigste Wallfahrtsort der Christenheit. Das hatte damit zu tun, dass die heiligen Stätten im Heiligen Land verloren gegangen waren, aber auch mit der Erreichbarkeit des Ortes für Pilger aus Zentral- und Westeuropa. Da der Besuch der Grabeskirche den vollkommenen Ablass der Sünden versprach, spannten sich bald Jakobswege durch ganz Europa, und Millionen Pilger zogen gegen Spanien.

In den 1970er Jahren war Santiago di Compostela fast vergessen. Im Jahr 1987 aber erklärte die UNESCO den Wallfahrtsweg zum Weltkulturerbe, und wurden damals nur kärgliche 3.000 Besucher jährlich registriert, sind es heute schon 100.000. Von Südfrankreich aus über die Pyrenäen nach Galicien am nordwestlichen Ende Spaniens, nahe der portugiesischen Grenze, zu wandern, ist unter vielen Gläubigen, aber auch Wanderern, Kult. Als Pilger auf alten Pfaden kann man heute noch zahlreiche Spuren dieses mittelalterlichen Glaubenswegs erleben, vor allem auf spanischem Boden. Tafeln, Ortsnamen, Kirchen und Pilgerhäuser verzaubern den Weg durch die Berge, den einst Karl der Große mit seinem Heer genommen haben soll.

Derzeit kann man in deutschen Buchhandlungen zwischen knapp 200 Büchern über den "Jakobsweg" wählen. In der Mehrzahl geben diese die geschichtliche und auch christliche Faszination über diese uralte Tradition wieder. Kritische Anmerkungen oder eine geschichtliche Aufarbeitung dieses eher zwiespältigen Phänomens bleiben da eher aus. Eine harte, aber sachliche Behandlung des Themas hat nun der Soziologieprofessor an der Universität Wien, Roland Girtler, vorgelegt, und man muss sagen, es ist ein äußerst lesenswerter und belehrender Einblick in die mittelalterliche Welt geworden, der die sonst übliche eurozentrische Sicht vermeidet und etwas Kosmopolitisches hat.

Der Autor des Buches "Die Lust des Vagabundierens" und Doktor der Philosophie ist halb Lebenskünstler, halb Akademiker. Seine Lebensbeschreibung beinhaltet Tätigkeiten als Bierführer oder Filmkomparse (bei einem Film mit Omar Sharif), jahrelange Feldforschungen bei einem indischen Volksstamm, aber auch jahrzehntelange Tätigkeit als akademischer Lehrer ("Methoden der Feldforschung"). Des Themas Jakobsweg hat er sich eher zufällig angenommen. Qualifiziert durch sein Studium der Urgeschichte und Ethnologie, war Girtler auf das Thema gestoßen, weil im Familienwappen seiner Frau die Jakobsmuschel prangt.

Das Buch ist die detaillierte und fundierte Darstellung der Geschichtsfälschung Jakobsweg. So gibt es keinen Beweis dafür, dass die Gebeine des heiligen Jakob den langen Weg nach Spanien antraten, wohl aber genügend Hinweise darauf, dass Propagandaschriften des Mittelalters die Basis des Jakobsmythos bilden. Wenn man es genau betrachtet, hat die sogenannte "Reconquista", die Eroberung Spaniens durch das Christentum, wenig Christliches. Die damalige Vertreibung der Mauren, heroisiert in Epen wie dem "Rolandslied", war genaugenommen ein Vernichtungsfeldzug, bei dem die Errungenschaften einer kulturell überlegenen Gesellschaft zerstört wurden. Gerade im Bereich des Schrifttums wurde zahlloses wertvolles Wissen ausgelöscht. Diese "Bücherverbrennungen" erinnern nicht zufällig an die Bücherverbrennungen der Nazis, und die Judenverfolgungen der damaligen Zeit sind Vorboten der Judenverfolgung des Dritten Reichs.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Papst Benedikt XVI. Girtlers Buch als Bettlektüre auswählen wird, noch glaube ich, dass dieses mutige Buch im Zeitalter des Wassermanns eine größere Anzahl von Wallfahrern davon abhalten wird, in Begeisterung auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln. Alle Anderen aber werden "Irrweg Jakobweg" mit Gewinn lesen, denn das Buch ist nicht nur ein fundiertes Geschichtsbuch, sondern Erinnerungskultur von hoher Güte.

(Berndt Rieger; 06/2005)


Roland Girtler: "Irrweg Jakobsweg"
Edition Gutenberg, 2005. 160 Seiten.
ISBN 3-900323-85-2.
Buch bei amazon.de bestellen

Roland Girtler, geboren 1941 in Wien, Dr. phil., aufgewachsen im oberösterreichischen Gebirge. Studium an der Universität Wien (Ethnologie, Urgeschichte, Philosophie, Soziologie), Professor am Institut für Soziologie der Universität Wien.
Er forschte in Bauerndörfern Gujarats (Indien) und in den Slums von Bombay, bei "feinen Leuten" (Aristokraten, Politikern, Jägern usw.), in städtischen Randkulturen (Dirnen, Vagabunden, Ganoven, usw.), bei Bergbauern, Wilderern, Schmugglern, bei den Landlern in Siebenbürgen, usw. Und radelte als Pilger zu dem einzig wirklichen und vagabundierenden Heiligen - zum heiligen Franz von Assisi.

Weitere Publikationen des Autors (Auswahl):

"Pfarrersköchinnen. Edle Frauen bei frommen Herren"

Auf allen möglichen Gebieten hat Roland Girtler seine Forschungen durchgeführt. Er forschte bei Wiener Vagabunden, bei Dirnen, bei Bauern, bei Wildschützen, bei Klosterschülern, Landärzten und auch bei feinen Leuten. Nun galt sein Interesse den Pfarrersköchinnen (diese klassische Bezeichnung gefällt ihm besser als "Pfarrhaushälterinnen"). In diesem Buch versucht der Autor, die Buntheit des Lebens der Pfarrersköchinnen wiederzugeben. Dazu gehört der Einsatz für den Pfarrer, die Gemeinschaft, die Freude an der Kirche und vieles mehr. Unter Pfarrersköchinnen finden sich oft auch wagemutige Frauen, sogar eine Fallschirmspringerin und eine Schmugglerin traf Roland Girtler im Zuge seiner Forschungen an. In einem großen Kapitel wird das brisante Thema des Zölibats, der Ehelosigkeit des Priesters, vor allem aus der Sicht der Pfarrersköchinnen beleuchtet. Schließlich gibt es Pfarrersköchinnen, die sich in ihren Dienstherren verliebt haben. Und Pfarrer, die die Pfarrersköchin heirateten. Über Pfarrersköchinnen zu forschen hat also seinen Reiz - wenn es auch heute nicht mehr allzu viele von den klassischen gibt -, passen sie doch gut in die bunte Breite kulturellen Handelns, das das Interesse eines Kulturforschers findet. Allerdings, so meinte eine von ihnen verschmitzt, sei es wahrscheinlich leichter, über Dirnen zu forschen als über Pfarrersköchinnen, denn nicht wenige von ihnen seien sehr fromm, aber auch sehr schlau.
Eine Auswahl von Original-Kochrezepten der Pfarrersköchin Bertilia Mandl rundet den Band ab. (Böhlau)
Buch bei amazon.de bestellen

"Wilderer-Kochbuch mit Durchschuss. Rezepte von Eva Bodingbauer"
Die über tausendjährige Geschichte der Wildschützen ist eine Geschichte der Not und des Aufbegehrens gegen den Adel, der den Bauern sogar verbieten wollte, den Wald zu betreten. In der Gestalt des Wildschützen erwuchs daher im Gebirge eine Heldenfigur, die bis heute mystifiziert und romantisiert wird. Die Wilderer verstanden es, Mut und bergsteigerisches Können einzusetzen, um den bäuerlichen Mittagstisch durch ein Wildbret zu bereichern. Zu ihnen gesellten sich dann die Sennerinnen, die mithalfen, die bäuerliche Tafel mit einem Reh- oder Gamsbraten zu schmücken.
Gemeinsam mit Eva Bodingbauer hat sich Roland Girtler auf die Spur der alten Wildererrezepte gemacht. Diese gehen von einfachen Speisen, wie sie typisch für die Kultur der Armut im Gebirge waren, bis zu "noblen" Menüs, wie sie bei Hochzeiten oder ähnlichen Festivitäten der Bauern und Wildschützen im Gebirge aufgetischt wurden. Eva Bodingbauer hat die Rezepte nachgekocht und mit zahlreichen anschaulichen Fotos dokumentiert.
Rund um die Gerichte herum macht sich Roland Girtler Gedanken über die Herkunft der Speisen, die alte Kultur der Wildschützen und präsentiert Geschichten, wie sie auf Almhütten und in den Gasthäusern erzählt wurden. (Böhlau)
Buch bei amazon.de bestellen


"Rotwelsch. Die alte Sprache der Gauner, Dirnen und Vagabunden"
Die Gaunersprache, das Rotwelsch (rot: mittelhochdeutsch für "listig" und welsch: "falsch reden"), auf den Straßen, in Gasthäusern und in Gefängnissen weitergegeben, schöpft aus langen sprachlichen Traditionen: Neben mittelhochdeutschen Wörtern finden sich darin alte jiddische Ausdrücke ebenso wie Begriffe aus romanischen und slawischen Sprachen. Bereits seit dem Mittelalter versuchten diverse Vögte und Kriminalisten den Gaunern und dem fahrenden Volk auf die Schliche zu kommen, weshalb schon sehr früh von amtlichen Stellen Vokabularien der Gaunersprache verfasst wurden. Ein wichtiges Beispiel ist der "Liber Vagatorum" (Das Buch der Vaganten) aus der Zeit um 1520, in dem sich Wörter finden, die heute noch von Wiener "Sandlern" (Vagabunden der Großstadt) und Dirnen verwendet werden. Der Soziologe Roland Girtler befasst sich in diesem Buch vor allem mit der Wiener bzw. österreichischen Gaunersprache und stellt sie in Beziehung zum gesamten deutschsprachigen Raum. (Böhlau)
Buch bei amazon.de bestellen

"Die feinen Leute. Von der vornehmen Art, durchs Leben zu gehen"
Nobel geht die Welt zugrunde - unter dieses sarkastische Motto könnte man dieses erfolgreiche Buch von Roland Girtler stellen. Der Autor unterstellt ein überall sichtbares, tagtäglich angestrengtes Streben nach Vornehmheit. Jeder möchte sich würdig und stolz, entweder in aller Bescheidenheit oder unter tosendem Beifall, über andere erheben. Der Mensch als animal ambitiosum wünscht und sucht den Beifall; er sehnt sich nach einer ehrenvollen Stellung in der Gruppe, am Arbeitsplatz oder im gesellschaftlichen Leben. Den vielfältigen Strategien, die dafür aufgewendet werden, ist der Autor nachgegangen. Mit heiterer Ironie, aber nie ohne Sympathie, stellt Girtler die Bemühungen um einen Platz an der Sonne dar. Er ist den Eitelkeiten von Adeligen, Politikern, Aufsteigern, Honoratioren, Ganoven, Sandlern, Räubern, Jägern, Sportlern, Gentlemen, Yuppies, Generälen, Professoren, Schauspielern, Geistlichen u. v. a. nachgegangen und beschreibt deren Symbole, Fetische und sorgsam erwogenen Schritte im dauernden Kampf um Anerkennung. Dieses Streben nach Vornehmheit orientiert sich an einem allgemein anerkannten Vorbild: der Welt der Adeligen, den feinen Ritualen und Symbolen der Hocharistokratie. Am Lebensstil, an den Regeln, an den Gewohnheiten und auch an den liebevoll gepflegten Extravaganzen der Adeligen messen sich all jene, die im "demonstrativen Müßiggang" eine ihnen adäquate Rolle sehen. (Böhlau)
Buch bei amazon.de bestellen

Ergänzende Literatur:

Klaus Herbers: "Jakobsweg. Geschichte und Kultur einer Pilgerfahrt"
Der Pilgerweg nach Santiago de Compostela erfreut sich weit über den Kreis frommer Pilger hinaus zunehmender Beliebtheit. Klaus Herbers beschreibt anschaulich, wie der Jakobuskult seit dem 8. Jahrhundert im Westen Spaniens entstand und zum Bollwerk gegen das muslimische Spanien wurde. Er erläutert die historische Funktion der Jakobswege als „Kulturstraßen Europas“ und stellt ihre wichtigsten Stationen vor. (C. H. Beck 2006)

Buch bei amazon.de bestellen