Franz Hohler: "Es klopft"
Wie
das Unerwartete das Leben beherrscht
Alles beginnt am 5. Mai 1983, als es sich der junge HNO-Arzt Manuel
Ritter gerade im Bahnhof von Basel in einem Erste-Klasse-Abteil des
Zuges nach
Zürich bequem gemacht hat. Er kehrt von einem
Ärztekongress
über den Tinnitus nach Hause zurück.
Plötzlich, der Zug setzt sich gerade in
Bewegung, klopft es an die Scheibe, eine Frau blickt ihn eindringlich
an und verschwindet dann
sogleich aus seinem Blickfeld, weil sich der Zug aus dem Bahnhof bewegt.
Was wollte die Frau von ihm? War sie etwa eine Teilnehmerin des
Kongresses? Manuel Ritter ist die ganze Zugfahrt über mit dem
Vorfall
beschäftigt, und auch während der folgenden Tage geht
ihm diese Frau nicht aus
dem Kopf. Seiner Frau Julia, mit der er zwei kleine Kinder hat und die
halbtags in einer
Schule Italienisch unterrichtet, erzählt er nichts davon.
Aber etwa eine Woche später, der letzte Patient des Tages hat
gerade das Behandlungszimmer verlassen, meldet ihm die
Sprechstundenhilfe eine
Frau an, die sich nicht abwimmeln lässt und ihm von der
Tinnitus-Tagung
etwas bringen möchte. Ritter empfängt die Frau und
erkennt sie als die Frau im
Bahnhof in Basel. Sie stellt sich ihm als Eva Wolf vor. Sie habe bei
der Tagung in Basel als
Übersetzerin gearbeitet, dort sei er ihr
nachdrücklich aufgefallen.
Gefragt, was sie denn von ihm wolle, antwortet sie: "Ein
Kind."
Sie sei schon 35 Jahre alt und habe bisher keinen geeigneten Vater
für ihr Wunschkind gefunden, und dort bei der Tagung sei sie
sich mit einem Mal
hundertprozentig sicher gewesen, dass er, Manuel Ritter, es sein
müsse. Sie habe schon etliche HNO-Praxen in Zürich
abgeklappert, aber nun
habe sie ihn ja endlich gefunden. Sie werde keine Ansprüche
stellen, und er
werde sie nie mehr wiedersehen nach dem heutigen Tag. Und schon
fängt sie an, ihn
an delikaten Stellen zu berühren.
"Dr. Manuel Ritter, überrascht, blieb einen
Augenblick lange stehen
ohne sich zu wehren, und in diesem Augenblick verwandelte er sich in
einen namenlosen Mann, der zum ersten Mal in seinem Leben einer Frau
begegnet, ihre Haare, ihre Haut, ihr Duft, ihre Nähe, ihre
Stimme, ihre
Wörter wirkten zusammen wie ein Zauber, der ihn umschlang."
Er schläft mit Eva Wolf und kehrt völlig verwirrt
nach Hause zurück. Etwa
einen Monat später erhält er einen Anruf von der Frau
und erfährt von ihr lapidar und knapp: "Es hat
geklappt."
Noch einmal neun Monate später erhält er einen Brief
und ein Bild seiner Tochter, die Eva Wolf Manuela genannt hat. Er
versteckt alles gut im
hintersten Fach seines Schreibtischs und seiner Seele.
Manuel Ritter wird ein erfolgreicher Arzt, führt eine recht
glückliche Ehe mit Julia, die immer berufstätig
bleibt, und er sieht seine beiden
Kinder aufwachsen. Langsam nabeln sie sich von zu Hause ab, und Manuel
Ritter
sieht schon eine neue, schöne Lebensphase auf sich zukommen:
Reisen
mit seiner Frau, beruflich etwas kürzer treten und das Leben
genießen.
Jahrzehntelang hat sich Manuel Ritter als Tinnitus-Experte profiliert,
seine Patienten aber immer an einen Kollegen überwiesen, wenn
sich
herausstellte, dass eine tiefgehende psychologische Beratung und
Therapie
nötig waren. Plötzlich, quasi über Nacht,
fängt es an, in seinem Ohr zu
klopfen. Und mit dem Klopfen kehrt seine Erinnerung an eine
verdrängte Vergangenheit
zurück. Als sein Sohn Thomas ihm seine neue Freundin
vorstellt, und diese ihn an Eva Wolf
erinnert, gerät Ritter völlig aus der Fassung und dem
Gleichgewicht - es könnte seine
Tochter sein!
In wechselnden Erzählsträngen kommen nun neben Manuel
Ritter seine Frau Julia, seine beiden schon erwachsenen Kinder und auch
- weit weg in Amerika
lebend - jene Frau von damals und ihre schwergewichtige Tochter zu
Wort. Diese
macht sich gegen den Willen ihrer Mutter auf in die Schweiz, um sich
mit ihrem
Vater zu konfrontieren.
Franz Hohler erzählt in seinem schon seit langer Zeit
erwarteten Roman eine glaubwürdige Geschichte, die
für etliche Leser wohl
nicht nur eine Geschichte ist. Wie viele Menschen mag es wohl geben,
die eine solche heimliche
oder unheimliche Angelegenheit quält, die nicht wissen, ob ein
kleiner Seitensprung vor langer Zeit nicht längst ein
groß gewordenes
Ergebnis gezeitigt hat und ihr Leben von einem Moment auf den anderen
durcheinanderbringt?
Hohler schreibt mit eigenem Stil. Durch mehrfache
Richtungsänderungen im Handlungsablauf erzeugt er eine subtile
Spannung, obwohl der Leser von
Anfang an weiß, wie es kommen wird. Er erzählt eine
menschliche Geschichte und eine ehrliche Bestandsaufnahme eines aus dem
Gleichgewicht geratenen
Innenlebens. Man schließt den Buchdeckel in dem fast schon
sicheren Gefühl, dass es ein
glückliches Ende geben könnte. Ob das unter den
gegebenen Umständen
realistisch ist?
(Winfried Stanzick; 11/2007)
Franz
Hohler: "Es klopft"
Gebundene Ausgabe:
Luchterhand Literaturverlag, 2007. 175 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2009.
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Franz
Hohler, geboren am 1. März
1943 in Biel, Schweiz, wuchs auf in Olten, machte 1963 in Aarau das
Abitur und begann in Zürich Germanistik und Romanistik zu
studieren. Der
Erfolg seines ersten Soloprogramms "pizzicato" veranlasste ihn, sein
Studium nach
fünf Semestern abzubrechen. Mit verschiedenen
Ein-Mann-Programmen gastierte
er in vielen Ländern West- und Osteuropas, in Kanada, Marokko,
Tunesien u.a.. Franz Hohler lebt als Kabarettist und Schriftsteller in
Zürich.
Seine Gedichte, Theaterstücke und Erzählungen wurden
mit zahlreichen
Preisen ausgezeichnet, darunter der "Solothurner Kunstpreis" sowie der
"Premio mundial
José Martí" der Stiftung Fundamartí,
Costa Rica. Weiters erhielt er den "Kasseler Literaturpreis
für grotesken Humor" und den
"Kunstpreis der Stadt Zürich".
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Der
Tanz im versunkenen Dorf"
Kinderbuch. Illustriert von Reinhard Michl.
Alles beginnt damit, dass Conradin anstelle eines Fischs ein winziges
Männlein
fängt, das ihn zum Mitternachtstreffen auf den Grund des
Stausees einlädt.
Dort unten versammeln sich die guten Geister, denen der Stausee das
Leben schwer
macht: Die Bäche versiegen, die Fische fliehen, und zu allem
Überfluss können
sie nicht einmal mehr richtig rumpeln. Wenn das so weitergeht, machen
sie ihren nächsten
Tanz
in der Stadt, dann können die Menschen
etwas erleben - denn auch
gute Geister lassen sich nicht alles gefallen ... (Hanser)
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"Spaziergänge"
Wissen wir eigentlich, wo wir leben? Wie die Straßen
aussehen, die wir täglich entlanggehen? Wie der
Frühling sich am nahe gelegenen Fluss anfühlt? In
Franz Hohlers "Spaziergänge" bekommen wir eine Ahnung, was es
in unserer nächsten Umgebung alles zu entdecken gibt, an
Schönem, an Merkwürdigkeiten und auch an Aberwitz.
Wir lernen wahrzunehmen und verwandeln uns langsam in Kenner von etwas,
das wir zu kennen glaubten - unseren Alltag. "Hochregallager!" Mittags,
an einem kalten grauen Märztag, liest Franz Hohler dieses Wort
zum ersten Mal. Er könne eines dieser Regale kaufen, legt ihm
das Schild nahe, doch er zieht diesem Kauf einen kleinen Ausflug an
einem Seeufer entlang vor.
Ein Jahr lang hat Franz Hohler jede Woche einen Spaziergang
unternommen, jede Woche gezielt einen anderen. Was er auf diesen
Spaziergängen gesehen hat und was ihm beim Gehen widerfahren
und aufgefallen ist, hat er in diesem
außergewöhnlichen Buch festgehalten. Ein Jahr
durchleben wir mit ihm unterwegs und staunen wie er über einen
hochgewirbelten Möwenschwarm oder ein Plakat, dass Gott uns
suche - warum ausgerechnet uns? Seine kurzen Erzählungen sind
eine Schule des Sehens und der Achtsamkeit, und nach und nach bekommen
wir eine Ahnung, was Heimat heute ist und was sie sein könnte.
(Luchterhand)
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"112
einseitige Geschichten"
Franz Hohler ist keineswegs nur ein Meister der kleinen Form, er kennt
sich in
kurzen Geschichten auch hervorragend aus. In seiner Sammlung von 112
Geschichten
aus der Weltliteratur, von denen keine länger als eine
Buchseite ist, kommen
Johann
Peter Hebel ebenso zu Wort wie
Otto
Waalkes,
Bertolt Brecht, Anja Tuckermann oder
Franz Kafka. Hohler hat eine abgrundtief
vergnügliche
Sammlung von Geschichten zusammengetragen, die keinen Hehl daraus
machen, dass "das
Leben viel zu kurz für lange Geschichten" (Alfred
Polgar) ist, dafür aber bunt und reich an
Überraschungen, auch unheimlichen.
(Luchterhand)
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"Zur
Mündung. 37 Geschichten von Leben und Tod"
In diesen 37 Erzählungen ist Franz Hohler unterwegs. Eines
Morgens will er bis zur Mündung des Flusses wandern, der durch
seine Heimatstadt
fließt, und
landet vor dem dunklen Eingang zu einem Tunnel. Er besteigt den Eiger,
und ihn überkommt, als er über eine Felskante
hinwegspringen
muss, ein eigentümlicher
Schauer. Wäre es nur eine Katastrophe, wenn er
abstürzen würde. Ihn beschäftigen
Grenzen und wie sie sich überwinden lassen, und dabei gelangt
er unversehens immer wieder bei der Grenze an, die unserem Leben
gesetzt ist.
(Luchterhand)
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"Der
Rand von Ostermundigen und andere Grotesken"
Elf Geschichten aus dem Alltagsleben, in denen die Normalität
zur Groteske gerät,
erzählt von einem Meister der satirischen Kurzprosa.
Franz Hohler hält uns die Regeln unseres Lebens so lange vor
Augen, bis wir die Wand hochgehen oder aufs Dach klettern und
für immer dahinter
verschwinden.
Was passiert, wenn ein Satz plötzlich seinen eigenen Willen
durchsetzt? Sich in
Telefongespräche
und Zeitungen, in Radiosender und
Fernsehnachrichten einschleicht? Sogar der Fleischhauer zeigt seiner
Kundin ein
Stück Rindfleisch mit dem Satz: "Das ist der Rand
von Ostermundigen."
(Verlag Klaus Wagenbach)
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